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Stille
Durch die Dachfenster fallen erste Strahlen des Morgens aufs Parkett. Marla reibt sich die Augen, schwingt die Beine aus dem Bett und steht auf. Ihr schlaftrunkener Blick tastet das Zimmer ab. Das Holz ist warm unter ihren nackten Füßen und sie verweilt einen Moment, die Augen halb geöffnet, Zehen in der Sonne. Während sie durch den Raum tapst, fällt der Schlaf von ihr ab. Sie stellt sich vor, wie er von den Schultern leise auf den Boden rieselt, kurz vor sich hinglitzert und verschwindet.
Das Fenster quietscht, als sie es öffnet. Marla streckt sich, blinzelt in den blauen Himmel, lauscht hinaus auf die Straße. Wo ist das Dröhnen der Lieferwagen, die jeden Morgen vorbeibrettern? Das Klingeln der Fahrradfahrer, wenn ihnen jemand die freie Bahn verstellt? Und weshalb schreit heute keins der Kinder im Hausflur, wieso knallt keine Tür im Treppenhaus? Die Stille fühlt sich an wie eine dicke Schicht Watte, die um ihren Kopf gewickelt ist.
Sie beugt sich vor, die Hände aufs Fensterbrett gestützt, und sieht hinunter. Keiner, der zur U-Bahn eilt oder mit dem Rad um die Ecke biegt. Mit dem Auto Richtung Innenstadt fährt. Nur hin und wieder lösen sich gelbe und rote Blätter von den Herbstbäumen und segeln hinunter aufs Kopfsteinpflaster. Ihr Blick huscht zum Nachbarhaus, sie sucht das Fenster des dicken Manns, der jeden Morgen im braunen Bademantel dasteht, eine Zigarette qualmt und ins Leere starrt. Er ist nicht da.
Langsam weicht sie vom Fenster zurück, dreht sich um und geht ins Bad. Während sie nach der Zahnbürste greift und einen dicken Streifen Zahnpasta auf die Borsten drückt, lauscht sie noch immer. Nach einem Türknallen, Schritten im Hof. Am besten wäre eine Stimme. Eine andere als ihre. Ein Lachen, Schreien, Fluchen, sie wäre da nicht wählerisch – ihr bleibt nur das schaumige Schrubben ihrer Zahnbürste, das Spucken ins Waschbecken, das Wasserplätschern.
Sie zieht sich an, kämmt die Haare, schminkt sich. Ganz genau achtet sie darauf, dass die Wimpern nicht verkleben, lenkt die volle Konzentration auf das Auftragen des Mascaras. Ihre Gedanken lassen sich davon nicht einfangen, sie kreisen immer wieder um diese eigenartige Stille. Es gibt sicher eine Erklärung dafür, dass es im Haus heute so ruhig ist. Reiner Zufall, dass sie gerade in dem Moment aus dem Fenster gesehen hat, als niemand auf der Straße war.
Auf dem Weg Richtung Flur schnappt sie Handtasche und Schlüssel, schlüpft in die Schuhe und zieht die Wohnungstür hinter sich zu. Ein dumpfes Gefühl begleitet sie auf dem Weg nach unten.
Vor dem U-Bahn Aufgang bleibt Marla stehen, dreht sich im Kreis. Eine Plastiktüte weht vorbei. Ansonsten bewegt sich nichts.
Beim Kiosk gegenüber ist die Markise ausgefahren, der Stehtisch für die Stammgäste wie jeden Morgen neben dem Eingang aufgestellt. Ein Lächeln huscht über Marlas Gesicht. Sie sieht Herrn Zupcic vor sich mit seinem grauen Haar und den Fältchen um die Augen, wie er sie hinter dem Tresen begrüßt und sagt: „Wie immer?“ Er wird wissen, was los ist – und Zigaretten braucht sie sowieso. Sie überquert die Straße und betritt den Laden.
Der Stuhl hinter der Kasse ist leer.
„Guten Morgen“, ruft sie und beugt sich über die Theke. Keine Antwort. Sie geht um den Verkaufstresen herum, um in die Abstellkammer zu sehen, die sich dahinter befindet.
„Hallo? Herr Zupcic?“
Ein Schal und eine Strickjacke hängen über der Lehne des Stuhls in der Ecke, auf dem kleinen Tisch steht eine volle Kaffeetasse. Langsam geht Marla wieder zurück in den Verkaufsraum. Ihr Blick huscht über das Regal mit den Zigaretten. Vielleicht ist Herr Zupcic nur kurz weg. Besorgt sich Frühstück oder hat was vergessen. Soweit sie weiß, wohnt er nur ein paar Häuser weiter. Sie greift nach einer Schachtel Gauloises, kramt den Geldbeutel hervor und legt das Geld auf den Tresen.
Zurück auf dem Gehsteig, zündet Marla sich eine Zigarette an. Ihre Hand zittert. Sie inhaliert den Rauch und sieht immer wieder die Straße entlang, hält Ausschau nach Herrn Zupcic. Oder sonst irgendjemandem.
In der Bäckerei nebenan brennt Licht. Durch das Schaufenster erkennt Marla Brot, Brezeln, süße Teilchen, die sorgfältig nebeneinander aufgereiht in der Theke liegen, aber niemand steht dafür an. Wo ist die alte Dame, die dort jeden Morgen ihre Semmeln holt und den Verkehr aufhält, weil sie mindestens fünf Minuten mit der Verkäuferin schwatzt? So oft steht Marla hinter ihr und verdreht die Augen. Jetzt würde sie gerne hören, was die Frau zu erzählen hat.
Leise kriecht Kälte die Beine hinauf, breitet sich in ihr aus, drückt auf den Magen. Marla schmeißt die Kippe weg, will die Übelkeit wegschlucken, aber es hilft nichts. Sie zieht das Handy aus der Tasche, öffnet die Nachrichtenseite. Weißer Bildschirm. Der Ergebnisbalken am oberen Rand des Displays kommt nur mühsam voran. Als er endlich am Ende angelangt ist, bleibt der Bildschirm unverändert.
Das blaue U-Bahn-Schild ein paar Meter weiter springt ihr ins Auge. Sie presst die Lippen zusammen und steigt die Treppen hinunter. Um die Uhrzeit sind die Bahnsteige normalerweise voll. Da unten muss jemand sein!
Der Bahnsteig ist leer.
Auf dem rechten Gleis steht ein Zug mit geöffneten Türen, aber die Beleuchtung ist ausgeschaltet. In jedes Abteil späht sie hinein, bis zum ersten Waggon geht sie, hebt die Hand, um an die Scheibe zu klopfen, den Lokführer zu fragen, was hier los ist. In der Fahrerkabine sitzt niemand. Auf dem Boden steht ein Rucksack, aus dem eine Thermoskanne herausragt.
„Hallo?“
Die Frage hallt von den gewölbten Wänden des Schachts wider.
„Hallo, ist hier jemand?“
Vorsichtig geht sie zum gegenüberliegenden Bahnsteig, beugt sich vor und starrt die Gleise entlang. Nichts. In ihrem Bauch rumort es. Plötzlich ist es viel zu eng hier, der Tunnel scheint zu schrumpfen, das Licht schwächer zu werden. So still, so verdammt still, warum ist hier niemand? Marla dreht sich um und geht mit großen Schritten zum Aufgang, nimmt zwei Stufen auf einmal, bis sie wieder an der Oberfläche ist.
Ihre Finger zittern, als sie das Internet-Symbol auf dem Handy antippt und erneut die Nachrichtenseite aufruft. Weißer Bildschirm.
„Scheiße!“ Marla lässt den Kopf sinken. Am liebsten würde sie mit den Füßen aufstampfen und schreien, so wie sie es als Kind getan hat. Schreien und stampfen, bis jemand kommt und sie fragt, was das soll. Aber sie reißt sich zusammen. Steuert auf eine Bank zu und sackt auf ihr zusammen.
Für einen Moment schließt sie die Augen. Ihr Brustkorb wird eingeklemmt von der Stille, die sich auf sie legt, sobald sie sich nicht mehr bewegt. Der Druck auf den Ohren ist wieder da. Sie wünscht sich eine Baustelle, einen Presslufthammer direkt hier vor der Bank, brüllende Arbeiter, blecherne Schritte auf Stahlgerüsten, Chaos, ohrenbetäubendes Chaos, und sich mittendrin.
Ein braunes Ahornblatt landet vor ihren Füßen. Sie hebt es auf, zerbröselt es in der Hand. Es raschelt und knistert. Sie springt auf, stapft in dem Grünstreifen zwischen Gehweg und Straße durch das getrocknete Laub, wirbelt die Blätter auf, tritt auf Äste, wirbelt, knackst und tritt. Erneut zieht sie ihr Handy hervor, versucht es im Internet. Scheitert.
Kristina! Sie wird sicher wissen, was los ist. Marla öffnet das Adressbuch, wählt die Nummer ihrer besten Freundin. Schrilles Pfeifen ertönt, als hätte sie ein Faxgerät angerufen. Okay, kein Problem, macht nichts. Sie probiert es bei Laura. Pfeifen. Die Buchstaben und Nummern auf dem Display verschwimmen.
„Komm schon“, flüstert sie und wischt sich über die Augen, sucht die Nummer ihrer Mutter heraus und drückt auf den grünen Hörer. Ein paar Sekunden lang geschieht nichts. Sekunden, in denen sie nicht atmet, sich nach dem Freizeichen sehnt, diesem gleichgültigen Tuten, dem Versprechen, dass am anderen Ende der Leitung ein Telefon klingelt, laut klingelt, und gleich jemand abhebt.
„Fuck!“
Das Handy landet im Gras, die Handtasche ebenfalls.
„Scheiße, verdammt, wollt ihr mich verarschen?!“
Ihr Blick springt zwischen den Baumkronen hin und her, flitzt über Hauswände, Straßenlaternen, Hecken. Sie dreht sich im Kreis, sucht nach offenen Fenstern.
„Es reicht jetzt!“
Jemand muss sie doch hören. Muss dafür verantwortlich sein, was hier passiert.
Schweigend blicken ihr die Fassaden entgegen. Ruckartig zieht sie Luft ein, lehnt sich an den Baum, der hinter ihr steht, als wolle er sie beschützen. Sie ballt die Hände zu Fäusten, atmet aus, langsam und kontrolliert, horcht auf den Herzschlag, darauf, dass er sich beruhigt. Sie bückt sich, wühlt in den Blättern herum, bis sie ihr Handy wiederfindet, wählt erneut die Nummer ihrer Mutter, kneift die Augen zusammen, zählt die Sekunden, nichts, kein Freizeichen, nur Stille. Sie lässt die Hand sinken. Lehnt den Kopf an den Stamm, fühlt das trockene Holz auf der Haut und schließt die Augen – nur für einen Moment will sie die toten Straßen aussperren.
Vorbei an Autos ohne Fahrer, leeren Bussen am Straßenrand und umgeworfenen Fahrrädern stapft sie in Richtung Innenstadt. Nach einer Weile öffnet sie die Musik-App auf dem Handy und drückt auf Play. Ein alter Soulklassiker ertönt aus dem Lautsprecher des Telefons, Marvin Gayes Stimme begleitet Marla, umgibt sie wie eine weiche Decke. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.
Sie durchquert den Westpark, der in seinen bunten Herbstfarben in der Sonne leuchtet, und spürt ihn wieder, den Kloß im Hals. Hier sitzt sie oft in dem kleinen Open-Air-Café am Mollsee und beobachtet die durcheinandergewürfelten Menschen. Die Mütter, die ihre quengelnden Kinder mit einem Eis besänftigen wollen, die Hipster, die ihre Hosen noch weiter hochkrempeln, um Sonne an die blassen Waden zu lassen, die Omis, die sich bei einem Kaffee über ihre Nachbarn beschweren. Heute stehen die Stühle und Tische verlassen am Wasser, die Luke des Bauwagens ist geschlossen, aus dem die Studenten sonst Getränke verkaufen.
Je näher sie dem Zentrum kommt, desto schwerer werden die Füße. Nach einer Stunde erreicht sie die Bavaria. Die Statue thront stolz auf ihrer Erhebung und wacht über die Theresienwiese. Als Marla auf die riesige Fläche schaut, die sich vor ihr ausbreitet, auf die letzten Reste der Oktoberfestzelte, die noch nicht abgebaut wurden, fühlt sich ihr Herz plötzlich an, als würde es reißen. Sie holt tief Luft und brüllt. Die Namen ihrer Freunde, ihrer Eltern. Stößt Hilferufe aus. Schreit an gegen die Leere in ihrem Bauch, gegen das Schweigen der Stadt.
Erst als ihre Stimme bricht und sie so heftig hustet, dass sie sich fast übergibt, hört sie auf. Die Augen glasig, der Hals von innen ganz wund, lehnt sie sich an eine Hauswand. Sie will sich auf den Boden schmeißen, um sich treten und weiterkreischen. Sieht ja keiner. Nur dass sie dann vielleicht nicht mehr aufsteht und dort auf dem kalten Asphalt den Verstand verliert.
Sie wendet den Blick von der Bavaria ab und macht sich auf den Weg nach Hause. Blendet sie aus, all die verlassenen Straßen und blinden Fenster. Mitten auf den Straßenbahngleisen läuft sie und bildet sich ein, hinter sich das schrille Klingeln der Tram zu hören, das Fluchen des Lokführers.
An einer Kreuzung bleibt sie stehen, biegt rechts ab und steht vor dem Supermarkt, in dem sie immer einkauft. Die gläsernen Schiebetüren öffnen sich. Marla steht davor, starrt in den Gang, der zur Obstabteilung führt. Unter leichtem Scharren schließen die Türen sich wieder. Erst beim zweiten Öffnen wagt Marla hineinzugehen.
Wie ferngesteuert greift sie nach dem Einkaufskorb, hängt ihn sich über den Arm und geht auf die Äpfel und Bananen zu. Wandelt zwischen den bunten Fächern voller Obst und Gemüse umher und kann nicht begreifen, versteht nicht, was sie in den Korb legt und warum. Hier drinnen surren Kühlschränke, das konstante Brummen kriecht in Marlas Kopf, begleitet sie durch den Markt, vorbei an Regalen voller Essen. Wie lange der Strom wohl noch funktionieren wird?
„Ist jemand hier?“
Sie hofft auf den schlechtgelaunten Kerl, der hier die Regale befüllt, auf sein faltiges Gesicht, das er nur hat, weil er immer so zornig um die Ecke schaut, wenn er gerufen wird.
Keine Antwort.
Im nächsten Gang bleibt sie ruckartig stehen. Vor ihr liegt einer dieser kleinen Einkaufswagen für Kinder auf dem Boden. Eine Tafel Schokolade ist auf den glatten Fliesen halb unter das Regal gerutscht. Mit zitternden Knien geht Marla rückwärts aus dem Gang und eilt zur Kasse.
Sie beginnt, die Sachen aufs Band zu legen, verscheucht das Bild des winzigen Einkaufswagens, das immer wieder vor ihr auftaucht. Erst nach ein paar Sekunden kapiert sie, dass das Band still steht, dass sie den Geldbeutel in der Tasche lassen kann, weil keiner kassiert, dass sie sich nicht beeilen muss, weil hinter ihr niemand ansteht. In dem Fach neben der Kasse liegen stapelweise Papiertüten, Marla zieht eine heraus, wirft die Lebensmittel hinein und hastet nach draußen.
Sie hält die Tüte mit beiden Armen umschlungen, klammert sich an den letzten Rest Alltag. Ihr Blick fällt auf die Bushaltestelle der 151er-Linie. Marla geht hinüber und setzt sich ins Wartehäuschen. Alles wird wieder gut. Halb so wild. Morgen fährt der Bus wieder. Voll mit Menschen, die sich laut unterhalten, in ihre Handys plappern, die sie anrempeln, ihr auf die Füße treten, sich vielleicht entschuldigen, vielleicht auch nicht.