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Rauchmelder

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05.07.2020
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288

Rauchmelder

Das Aufstehen,
das ist ein Problem.
Nicht das Laufen.
Das Aufstehen.
Selbst wenn er aufs Klo muss, kommt er manchmal nicht mehr hoch.
Die Frau, die zweimal die Woche klingelt, die ihm die Wäsche macht und das Geschirr aus weißem Hartplastik von der AWO rausstellt, würde gerne mehr helfen. Aber so viel Zeit, wie es dafür bräuchte, hat sie nicht.
Es riecht nach Pisse.
Im Bad.
Im Fernsehzimmer.
Im Schlafzimmer.
Der Sessel, auf dem er sitzt, seine Tage verbringt, den kann man wegschmeißen.
Und,
dass er überhaupt noch die schmale Treppe ächzend herunter und wieder heraufsteigt …
Zehn Minuten braucht er dafür.
Er setzt sich auf die Stufen. Wenn die Schmerzen es zulassen.
Rutscht sie einzeln herunter.
Unten hat er einen Rollator stehen. Oben lehnen seine Stöcke.
Gewohnheit, sagt er.
Irrsinn, sagen sie.
Man telefoniert. Redet über ihn. Dann trifft man sich. Spricht über die Situation. Sucht nach einer Lösung. Einer, die man auch finanziell tragen kann.
Schließlich beendet man einen Lebensabschnitt und leitet
den letzten ein.
Denn
die Kinder wissens,
er weiß es,
dass er nicht mehr zurückkommen wird in das kleine Haus der Siedlung am Rande der Zeche, in dem er mehr als fünfzig Jahre lang gelebt hat.

Mit den anderen hier kann er nichts anfangen. Das Singen greiser Kinder. Das ist nichts für ihn, sagt er. Mandalas und Suppe. Das Starren ins Nichts. Er will das nicht. Also bleibt er alleine.
In seinem Zimmer. Auf zwölf Quadratmetern.
Löst Kreuzworträtsel.
Schläft.
Sieht aus dem Fenster auf den Garten der Wohnanlage. Betrachtet die Wohnungen im Haus gegenüber. Sieht durch die Fenster dort, wie die Familien aufstehen, die Kinder frühstücken, bevor sie in die Schule gehen, die Eltern abends von der Arbeit nach Hause kommen,
essen,
streiten,
fernsehen.

Einmal war sein Enkel da.
Hat ihm ein paar kleine grüne Fitness-Hanteln mitgebracht. Ein Kilogramm pro Stück. Für die Arme, meinte er.
Hatten sich nicht viel zu erzählen. Eine Ausbildung will er machen. Danach noch was Studium dranhängen. Wie es ihm hier geht? Gut, gut. Das Essen in Ordnung? Ja, gut. Ob er sich langweilt? Spannend ist anders. Aber sonst gut. Schönes Zimmer. Bisschen klein vielleicht aber er hat ja das Fenster. Blick auf den Garten. Hell.
Schweigen. Verabschiedung.
Nach draußen schauen.
Benutzen wird er die Hanteln nicht.
Wozu?, denkt er.
Er sitzt in seinem Zimmer. Auf zwölf Quadratmetern.
Denkt an früher.
Manchmal an die Tochter.

Laute Musik, Gelächter, Alkohol und Zigaretten.
Oft feierten sie früher wochenends bei ihnen im Wohnzimmer.
Ein guter Bekannter aus dem Kegelverein ist auch da. In einem Moment beugt er sich vornüber, sagt etwas zu der noch jungen Tochter, die bei ihnen sitzt, um der Musik zu lauschen.
Sie sieht den Gast erschrocken an.
Wendet sich zu ihm. Zu ihrem Vater.
Der muss das gehört haben, denkt sie. Trotz Musik und lautem Gerede, muss der das doch gehört haben! Aber er sagt nichts. Er hält den Mund.
Weitertrinken.
Weiterlachen.
Vater.
Mutter auch.
Und die besoffenen Gäste.
Am nächsten Morgen stinkt es nach kaltem Rauch, nach Bier und nach Schnaps. Die Aschenbecher sind voller zerdrückter Zigaretten und Erdnussschalen. Überall stehen Flaschen und Gläser und Teller.
Die Tochter wird es ihm nicht verzeihen.
Nie wird sie vergessen.

Das Telefon hält er in der Hand, so fest, als wolle er es zerdrücken.
Er hört zu. Den wenigen Worten, denn viel gibt es nicht zu sagen.
Er schreibt sich das Datum und die Uhrzeit auf einen kleinen, karierten Block.
Obwohl er weiß, dass er nicht hingehen wird.
Er bedankt sich. Dafür, dass man ihn informiert hat. Dann legt er auf. Legt Stift und Papier auf den Tisch neben dem Fenster mit Blick auf den Garten.
Jetzt ist er der Letzte.

Das Leben ist ein Fluss, sagen sie.
Ein ständiger Wandel. Eine Bewegung, bis hin zu einem großen Ganzen, einem ewigen Meer.
Er sieht es anders. Keinen Fluss hat er vor Augen. Kein Meer.
Nein,
ein Trotzen ist das.
Eine ständige Rückschau
Erinnern
Vergessen
kalte Wut
heiße Scham
ein angstvolles Warten.

Der Rauchmelder in seinem Zimmer hängt an der Decke über dem Bett.
Dass der funktioniert, weiß er. Denn der blinkt so regelmäßig, wie er wohl soll.
Fünfmal in der Minute.
Fünfmal. Das hat er gezählt. In seinem Zimmer, während sie draußen auf dem Flur singen wie die Bekloppten. Und er in der Ecke auf einem Stuhl sitzt, alleine mit sich und seinen Gedanken und nach oben zur Decke sieht.
Er zählt noch mal.
Fünfmal in der Minute blinkt der Rauchmelder.

 

Hallo @Habentus!

Kleinigkeiten vorweg:

Danach noch was Studium dranhängen.
ein oder das

Die Aschenbecher sind voller zerdrückter Zigaretten und Erdnussschalen.
ausgedrückter oder Zigarettenstummel

Und er in der Ecke auf einem Stuhl sitzt, alleine mit sich und seinen GedankenKomma (glaube ich) und nach oben zur Decke sieht.

Da hab ich (fast) nichts auszusetzten – das ist sehr gut komponiert!
Liest sich prima und macht mir, als älterer Mensch, etwas Angst.
Das spricht für den Text!

Mütze runter!

Gruß, Sammis

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Habentus,

ich finde deinen Text gut geschrieben. Die einsame Situation im Altersheim kommt gut rüber, den pointierten und komprimierten Stil sowie die Länge empfinde ich ebenfalls als angenehm.

Kritisch kann man anmerken, dass das Thema Altern/Altersarmut/Lebensende/Rückblick aufs Leben nicht wirklich neu ist. Hier im Forum ist es geradezu ein Paradethema, so scheint mir. Dein Text versucht das abzufangen, indem er dem Protagonisten eine problematische Erinnerung anheftet. Ich weiß nicht, ob mir das reicht. Die Episode wird nur leicht gestreift und dieser Satz wertet sie eingangs schon ab:

Denkt an früher.
Manchmal an die Tochter.

Wenn er nur manchmal daran denkt, lebt er nicht in Reue. Man kann sagen, er verdrängt das alles, aber dafür ist die Beschreibung in der Szene dann zu konkret. Verdrängt ist verdrängt, dann kommt man nicht an die Details. Der Text ist hier also in meinen Augen unsicher: einerseits enthält er diesen "Clou", andererseits wagt er es nicht, ihn wirklich ins Zentrum zu setzen.

Dass die Erzählung in der dritten Person geschrieben ist, trägt dazu bei, dass er nicht ganz rund ist: Denn warum sollte uns ein Erzähler die Details zur wichtigsten Erinnerung vorenthalten? Noch dazu, wo der Erzähler auktorial ist, also alles über die Figur weiß?

Du könntest das alles lösen, indem du den Text etwas anders aufziehst: Zum Beispiel den Erzähler neutraler und ohne Wissen um das Innenleben der Figur(en) erzählen lassen, und die Tochter in die Szene schicken. Ein Gespräch könnte dann die problematische Vergangenheit organischer andeuten. Ein Gespräch zwischen zwei Personen, die eine lange Geschichte und Emotionen verbinden, ist per se für Zuhörer/Leser bruchstückhaft, voller Informationslücken, Anspielungen und (unterbewussten) Subtilitäten. So bräuchte der Text gar nicht unbedingt mehr vom Früher zu enthüllen, würde aber weniger so wirken, als sei über das Herzstück ein wenig drübergehuscht worden, um mehr aus dem Thema zu machen. Zugegeben, ist schwer zu schreiben, so eine verbale, subtile Szene.

Freundliche Grüße

HK

 

Hey @Habentus

Ich habe so meine Schwierigkeiten mit dem Text. Die erste betrifft den Inhalt. Lasse ich den Mittelteil weg, scheint mir der Text eine eher trübe Flatline nur selten zu über- oder unterschreiten, das kommt mir alles ein bisschen monoton, linear und teilweise auch recht bekannt vor, ranzige Sessel, der Geruch nach Pisse, dann die zwölf Quadratmeter, das Leben ist kein Fluss hin zum ewigen Meer etc. Als hättest du das selbst auch so gesehen, hast du in der Mitte einen (dunklen) Farbklecks eingefügt, die Schuld, die er seiner Tochter gegenüber aufgeladen hat, diesen - so lese ich das - Übergriff eines Bekannten, gegen den er nichts unternommen hat. Das fand ich mit Abstand die interessanteste Passage. Allerdings fügt sie sich meines Erachtens nicht so richtig in die Geschichte ein, mir fehlt die Kohärenz, bzw. eine überzeugende Gewichtung. So frage ich mich, worauf der Text den Fokus legen will, denn weder der erste Teil noch der Schluss sind mit dieser Szene verbunden, die könnte man rausnehmen, ohne dass die Leser etwas merken würden, und das ist in meinen Augen kein gutes Zeichen.
Zweitens finde ich den Text an einigen Stellen etwas drüber, bzw. nicht sorgfältig genug verfasst. Das liegt zum einen am Stil. Ich weiss, das ist sehr subjektiv, aber ich mag Ellipsen nicht besonders, in der überwiegenden Anzahl der Fälle denke ich mir, ah ja, dem Autor ist kein vernünftiges Verb eingefallen. Das macht in meinen Augen schnell mal einen etwas schlampigen Eindruck. Hier kommt dazu, dass du begrifflich zuweilen recht in die Vollen gehst und die entsprechenden Passagen wirken daher noch mehr vor die Füsse geklatscht: Lieber Leser, hier hast du Vergessen, kalte Wut, heisse Scham, da die Pisse und dort das Starren ins Nichts und das Schweigen. Überspitzt gesagt, hat sich das an einigen Stellen wie eine Stichwortsammlung für die eigentliche Geschichte gelesen.
Ich habe schon den einen oder anderen Text von dir gelesen und ich finde auch diesen hier nicht schlecht. Aber ich denke, du könntest dich deinen Themen noch etwas leiser, subtiler, elaborierter nähern.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

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