Keine Bange, ich bin kein Kolumnist!
Gramsci spöttelt einmal, wer behaupte, eine Bewegung wäre spontan, der wisse nur nicht, wer sie organisiert hat. Mag der Autofahrer an der Zapfsäule naiv jubeln: Gaddafi gestürzt und mit ihm der Spritpreis!, dem ehrenwerten Chefredakteur der WAZ sollte der Jubel nicht so einfach in den politischen Kommentar auf die erste Seite fließen:
„Das Ende eines Revolutionärs“ jubiliert er und streift vergleichsweise nebulös wie knapp die unwägbare Seite der Gegenrevolution: „Ein mutiger, anerkannter Richter, ein Rechtsanwalt, der politische Gefangene in der Diktatur verteidigte, zwei in USA ausgebildete bzw. lehrende Ökonomen: Gewiss, wir wissen nicht so genau, wer die Rebellen sind, die Gaddafi nach 42 Jahren aus dem Palast werfen; aber die Führungsleute des Aufstandes, die jetzt den Übergang organisieren, sehen eher viel versprechend aus.“ [WAZ vom 23. 8.2011]
Schon an diesem kleinen Zitat fallen drei Dinge auf:
Gaddafi (wahlweise auch mal Ghadafi) ein „Revolutionär“?
Ja, so hat er sich gern gesehen. Dass niemand glaube, ich gäbe einen Fürsprecher für ihn ab: der junge Obrist – bis heute kein Kind von Traurigkeit oder von zarter Seele - putschte sich 1969 an die Macht und schickte den letzten Monarchen auf den Schrotthaufen der Geschichte -
auf dem steht freilich mitten in London (!), wie die Zeit heute darstellt, der Großneffe des gewesenen Königs Idris As Senussi, zugleich der damalige Chef eines Derwisch(!)ordens, der 1983 in Kairo verstarb, und beansprucht mehr als eine Zahnkrone.
Gaddafi ließ US-Stützpunkte auflösen, begrenzte die Rechte westlicher Firmen am Öl der Cyreneika und widersetzte sich Auflagen der Welthandelsorganisation WTO, unterstützte antikoloniale Bewegungen der Afrikanischen Union und den afrikanischen Währungsfonds, was wiederum dem IWF nicht gefallen konnte, und drohte gar zuletzt, statt des Westens Rotchina mit Öl zu beliefern – was den US-Dollar als Leitwährung hätte gefährden können …
Noch interessanter ist, was dann am Reitzthema auffällt –
die „zwei in den USA ausgebildete, gar lehrende Ökonomen“ (welche Heilsbotschaft mögen die nach Libyen bringen)?
Einer der beiden, Mansour Saif al-Nasr, ist nicht nur geschäftstüchtig, sondern gibt auch noch ein eher schlichtes Geschichtsbild ab: Gaddafi wäre schlimmer als Hitler, da dieser wenigstens nicht die Leute im eigenen Land getötet hätte (Focus Online) - was durchaus die Sicht von Kreativisten und Anhängern der Tea Party sein kann, sehen die doch in der Einrichtung einer bescheidenen gesetzlichen Krankenversicherung den Einbruch des Kommunismus und Nationalsozialismus, schon für sich eine derwische Verknüpfung.
Sein Kumpel Ali Zeidan verbreitet derweil fiktive Zahlen über den Genocid (zuletzt 6000). Was mag da auf Libyen zukommen neben seinem alten Adel und der Derwische?
Die eher aufreitzende Einschränkung
„aber die … sehen eher vielversprechend aus“ -
als wer oder was?, müsste einen auf die Palme bringen! Lieber Herr Reitz, wäre beim letzten Satz nicht der Konjunktiv imperfecti (wie Karl Kraus sagen würde) eher als der Indikativ angebracht, statt eines rumzappelnden „aber“ in Verbrüderung mit einem „eher“ oder fürchten Sie, der geneigte Leser könnte Sie missverstehen? Denn wer stellt da das Führungspersonal?
Zahlreiche Überläufer des Gaddafi-Regimes und buchstäbliche Heimkehrer, ausgebildet in westlicher Schule. Daniela Dahn – Journalistin, Schriftstellerin und Mitherausgeber des Freitag – bringt es auf den Punkt:
„auf beiden Seiten des Bürgerkrieges [agieren] Kämpfer […], die bestens ausgebildet sind, nämlich auch vom BND und Spezialeinheiten des GSG 9-Kommandos. / Wenn Journalisten hierzulande die Macht hätten, den Chef des Kanzleramtes danach zu fragen, was sich der BND seinerzeit dabei gedacht hat, die Geheimpolizei eines Despoten auszubilden, käme wohl etwas Licht in die Debatte. Vielleicht würde dieser sich damit rechtfertigen, Libyen sei ein unterstützenswertes Land gewesen, mit dem höchsten Lebensstandard in Afrika: ohne Analphabetismus in der jungen Generation, mit modernisierter Infrastruktur und Industrie, die zu einem vier Mal höheren Bruttoinlandsprodukt pro Kopf führte als in Ägypten, was sich in den Städten in billigen Wohnungen für alle bemerkbar machte, in medizinischer Betreuung und Universitäten, die auch für Mädchen offen waren. Entsprechend geringer sei die // soziale Unzufriedenheit gewesen, allerdings bei großem Frust über mangelnde politische Teilhabe und eine bis heute fehlende Verfassung. / Angesprochen auf die Repressionen, wären diese nicht zu bestreiten und mit vielen Beispielen von Verhaftung oder Tötung Oppositioneller zu belegen. Aber vermutlich würde sich der Vorgesetzte des BND auf den UN-Berichterstatter für Menschenrechte, Richard Falk, berufen, der den "Grad der Unterdrückung" in Libyen nicht „durchdringender und schwerer" als in anderen autoritär regierten Ländern findet.“ [Störfaktor Gaddafi in Blätter für deutsche und internationale Politik 7/11 S. 35 ff., hier S. 37 f.; hier auch weitere Literatur, insbesondere auch Hinweise auf unsere heile Medienwelt].
Kurz: Gaddafi ist nicht mehr oder weniger Terrorist als amerikanische Präsidenten auch. Man erinnert sich der diversen Schwindel um den Irak seit 1991. Man sollte aber auch um Zusammenhänge des Linienflugs 655 der Iran Air vom 3. Juli 1986 überm Persischen Golf mit der US-Marine und Lockerbie wissen, wie auch um einen Protestzug 1996, der im Märzen d. J. wieder aktuell wurde, denn
„durch eine große Camouflage [gelingt dem Westen in Libyen,] den Umbruch selbst in die Hand zu nehmen und so dessen Souveräne zu verraten. Mit welchen Mitteln?“, und Dahn nennt Reuters, das veröffentlicht „ein Foto von einem Protestzug vor einer Bilderwand, die hunderte Opfer zeigt, friedliche Demonstranten, von Gaddafis Schergen soeben erschossen.“
Kann man da tatenlos zusehen?
„Später musste eingeräumt werden, dass das von einer PR-Agentur zugespielte Foto 15 Jahre alt ist. Der Protestzug fand 1996 statt, vor Bildern von Opfern des berüchtigten Massakers an 1200 aufständischen Gefängnisinsassen, angeblich Al-Qaida-Kämpfer.“ [Ebd.] Hatte der Westen 1996 geflissentlich weggesehen?
Schließen will ich nach ein bisschen Unruhe auch in europäischen Städten mit der berechtigten Frage von Frau Dahn:
„Welche Regierung würde es sich bieten lassen, wenn Rebellen ganze Städte besetzen und öffentliche Gebäude in Brand stecken?“ [Ebd.]
Was ich denke? Die USA werden wenigstens einen Militärstützpunkt neu einrichten und westliche Firmen dürfen wieder Land und Leute ausbeuten. Die Heilslehrer sind ja schon da …
Frisch ans Werk und ab mit dem Reichtum des Landes in westliche Taschen!