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- 01.01.2015
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- Anmerkungen zum Text
letzte Bearbeitung: 7.12 . 13.00 Uhr
Ich habe noch ein paar "schrullige" Stellen eingedampft, ein paar Pilcher Formulierungen gekillt, glaube aber immer noch meinen Text zu lesen - Danke für die tollen Tipps
Verschärfte Regeln
Es scheppert, klirrt, Scherben rutschen über das jahrzehntelang gepflegte Parkett. Ich horche auf. Ein Fluchen von meinem Enkel Paul oder irgendeinem der anderen Umzugshelfer. Was haben sie jetzt wieder zerstört? Als meine selbstgebastelte Tiffanylampe zu Bruch ging, hieß es von den jungen Leuten nur: ein Umzug fordert eben Opfer!
Traurig streiche ich über unsere Hochzeitsbank. Im letzten Sommer hatte Horst sie frisch gestrichen, in diesem Frühjahr sitze ich allein auf den taubengrauen Brettern. Er wird nie wieder unsere Brötchenkrümel ans Rotkehlchen verfüttern, mir nie wieder einen Pott Tee bringen. Mir fehlen die gemeinsamen Unternehmungen, allein fühle ich mich unsicher. Das wird durch den Umzug auf die Sternschanze nicht besser.
Anderthalb Zimmer in der Margaretenstraße, gut gelegen, aber es fühlt sich an wie Niemandsland. Natürlich haben sie alle recht, die alte Wohnung war zu groß und zu teuer. Die Kinder haben ein paar meiner Möbel in die schönen Räume gequetscht, mir wirklich viel geholfen, nur was soll ich hier? Ich will nicht jede Stubenfliege kennen, aber doch wenigstens den Weg zum Bäcker. Die Worte meiner Kinder klingen in mir nach: Früher warst du unternehmungslustig!
So schwer kann es nicht sein, hier einen Bäcker zu finden. Ich suche die Häuser nach der vertrauten Brezel ab. Was für ein Gewimmel! Da sind Mütter mit Kindern, Arbeiter beim Feierabendbier, alte Leute mit Rollwagen und Hundebesitzer. Erst als ich den verführerischen Duft frischer Kaffeebohnen und Gebäck erschnuppere, werde ich ruhiger. Endlich etwas Vertrautes! Mit Horst hätte ich mir Lebenswege für all die Menschen hinter den abgehetzten Gesichtern ausgedacht. Da, die Frau mit der einzelnen Tüte Milch und dem herumhuschenden Blick zum Beispiel sieht aus, als ob sie auch allein ist, unsicher. Und der Knirps da, mit den Händen auf dem Rücken und dem bemüht harmlosen Gang hat bestimmt etwas ausgefressen.
Neugierig betrete ich die portugiesische Bäckerei. Viele unerwartete Gebäckarten und seltsame Brötchennamen führen mich in Versuchung. Mit einer gut gefüllten Tasche fürs morgendliche Frühstück verlasse ich den Laden, der mir unversehens mit Natas und Papo secos einige Urlaubserinnerungen beschert hat.
An einem alten Kino, jedenfalls deute ich die verglasten Schaukästen und das geschwungene Vordach so, strahlt eine Leuchtreklame – Schanzenkrug. Auf dem Stehtisch eine Laterne und Polster locken auf der Bank zum Verweilen. Ein großes Schild vor der Tür: ‚Keiner betritt allein diese Kneipe!‘ lässt mich den Kopf schütteln. Komische Gegend! Ich habe schon viel gehört, von ‚Hunde verboten‘ bis ‚Kinder unerwünscht‘, aber das? Was glauben die eigentlich, wie alleinlebende Menschen das finden?
Grummelnd öffne ich die schwere Tür, erhasche einen Blick auf Sitzecken mit Wintergartencharme. Üppiges Grün von Kletterpflanzen, Lampions, die sanftes Licht verbreiten, ziehen mich weiter. Lachen umhüllt mich und der Duft lässt mich schlucken. Es riecht nach Kartoffelsuppe und frischen Kräutern. Lächelnd atme ich tief ein, erfreut, dass es sich gelohnt hat, ein wenig das Viertel zu erkunden. Auch wenn ich nur ungern allein Essen gehen, das Lachen und der appetitliche Duft heben meine Stimmung.
„Einen wunderschönen, recht frühen Abend!“
Vor mir steht ein rothaariger Mann mit Lederschürze, ein kariertes Handtuch locker auf der Schulter. Ich fahre zusammen, bin noch mit allen Sinnen beim Erleben des Foyers und habe ihn nicht herankommen sehen. „Guten Abend! Das ist aber einladend hier“.
„Danke!“ Sanft nimmt er mich am Ellenbogen und dreht mich mit einem Lächeln zur Tür. „Ich freue mich riesig, dass es Ihnen gefällt, aber wir meinen unser Schild ernst.“
Ich entziehe ihm meinen Arm, auch wenn ich sicher bin, dass er mir nichts Böses will. Wie meint er das?
„Keiner betritt allein diese Kneipe! Seien Sie so freundlich und warten kurz draußen, bis noch ein Einzelgast eintrifft.“
Allein durch seine körperliche Präsenz drängt er mich vor die Tür, zeigt dabei einladend auf die Bank. Und wendet sich zum Gehen.
„Ihr Ernst? Seit Wochen traue ich mich kaum raus, nerve alle Bekannten und heute raffe ich mich auf – und dann das!“
Er setzt an zu sprechen, will erklären, aber aus mir muss der Ärger, das Alleinsein der letzten Tage und auch mein Unverständnis heraus. Mit erhobenen Händen kommt er zurück, schiebt mich sanft auf die Bank und legt mir die Decke über die Knie. „Wirklich, es ist nicht böse gemeint. Vertrauen Sie mir bitte für ein paar Stunden.“ Sein Lächeln ist offen, ich schlucke meine Wut. Nach einem Griff hinter die Eingangstür drückt er mir eine Schale mit Keksen in die Hand. „Lassen Sie sich die ruhig schmecken, da fällt das Warten leichter.“
„Wie? Warten? Ich möchte nur eine Kleinigkeit essen, ein wenig unter Menschen, …“ Ich höre meine Stimme brechen, hasse die aufsteigenden Tränen. Gerade war ich noch so schön wütend, jetzt möchte ich mich heulend zusammenrollen.
Was bilden die sich hier ein? Zeigen wir der armen Alten mal, wie allein sie ist? Ich brauche das nicht!
Noch ringe ich mit mir, ob ich gehe oder mich auf dieses seltsame Spiel einlasse, als aus meiner Handtasche Beethovens Neunte erklingt. Ich hasse das Wischen über den Bildschirm. Geschafft! Oh, Inga ruft mich freiwillig an, es wird doch nichts passiert sein?
„Hallo Töchterchen, was gibt es?“
„Ich wollte unser Treffen für Samstag absagen und Paul sucht den Sicherungskasten.“
Ich atme aus, schlucke alles, was mir spontan durch den Kopf geht, hinunter und frage: „Wie geht es dir?“
„Äh! Danke, alles gut. Halt viel zu tun. … Tut mir leid, dass ich keine Zeit für dich habe. Und bei dir?“
„Ich bin stinkig! Hast du kurz Zeit, dann erzähle ich es?“
Ich glaube die Gedanken meiner Tochter zu hören, aber ihr scheint keine passende Ausrede einzufallen.
„Keine Bange, ich mache es kurz, du hast bestimmt noch viel vor.“ Ich bin froh, meinen Frust loszuwerden. Also meckere ich über das Viertel, die Unmengen an fremden Menschen im Allgemeinen und respektlose und von sich überzeugte Wirte im ganz Besonderen. Atemlos höre ich auf, habe um Zeit zu sparen wohl eher gesprudelt und warte jetzt auf Ingas Meinung. Wie erwartet übergeht sie den ersten Teil, aber das dämliche Schild bringt meine mit viel Gerechtigkeitssinn ausgestattete Tochter, auch auf die norddeutsche Eiche.
„Im Ernst, das ist Nötigung, so was muss man sich nicht gefallen lassen. Geh rein und erzähl denen was. Sachen gibt es!“
Mir geht es bereits besser, jetzt, wo ich den Ärger los bin.
„Geh da jetzt rein! So was lässt man nicht durchgehen.“ Dann siegt ihre allgegenwärtige Zeitnot und sie verabschiedet sich.
Ich stopfe das Handy zurück in die Tasche, stecke ich mir einen Keks nach dem anderen in den Mund. Und nun?
Vor der Tür bleibt ein junger Mann stehen und liest offensichtlich das Schild. Er schüttelt den Kopf und schaut mich fragend an. Ohne lange zu überlegen, biete ich ihm den letzten Keks an, schäme mich, alle aus Frust in mich hineingestopft zu haben.
Zaghaft lächelnd kommt der Mann näher, zeigt auf das Schild. „Meinen die das Ernst?“
„Todernst!“ Ich muss grinsen, so trocken klingt meine Antwort.
Mein Gegenüber nickt. „Mein Bruder hat gesagt, ich soll hier auf ein Bier hin. Komme aus Afrika.“
Er ist ziemlich blass für einen Afrikaner, aber was weiß ich schon. "Allein wird man sofort hinausgeschickt.“
„Und worauf soll man warten?“
„Na, dass noch jemand allein kommt …“ Ich stutze und schaue den Mann fragend an.
Zwischen dem Schild und mir hin und her schauend, kommt er zu demselben Ergebnis: „Na dann!“
Wir zögern, mustern uns, überlegen wahrscheinlich beide, ob das eine gute Idee ist. Aber was soll's, wir wollen hinein. Gemeinsam betreten wir den heimelig wirkenden Gastraum.
„Herzlich willkommen! Ich bin Friedrich und heute Abend für Euch da.“
Der Spruch erinnert mich an die Kellner in den vornehmen Restaurants, in die uns mein Enkel ausführt. So was ungemütlich und kaltes will ich auf keinen Fall. „Äh … ich möchte nur eine Kleinigkeit.“ Gib mir doch einen Platz, mittendrin, dann kann ich mir einbilden dazuzugehören.
Friedrich wendet sich dem jungen Mann zu. „Hallo, schön, dass Du da bist.“
„Ich bin Daniel, alles klar! Mein Bruder sagt, ich soll mir bei Euch ein Bier besorgen und alles mitmachen.“
„Ah, da kennt sich einer aus!“ Wirt Friedrich führt uns in eine kuschelige Ecke am Kamin. Über uns eine dicke Palme, echte Chrysanthemen auf dem Tisch.
„Wir haben es hier gerne familiär! Wie darf ich Sie nennen?“
Ich fahre herum, schaue den Wirt verwirrt an. „Äh!“ Was will er von mir? „Müllender! Nein“, ich zögere. „Quatsch! Ich heiße Brunhilde.“ Es fühlt sich ungewohnt an, ein wenig nackig, aber doch richtig.
Sein offenes Lächeln und Nicken werte ich als Anerkennung, ein extra ‚Willkommen‘.
„Tut mir bitte den Gefallen und lasst Euch heute Abend darauf ein, als Versuch. Und zwar gemeinsam!“
Was meint er? Bange schaue ich mich um, suche nach etwas Illegalem oder Unrechtem. Der Gastraum wirkt einladend und gemütlich, herzliches Lachen und Stimmengewirr dringen aus dem Nachbarraum herüber, es klingt nach Spielen oder Wettkämpfen.
Ich atme einmal tief durch, will mich ihm wieder zuwenden. Aber er ist weg. „Wo ist er hin?“
Meine Zufallsgesellschaft zuckt mit den Achseln, schaut sich suchend um, zieht sein Handy aus der Tasche.
„Wenn ich Friedrich richtig verstanden habe, sollen wir den Abend zusammen verbringen. Dann noch mal …“ Ich reiche ihm die Hand. „Ich bin Brunhilde.“
Ein kurzes Zögern, dann schüttelt er sie kurz. „Daniel.“
Er schaut aus, wie ich mich fühle – verwirrt, skeptisch und ein bisschen neugierig. Was denkt so ein junger Mann wohl von mir?
Friedrich stellt einen Korb auf den Tisch, der Duft von warmem Brot weckt meinen Appetit, auch Daniel schluckt auffällig. „Ein Gruß aus der Küche. Was darf ich Euch zu trinken bringen?“
Ich bestelle die Tagessuppe und eine Saftschorle, Daniel eines der Fassbiere und das Bauernfrühstück.
„Ach, bevor ich es vergesse, bitte legt Eure Handys hier hinein. Ich schließe sie in den Garderobenschrank, beim Gehen holt ihr sie hiermit wieder heraus.“ Er zieht zwei Schlüssel aus den nummerierten Schubladen und reicht sie uns. Und schon sind unsere Handys weg. Skeptisch schaue ich ihm hinterher.
Daniel wirkt, als hätte er sich von seinem Erstgeborenen getrennt. „Da hat er mich jetzt total überfahren.“ Nach einem letzten Blick Richtung des ominösen Schrankes, wendet er sich mir zu.
Und schweigt.
Worüber unterhält man sich mit einem wildfremden jungen Mann?
„Ich würde mich gerne zu Euch setzen, wäre das recht?“ Friedrich serviert die Getränke und wartet ab.
Es gibt eigentlich auch keine höfliche Verneinung, also „Gerne.“
„Habt Ihr Euch schon bekannt gemacht?“ Wir nicken, konzentrieren uns beide auf den Wirt. „Ich bin kein echter Hamburger und daher immer neugierig, was Eure Lieblingsplätze sind.“ Er schaut uns an, ganz ruhig, abwartend, ohne auf das Schweigen zu reagieren.
Einen tiefen Zug Bier nehmend, nickt Daniel mir zu und lässt mir den Vortritt. Auch wenn ich ihn nicht kenne, redselig ist er eindeutig nicht. Durch meinen Kopf rauscht eine Unmenge von Bildern, was ist wichtig, was will ich erzählen? Zögerlich fange ich an, schaue immer wieder zwischen Friedrich und Daniel hin und her. „Ich bin eine Winterhuder Deern, der Stadtpark ist mein Garten. Ich kenne jeden Baum zum Klettern, jedes Versteck zum Knutschen, jedes Planschbecken und natürlich das Planetarium.“ Ich merke, wie meine Begeisterung mit mir durchgeht. Erinnerungsbaden haben Horst und ich es genannt. „Mein Mann liebte die The Dark Side Of The Moon Show im Planetarium.“ Ich höre Pink Floyds Sound, sehe Horst rocken – eine schöne Erinnerung.
„He, mein Dad steht auch auf Pink Floyd.“ Daniels Gesichtsausdruck wird lebhafter, er mustert mich interessiert.
„Toll! Dann wäre das mal ein schönes Geschenk, falls die Show noch läuft. Du bist auch Hamburger?“ Fast glaube ich, dass Daniel die Antwort verweigern will, er lehnt sich zurück und mustert die anderen Gäste.
Leise, stockend höre ich seine Worte, obwohl er mich immer noch nicht anschaut. „Ich glaube, ich bin gar nichts mehr.“
„Das kann man wieder ändern!“ Friedrich drückt uns jeweils einen Coupon in die Hand. „Bevor ich es nachher vergesse! Ich würde mich freuen, wenn Ihr beide wiederkommt. Ab morgen dürft Ihr gerne nebenan mitspielen.“
Das klingt aber nicht seriös. Quatsch, so wie Friedrich bisher wirkt, ist es ganz harmlos, ich ärgere mich über mein immer wieder aufflackerndes Misstrauen gegen alles und jeden. „Ihr spielt um Geld?“, will ich aber doch wissen.
„Nicht generell, die Spieler einigen sich vorher. Die Wunsch-Coupons werden einfach gerne zur Spannungserhöhung genutzt. Und um irgendetwas gemeinsam anzugehen. Das seht ihr morgen.“ Und schon ist Friedrich wieder weg, ein neues Zweierteam an der Tür begrüßen.
Daniel hat das Bauernfrühstück so schnell und komplett aufgegessen, der Teller könnte direkt in den Schrank zurück. Ich will ihn schon wegen des Appetits necken, da fällt mir sein wieder abwesender Gesichtsausdruck auf. Er ist mit den Gedanken irgendwo anders, und das ist kein schöner Platz. Ich lasse ihn in Ruhe, warte lieber auf Friedrich, der mir mittlerweile sympathisch ist, ein angenehmes Gefühl.
Irgendwann macht mich das Schweigen kribbelig und ich frage; „Daniel, hast Du einen Lieblingsplatz in Hamburg, von früher meine ich?“ Wenn mich Friedrich mit dieser Frage zum Reden gebracht hat, klappt es vielleicht auch bei meinem wortkargen Tischpartner.
Erst allmählich kehrt Leben in seine Augen zurück, sieht er mich wirklich. „Momentan nicht! Ich war fünfzehn Jahre in Afrika, als UN-Soldat. Ich erkenne nicht viel wieder. Aber früher, da habe ich mich zum Hafen oder auf den Großmarkt geschlichen – so viel Leben, soviel Power.“
Es wirkt nicht, als ob Afrika ein gutes Thema wäre, also Hafen. „Oh ja, der Hafen ist fantastisch, ich liebe den Blick in das Hafenbecken am Burchardkai, weißt Du, von der A7 runter."
"Und das Trockendock von Blohm und Voss“. Daniels Augen leuchten auf.
Wir unterhalten uns über Seefahrt, das Nationengemisch auf dem Großmarkt und das Café im Schifffahrtsmuseum. Mit unregelmäßigen Unterbrechungen durch neue Gäste oder wenn er an der Theke hilft, steuert Friedrich Anekdoten aus dem Kneipenalltag bei.
Irgendwann registriere ich, wie spät es geworden ist und verabschiede mich eilig.
„Es wäre toll, wenn wir uns morgen wiedersehen, denk an den Coupon.“ Friedrich hilft mir in den Mantel und drückt mir nach einem Blick in den tropfenden Himmel einen Schirm in die Hand. Das Handy ist auch wieder in meiner Handtasche, ich habe es heute Abend tatsächlich nicht vermisst.
Auf dem Weg durch die nassen Straßen mit lichterspiegelnden Pfützen frage ich mich, warum ich es plötzlich so eilig gehabt hab. Da wartet niemand, meine Tabletten kann ich auch eine Stunde später nehmen und das Fernsehprogramm ist den Tausch gegen diesen entspannten Abend bestimmt nicht wert. Mit jeder Straßenkreuzung mehr Abstand kommen die Zweifel zurück. War das alles echt heute Abend?
Mit genau diesen Zweifeln starte ich in den nächsten Tag, zwinge mich zu der gerade erlangten Routine des Alleinlebens. Am Ende einige ich mich mit mir selbst, dass ich eine dämliche alte Oma bin und heute lieber irgendeine der sinnlosen Fernsehshows gucke, anstatt auf das Interesse wildfremder Menschen zu hoffen. Irgendwo blitzt kurz das Bild von Daniels abwesendem Blick auf. Ob er Hilfe braucht? Ich mache mir am frühen Abend Schnittchen, gönne mir eine kleine Weinschorle und schalte durch die Kanäle. Nichts reizt mich, also suche ich mir ein Buch. Als ich den Schmöker beiseitelege und nach dem Strickzeug greife, habe ich schon kapituliert, traue mich nur nicht, es einzugestehen. Ich will in den Krug!
Den geborgten Schirm von gestern brauche ich heute nicht, hoffe aber, nur kurz auf die benötigte zweite Person warten zu müssen. Wer wird es heute sein? Was, wenn es gar nicht passt oder gar jemand Unangenehmes ist? „Du bist so was von eine olle Meckeroma!“, sage ich mir.
„Nö, Sie sehen ganz normal aus.“ Ein älterer Herr, der offensichtlich nach Leergut in den Papierkörben sucht, nickt mir zu.
Ich ziehe den Kopf ein, muss aber doch grinsen. In Ordnung, normal, aber Bedenkenträgerin – auch nicht toll. Zumindest werde ich mir Mühe geben, egal, wer mir heute zum Einlass verhilft. Schon von weitem sehe ich auf der Bank zwei Mädchen sitzen und überlege, ab wann man in einen Krug darf. Als ich an die Bank herantrete, unterbrechen sie ihr Gespräch und schauen mich neugierig an.
„Guten Abend!“
„Tja, äh … hey!“
Automatisch schüttle ich den Kopf über die mangelnden Umgangsformen, aber ich schaffe es, den Mund zu halten. „Vielleicht wären Sie so lieb, und nehmen mich mit rein?“
„Das heißt, die meinen das Schild ernst?“
„Eindeutig!“ Die Erinnerung lässt mich schmunzeln.
„Ich glaub ja nicht, dass ich dann heute wiedergekommen wäre.“ Die Kleinere von beiden sieht mich skeptisch an. Sie sind älter, als ich dachte, vielleicht Mitte zwanzig.
Mich fröstelt es, der Hamburger Herbst ist feuchtkalt, auch wenn es nicht regnet. „Könnten wir hineingehen? Bitte!“
Die jungen Frauen halten die Tür auf, helfen mir aus dem Mantel und wieder mal wird mir klar, dass ich zu vorschnell mit meinen Urteilen bin. Früher war ich doch offener …
Friedrich kommt auf uns zu und komplimentiert die jungen Frauen in eine Sitzecke. Ganz freiwillig halte ich ihm mein Handy hin. Mir gefiel es gestern, nicht ständig nachzuschauen, ob jemand mich erreichen wollte. Dankend nickt Friedrich und zeigt in Richtung des Spielsaales, aus dem bereits geselliges Juchzen und Rufen dringen. „Schön, dass Du wieder da bist, Brunhilde. Du kannst gerne durchgehen, ich habe noch zwei Neulinge, die werde ich mit den jungen Damen zusammenbringen.“
Skeptisch betrete ich den Saal. So sehr mich die hörbare Geselligkeit lockt, alle gehen vertraut miteinander um, lachen, feuern sich an. Vielleicht hätte ich nach Daniel fragen sollen? Am Würfeltisch wird gekniffelt. Lautes Gejohle verkündet eine Siegerin. Das nächste Spiel startet unglaublicherweise mit einem Kniffel aus fünf Sechsen. Beeindruckt gehe ich weiter, würfeln war nie meins. Im Vorbeischlendern sehe ich einen vollbesetzten Kartentisch, das würde mich reizen. Rommé konnte ich früher richtig gut, vor allem muss man mit seinen Nachbarn nicht viel reden. Die Brettspieler haben gerade eine Partie Mensch ärgere dich nicht beendet.
„Ich wünsche mir Hilfe beim Fensterputzen, die hohen Fenster schaffe ich nicht mehr.“ Die ältere Dame schaut den Verlierer fragend an, reicht ihm den Wunschcoupon.
„Klar, Du kochst Kaffee, ich bringe Kuchen mit und dann ist das fix erledigt.“ Der junge Mann scheint sich zu freuen. Vielleicht ein Student.
Mensch ärger dich nicht haben wir früher viel gespielt, das wäre etwas. Als ein Platz frei wird, setze ich mich und warte ab.
„Wollen wir echt noch eine Runde, so prickelnd fand ich es nicht.“ Gelangweilt schaut der junge Mann auf das Spielbrett.
„Tja, was dann?“ fragt die letzte Gewinnerin.
Ich blicke enttäuscht auf, die Erinnerung an lustige Runden mit den Kindern und die noch viel lustigeren mit Freunden gehen mir durch den Kopf.
Die ersten Stühle werden zurückgeschoben, einige der fünf Spieler schauen sich bereits nach einer anderen Spielrunde um.
„Äh … ich würde so gerne spielen.“ Leise sage ich es und suche jetzt doch Augenkontakt.
Alle schauen mich an, wägen wohl ab.
„Du bist neu, oder?“ Mit einem freundlichen Lächeln begleitet, wirkt die Frage interessiert.
Einer atmet schnaufend aus, einer grinst, am Ende ziehen alle die Stühle wieder heran und schauen mich neugierig an.
„Na dann! Ich bin Nadine.“
Auch die anderen stellen sich vor und begrüßen mich herzlich.
„Brunhilde! Ja, ich bin neu hier. Und … wohl auch eine der Älteren?“
Ich werde freundlich angelächelt. Einer grinst: „Hallo, Oma Brunhilde."
Schweigend schaue ich ihn böse an.
„Wir … also mein verstorbener Mann und ich haben oft mit verschärften Regeln gespielt.“
Alle reagieren neugierig. „Erklär mal!“
Ich atme tief ein, setze mich aufrecht hin. „Für mehr Tempo wird mit zwei Würfeln gespielt. Rückwärtsschlagen ist Pflicht und ein Haus gibt es nicht.“
Was für ein Durcheinander: „Hart!“, „Echt jetzt?“, „Das wird klasse, los, lasst machen!“
„Ach so, und wer einen Pasch würfelt, muss auf dem Balkon aussetzen.“ Ich zeige in die Mitte des Spielbrettes, lege zur Verdeutlichung einen Stapel aus Bierdeckeln hin. „Der nächste Pasch wirft dort raus!“
Und schon geht es los. Die zwei Würfel treiben die Figuren über das Brett, das Risiko steigt. „He, zurück auf Start mit dir, du hättest Oma Brunhilde rauswerfen müssen.“
Stöhnend stellt der Erwischte eine seiner Figuren zurück auf Start. Ich würfle zwei Fünfen und muss eine Figur auf dem Balkon pausieren, komme nicht weiter, bin aber in Sicherheit. Es geht hin und her, so viel gelacht habe ich ewig nicht und längst haben sich um uns Gäste versammelt, feuern uns an. Daniel ist darunter, steht einsam am Rand, aber er lächelt. Ich glaube, er war es, der mir ein Glas Weinschorle hingestellt hat. Drei meiner Figuren habe ich schon ins Ziel gebracht, bin voll im Spielfieber. Auf der anderen Tischseite würfelt mein ärgster Konkurrent. Ein Pasch. Die Hälfte der Zuschauer stöhnt, mein Tischnachbar brüllt: „Schmeiß Oma Brunhilde vom Balkon!“, und ich fahre zusammen.
Nein, nein, ich will gewinnen, mir ist ein wunderbarer Wunsch für den gesetzten Wunschcoupon eingefallen. Ein Wurf noch und dann traue ich mich, den Coupon zu setzen. Ich bin voll auf die nötigen Zahlen konzentriert, sehe die Würfel schon fallen. Neben mir stöhnt ein Spieler auf, fegt mit einem eleganten Schwung meine Figur vom Tisch und klopft mir versöhnlich auf den Rücken. „Tut mir leid Brunhilde, ich musste dich rauswerfen.“
Fassungslos schaue ich zu, wie das Spiel weitergeht, mein Gegenüber lässig mit einer Sechs und einer Fünf ins Ziel zählt und mich schulterzuckend anlächelt. „Nächstes Mal, Brunhilde, bestimmt!“ Ich stimme in das Lachen ein, schiebe meinen Wunschcoupon über den Tisch und spüre die Traurigkeit heraufziehen. Mühsam reiße ich mich zusammen.
Daniel hockt sich vor mich, schaut mich fragend an. „Schlechte Verliererin?“
„Nein!“ Ich zwinge mich zum Lächeln, spiele mit meinen blauen Figuren. „Ich hatte nur eine so gute Idee, was ich mir gewünscht hätte.“
„Verrätst du es mir?“
Kurz zögere ich: „Eine Stadtteilführung! Damit ich mich endlich heimischer fühle.“
Hinter mir raschelt es, der Sieger beugt sich über meine Schulter. „Warum sagst du das nicht gleich, ich bin hier aufgewachsen.“
Ringsum zustimmendes Rufen. Daniel zieht sich aus dem Kreis zurück, will sich ausklinken. „Daniel, magst Du nicht mitkommen und ein Stück Hamburg wiederentdecken?“ Ich bin auf die Absage gefasst, versuche nicht enttäuscht zu sein.
Er zögert, lächelt verhalten. Und streckt mir den hochgereckten Daumen entgegen.