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Ich darf das!
„Du musst mir unbedingt beibringen, wie man das mit dem Ersteigern genau macht“, sagte er und während sie nickte, hatte sie seinen Wunsch schon wieder vergessen.
Aber er ließ nicht locker, erinnerte immer wieder daran und irgendwann stand er vor ihrem Schreibtisch:
„Du wolltest mir das mit dem Ersteigern doch erklären, hast du jetzt Zeit?“
Klar hätte sie ihm vorflunkern können, just etwas Dringendes erledigen zu müssen. Aber wenn ihr Vater sich einmal in etwas verbissen hatte, hätte es ihr auf Dauer nichts genützt.
Wie damals, wenn sie erst vom Esstisch wieder fortkam, nachdem sie auf seine Fragen zur Fotosynthese der Pflanzen korrekt geantwortet hatte oder als 10-Jährige den Unterschied zwischen Kohlenmon und -dioxid.
Sie zeigte ihm das Ersteigern im Internet. Er stellte ein, zwei Fragen, die ihr signalisierten, dass er es verstanden hatte, und danach belagerte er sie nicht mehr.
Obendrein wird er sowieso nichts ersteigern. Was auch? Was konnte ein gut betuchter 87-Jähriger denn noch gebrauchen, was er nicht bereits schon besaß? Er war längst in dem Alter, in welchem man sich von etlichem unnützen Kram trennte, aufräumte, verschenkte, wegwarf, begriff, wie überflüssig Vieles war.
Ein paar Tage nach ihrer kleinen Interneteinweisung fuhr der erste Paketwagen vor. Vom Parterrefenster ihres Büros hatte sie freien Blick auf die Straße und als der Paketbote zielstrebig den Eingang des Hauses ansteuerte, erhob sie sich, um ihm zu öffnen.
„Ist da grad was für mich abgegeben worden?“, hörte sie ihren Vater, der oben auf dem Treppenabsatz stand und dann mit langsamen Schritten die Stufen herunter kam.
Sie las die Anschrift.
„Ja!“
„Das ist ein Gemälde, das hab ich ersteigert“, verkündete er stolz.
„Dann gratuliere ich zur ersten Auktion.“
„Da wird in den nächsten Tagen mehr kommen.“
„Dann solltest du die stillgelegte Klingel wieder aktivieren, denn ich bin ja nicht immer hier. Ich verstehe eh nicht, wieso du sie ausgeschaltet hast.“
„Die will ich nicht. Die stand ständig unter Strom, die reinste Verschwendung.“
Es dauerte ein paar Monate, bis er eine eher provisorische Klingel, als kleinen an die Hauswand geklebten Knopf, installiert hatte. Bis dahin verbrachten die meisten der Pakete Stunden im Vorgarten.
Der Paketwagen fuhr seit der ersten Ersteigerung durchschnittlich dreimal die Woche vor. Anhand der Verpackungen erkannte sie, dass ihr Vater wieder ein Gemälde ersteigert hatte.
„Was willst du mit denen? Ihr habt da oben gar nicht den Platz, alle aufzuhängen.“
„Das frag ich ihn auch immer“, kam ihre Mutter der Antwort des Vaters zuvor, „ich will die hässlichen Dinger nicht an den Wänden haben und mir noch Ungeziefer in die Wohnung holen, außerdem stinken sie.“
„Ich darf machen, was ich will.“
Die Gemäldephase, in der ihr Vater circa sechzig Stücke erstand, erstreckte sich über ein paar Monate.
Dann begann die Steinphase.
Angefangen von kleinen Halbedelsteinen für seine Sammlung, über größere Bergkristalle und Drusen, gipfelte seine Ersteigerungslust in einem medizinballgroßen, irrsinnig schweren Meteoriten aus den USA.
„Dort sind die längst nicht so teuer wie hier“, erläuterte er, „ich hab den sehr günstig ersteigern können.“
Ihre Fragen, was er mit all diesen Sachen wolle, hatte sie längst eingestellt.
Die Mutter gab jedoch nicht klein bei und es kam immer öfter zu so lauten Auseinandersetzungen, dass sie jedes Wort ihrer Eltern hörte.
Gegen Ende der Steinphase verdoppelten sich die Paketlieferungen. Ihr schien, es wurde nun völlig wahllos gekauft, freiflottierend irgendetwas bestellt oder ersteigert. Mal war es eine Schultafel, dann Plüschtiere, die er vergeblich versuchte, den Nachbarskindern zu schenken, mal waren es Buntstifte und Malkreiden, die ebenfalls keiner haben wollte.
Und dann kamen die größeren, schweren Pakete mit chinesischen Schriftzeichen.
„Das sind Taschenlampen“, erklärte ihr Vater, „die will ich noch umbauen, dann sind sie technisch noch besser. Es kommen noch Pakete mit Umrüstteilen.“
„Ziemlich groß, das Paket, wie viele Taschenlampen sind denn da drin?“
„Fünfhundert.“
„Wozu so viele?“
„Muss ich noch überlegen, vielleicht verschenken.“
"Wer braucht denn von deinen Bekannten eine Taschenlampe?"
"Taschenlampen kann man immer gebrauchen."
„Kannst du mal raufkommen?“, bat die Mutter sie eines Tages, „das musst du dir unbedingt ansehen.“
Sie betrat die elterliche Wohnung mit mulmigem Gefühl. Bereits im Flur versperrten große Pappkartons den Weg.
Der Esstisch der Wohnküche war übersät mit teils auseinandergenommenen Taschenlampen und unzähligem anderen Elektronikzeugs. Unter dem Tisch haufenweise Tüten und Taschen. Bis auf zwei Stühle war alles belegt.
Überall stapelten sich Kartons. Nur die Couch war noch frei geblieben.
Die Mutter erfasste ihren prüfenden Blick:
„Da macht er seinen Mittagsschlaf, deswegen liegt da nix rum. Aber komm mal mit in sein Zimmer.“
Umgeben von Kartontürmen saß ihr Vater auf einem wackeligen Hocker vor einem riesigen Fernseher.
„Was du hier veranstaltest, das ist nicht mehr normal“, sagte die Mutter.
„Was soll das? Du machst jetzt Stunk. Ich will nicht, dass du so über mich redest!“
„Schau dir das an! Da ist nur noch Platz für den Hocker. So weit ist es hier schon gekommen.“
Der Anblick des vollgestellten Zimmers verblüffte sie. Da mussten deutlich mehr Pakete angeliefert worden sein, als sie im Laufe der letzten Monate mitbekommen hatte.
„Was sagst du denn dazu?“, sagte die Mutter, „das kann doch so nicht bleiben!“
„Du hast hier gar nichts zu sagen“, sagte der Vater und es war nicht klar, ob er sie oder seine Ehefrau meinte.
„Ich gucke Fernsehen. Ich will nicht gestört werden! Und ich möchte nicht, dass ihr über mich redet.“
Sie gingen in die Wohnküche zurück und setzten sich.
„Der ist verrückt! Das muss aufhören! Kannst du da nicht was machen?“
„Und was?“, fragte sie, „wie soll ich ihm das denn verbieten? Er hört doch auf niemanden.“
Die Mutter schwieg, Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Hast du eine Ahnung, was er mit den fünfhundert Taschenlampen will?“
„Fünfhundert?“, lachte ihre Mutter bitter. „Es sind zweitausend. Die will er alle umrüsten und verschenken. Schau dir das Chaos hier an.“
„Wem will er die denn schenken, so viele Leute kennt er doch gar nicht.“
„Wem? Wir waren letztens bei der Weihnachtsfeier der Pensionäre, da konnte ich das miterleben. Er ging von Tisch zu Tisch mit seinem Beutel voller Taschenlampen und verteilte sie, als sei er der Nikolaus persönlich. An wildfremde Leute!“
„Und wie haben die reagiert?“
„Erst haben sie versucht, ihn abzuwimmeln. Aber du kennst ihn ja. Am Ende haben sie alle ein paar mehr genommen und über ihn gegrinst. Nie wieder gehe ich mit ihm da hin.“
Ratlos und bedrückt verließ sie die elterliche Wohnung.
In der Nacht suchte sie ein Albtraum heim. Sie hetzte durch Schluchten von übermannshohen Kartons und wie in einem Irrgarten fand sie nicht mehr ins Freie. Kartontürme brachen krachend hinter ihr zusammen, die Gänge wurden immer enger und sie musste die Wände mit aller Kraft auseinanderdrücken, um durchzukommen. Ihre Atemnot steigerte sich in Panik. Sie erwachte mit Pappegeschmack im Mund.
„Jetzt hat ihn der Zoll am Wickel“, sagte die Mutter schadenfroh.
„Die sind davon überzeugt, dass er ein Gewerbe betreibt mit den zweitausend Taschenlampen und wollen Zoll von ihm. Geschieht ihm ganz recht.“
„Vielleicht hört er nun auf“, sagte sie und ihre Mutter verdrehte die Augen.
Die Paketwagen fuhren munter weiter vor.
„Gestern Nacht ist er von der Polizei nach Hause gebracht worden. Die haben ihn bei den Obdachlosen aufgegriffen und wollten nicht glauben, dass ihm die ganzen Taschenlampen gehören.“
„Wollte er die den Obdachlosen schenken?“
„Das vermute ich. Mir sagt er ja nie was.“
Tage später fiel ihr auf, dass etwas anders war als sonst. Es hielt kein Paketwagen mehr vor dem Haus.
„Hast du mit dem Ersteigern aufgehört?“
„Bin letztens betrogen worden, hatte vorweg bezahlt und dann hat man mir die Ware nicht geschickt. Und der Anwalt hat gemeint, das sei ein Fake-Verkauf gewesen. Er kann da nichts machen.“
„Und deswegen ersteigerst du nichts mehr“, resümierte sie.
„Wenn ich nicht erkenne, wer Betrüger ist und wer nicht, macht es keinen Sinn.“
„Da geb ich dir Recht“, freute sie sich.
„Komm mal mit in den Keller“, forderte die Mutter sie auf, „ich muss dir was zeigen.“
Mit Unbehagen folgte sie ihr die Kellertreppe hinunter, wo sich bis an die Decke Gemüse-, Würstchen- und Keksdosen, Kirschgläser, Nudelpakete, Unmengen von H-Milch-Tüten, Wasser- und Saftflaschen stapelten.
„Das ist ja ein ganzes Warenlager. Seid ihr unter die Prepper gegangen?“
„Keine Ahnung, was das ist, er kauft wie ein Besengter Sonderangebote ein. Und immer in großen Mengen. Hier ist schon kein Platz mehr.“
„Ich dachte, er hat mit dem Kaufen aufgehört“, sagte sie enttäuscht.
„Der? Der ist wie von der Leine gelassen. Der wird damit nie aufhören. Immer, wenn die Prospekte von den Supermärkten kommen, wird mir schon ganz anders.“
„Ich sag der Postbotin Bescheid, dann bekommt ihr keine Werbung mehr.“
Die Mutter schaute skeptisch.
„Ich brauche deine Hilfe“, sagte ihr Vater, „hab im Internet entdeckt, dass grad Glühwein im Angebot ist für 1,99 Euro. Fährst du mich zum Supermarkt, ich will die Flaschen nicht alle selbst tragen.“
Entgeistert schaute sie ihn an.
„Ihr beide trinkt doch gar keinen Wein.“
„Wenn ich dich mal ausnahmsweise um etwas bitte, dann hast du nicht mit mir darüber zu diskutieren.“
Seufzend erhob sie sich und fuhr mit ihm zum Supermarkt.
„Ich warte im Auto."
Nach einer Dreiviertelstunde klopfte es an die Scheibe.
„Machst du mal den Kofferraum auf?“
Sie stieg aus und musste sich am Wagen festhalten.
Vor ihr standen acht Einkaufswagen je bis zur Kante mit Glühweinflaschen gefüllt.
„Hat ein bisschen länger gedauert, die mussten erst noch mit dem Gabelstapler eine Palette aus dem Lager holen. Ach, und wenn der Platz im Kofferraum nicht reicht, packen wir die Flaschen auf die Sitze. Und falls wir den Beifahrersitz brauchen, gehst du einfach zu Fuß nach Hause.“
„Du willst dann fahren? Du hast doch im Frühjahr deinen Führerschein abgegeben.“
„Na und?“, trotzig zog er die Achseln hoch, „das Autofahren verlernt man nicht.“
Und so war es.