Weiter mit der Reform
Zurück in die Zukunft: Die neue Rechtschreibung ist besser als die alte. Sie hat sich in der staatlichen Verwaltung und an den Schulen bewährt. Von Horst Sitta
Deutschland ist in Not. Nein, nicht die hinserbelnden «blühenden Landschaften» im deutschen Osten, nicht der Sozialabbau durch die Hartz-Kommission, nicht die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland sind das Problem, es ist die deutsche Rechtschreibung. Da tat sich just zwischen Fussballeuropameisterschaft und Olympia ein Nachrichtenloch auf, und einige Zeitungsverlage hielten es für geboten, der Nation mitzuteilen, dass sie zur alten Rechtschreibung zurückkehren wollten. Schon dass das eine Nachricht werden konnte, ist eine Perversion. Aber man muss sich mit ihr auseinander setzen. Das soll in drei Schritten geschehen.
Wider die Verwilderung
1. Die alte Rechtschreibung (= die Rechtschreibung vor der Neuregelung) war keineswegs die gute, alte, bewährte Rechtschreibung, als die sie heute gern dargestellt wird. Die alte Rechtschreibung war im Laufe der Zeit «verwildert». Eine Fülle von schwer verständlichen Bestimmungen, Sonderregelungen und Ausnahmen hatte sich etabliert. Das machte das Lehren und Lernen schwer, und es belastete die, die wenig Routine im Schreiben haben. Dafür Beispiele aus zwei Bereichen: 1.1 Gross-/Kleinschreibung: Wir mussten klein schreiben: «Alles übrige sage ich dir später», aber gross: «Alles Weitere sage ich dir später.» Weiss der geneigte Leser, warum? Wir mussten schreiben: «Wir sassen auf dem Trockenen», wenn die wörtliche Bedeutung gemeint war (auf dem trockenen Land), und wir mussten schreiben: «Wir sassen auf dem trockenen», wenn die übertragene Bedeutung ausgedrückt werden sollte. Wer freilich daraus folgerte, das sei immer so, der wurde eines Besseren/besseren belehrt, wenn er im Wörterbuch fand: «Sie traf ins Schwarze» (wörtlich gemeint: Sie traf ins Zentrum der Schiessscheibe), aber gleichermassen gross bei übertragener Bedeutung (Sie hat mit ihrer Bemerkung genau das Richtige gesagt): «Sie traf ins Schwarze.» Vollends kompliziert wurde es, wenn geschrieben werden musste «die schwarze Messe», «die schwarze Liste», «das schwarze Schaf», aber «die Schwarze Magie», «das Schwarze Brett», «der Schwarze Erdteil» und «der Schwarze Peter». 1.2 Worttrennung am Zeilenende: Hier galt zwar grundsätzlich die Trennung nach Sprechsilben/Schreibsilben; dieses Prinzip war aber an wichtigen Stellen ausser Kraft gesetzt. So mussten zusammengesetzte Wörter aus dem Griechischen und Lateinischen an ihrer (griechischen oder lateinischen) Kompositionsfuge getrennt werden - ein Schweizer Allerweltswort wie Helikopter zum Beispiel Heliko-pter, ein zentraler Begriff wie Pädagogik zum Beispiel Päd-agogik. Schon in der Primarschule mussten wir lernen: Trenne nie st, denn es tut ihm weh, und mussten so kontraintuitive Trennungen vornehmen wie We-ste (aber Wes-pe). Genug des grausamen Spiels. Wie immer man am Alten hängt: Man möge nicht sagen, es sei leicht und logisch gewesen. Und das will man jetzt wieder? Nein, die Neuregelung verdient den Vorzug, nicht (nur) wie man oft hört, weil man den Menschen einen neuen Wechsel nicht zumuten kann, sondern weil sie die bessere Lösung ist.
Mangel an Differenzierung?
2. Die Neuregelung ist die bessere Lösung. Die Erfahrungen mit ihr in der staatlichen Verwaltung und an den Schulen sind gut. Wenn man eine Orthographie neu regeln will, kann man das zu sehr verschiedenen Zwecken und entsprechend auf sehr verschiedene Weise tun. Man kann - zum Beispiel - eine tendenziell eher einfache, für die Schreibenden leicht lernbare Orthographie suchen, die auf grosse Differenzierungen verzichtet; man kann aber auch eine sehr differenzierte anstreben, die dem Lesenden (vorausgesetzt er beherrscht das Regelwerk) zusätzliche Information bietet. So unterschied die alte Rechtschreibung bis zur 20. Auflage des Duden von 1991 zum Beispiel die Schreibungen «am Dienstag abend», wenn ein bestimmter Dienstag, und «am Dienstagabend», wenn jeder Dienstag gemeint war. Diese Unterscheidungsschreibung ist - wie andere - durch die Neuregelung aufgehoben worden. Kritiker der neuen Regelung haben also durchaus Recht, wenn sie gegenüber der alten Regelung einen Mangel an Differenzierung, positiv formuliert: eine Vereinfachung wahrnehmen. Und genau das war beabsichtigt, war Bestandteil des politischen Auftrags, wie ihn die Politik 1986 in den so genannten 1. Wiener Gesprächen formuliert hat. Es sollte ein Regelwerk geschaffen werden, das mehr Systematik in die Rechtschreibung bringt, den Grad der Allgemeingültigkeit ihrer Regeln erhöht, Ausnahmen allgemeinen Regeln unterstellt und damit lehrbar, lernbar und handhabbar ist. Dass das - im Ganzen - gelungen ist, zeigen die Reaktionen in der staatlichen Verwaltung und an den Schulen, wie sie von der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung erhoben worden sind; ich konzentriere mich im Folgenden auf die Schulen. Die Umsetzung der Neuregelung in den Schulen ist ohne wesentliche Probleme erfolgt. Was die Schüler angeht: Die eigentlichen Gewinner sind die Neulerner; für die Umlerner war es umso schwerer, je erfolgreicher sie sich die alten Regeln eingeprägt hatten. Was die Lehrenden angeht: Die Mehrheit erkennt in der Reform einen Gewinn. Allerdings muss dieses allgemeine Bild differenziert werden: 2.1 Eine (teilweise von über 90 Prozent der Befragten gestützte) positive Beurteilung der Reform hat sich in folgenden Teilbereichen ergeben: · durchgehende Trennung nach Sprechsilben bei nicht zusammengesetzten Wörtern; · Trennung von st; · Neuregelung der Getrenntschreibung von Substantiv und Verb;
· Trennung von ck; · Neuregelung der Dreibuchstabenregel; · Regelung der Grossschreibung von Nomen und Nominalisierungen; · Kommasetzung bei mit und/oder verbundenen Hauptsätzen; · Kommasetzung bei Infinitiven mit zu; · Getrenntschreibung zweier Verben im Infinitiv.
2.2 Die Bewertung anderer Bereiche weicht davon ab. Auf Skalen werden nur mittlere Werte erreicht, die Zustimmungswerte sinken auf 60 bis 65 Prozent. Unterschiedliche Vorbehalte werden geltend gemacht für:
· die Getrennt- und Zusammenschreibung allgemein und speziell für die Verbindung von Adjektiv bzw. Adverb und Verb; · die Gross- und Kleinschreibung speziell im Bereich der Adjektive in Eigennamen und festen Verbindungen; · die Kommasetzung bei der wörtlichen Rede; · die eingedeutschte Version von Fremdwörtern.
Die Reform geht zu wenig weit
3. Es wird der Eindruck erweckt, wer mit der Neuregelung nicht zufrieden ist, dem gehe die Reform zu weit. Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass eine nicht geringe Anzahl von Schreibenden und Lesenden deswegen mit der Neuregelung nicht glücklich sind, weil sie ihnen nicht weit genug geht. Denken wir ein Stück weiter in die Zukunft. Zurück zur alten Schreibung, das ist ja nicht die einzige Alternative. Es gibt ja auch die Möglichkeit der Weiterführung der Reform. An sie denken viele Befragte. Ihre Wünsche gehen in folgende Richtung:
· Immer wieder wird entschieden die Einführung der generellen Kleinschreibung gefordert, vor allem von Lehrkräften der Primarschule. · An weniger weit greifenden Vorschlägen wird öfter genannt: die Abschaffung der ai-Schreibung; die Abschaffung der äu-Schreibung bei Wörtern, die keinen Stamm mit au aufweisen; eine vermehrte Eindeutschung bei Fremdwörtern, die nicht aus einer modernen Sprache kommen; eine praktikable Regelung für ein verbindliches Komma beim Infinitiv mit zu; in Deutschland: die Forderung nach völligem Verzicht auf das ß - wie in der Schweiz; relativ häufig wird in diesem Zusammenhang auch der Verzicht auf die Differenzierung von das und dass verlangt.
In eine solche Richtung könnte gedacht werden, womöglich unaufgeregt, ohne dem, der anders denkt, gleich Bosheit oder Inkompetenz zu unterstellen.
«Das absolute Chaos im Unterricht»
Im Streit um die Rechtschreibreform liefern sich Politiker, Verlage und Bildungsinstitutionen zurzeit einen heftigen Schlagabtausch. Der Frontverlauf ist dabei alles andere als klar: Es gibt Politiker, die dafür, und andere, die dagegen sind - und das gilt auch für Schriftsteller und Verleger. Inzwischen bemüht sich die für die Reform verantwortliche Kultusministerkonferenz (KMK) um eine Entwirrung der verworrenen Lage. In einem «Rat für deutsche Rechtschreibung» sollen Institutionen, Journalisten und Schriftsteller über eine Weiterentwicklung der Sprache beraten. Erste Ergebnisse werden für September erwartet.
Laut einem Schweizer Medienbericht soll auf Initiative der KMK noch im August eine Sitzung mit Vertretern aus Österreich, Schweiz und Liechtenstein in Wien einberufen werden. Die Kultusministerkonferenz wünsche ein Treffen auf Chefbeamten-Ebene, sagte Christian Schmid, Rechtschreibreform-Beauftragter bei der Schweizer Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK), der NZZ am Sonntag. Die EDK nahm die Ereignisse in Deutschland mit grosser Überraschung und Bedauern zur Kenntnis. EDK-Präsident Hans Ulrich Stöckling sagte gegenüber der NZZ, für die Schweizer Schulen wäre eine Rückkehr zur alten deutschen Rechtschreibung eine fatale Entwicklung. Sollte die Reform in Deutschland zurückgenommen werden, müsste dem auch die Schweiz folgen. «Sollte dies aber tatsächlich nötig werden, dann prophezeie ich das absolute Chaos im Unterricht.»