tamara schrieb:
Warum hat man denn die verschiedenen Rechtschreibreformen durchgeführt, wenn nicht zur Vereinfachung?
Der "Duden" (hier als Synonym für die Reformmacher gebraucht) hat sich immer an der gelebten Sprache orientiert. Die Änderungen, die an den Rechtschreibregeln im Laufe der Jahrzehnte vorgenommen wurden, waren immer eine Reaktion auf das, was bereits im Alltag gang und gäbe war. Erinnert sich keiner mehr daran, wie geschimpft wurde, dass der Duden chronisch veraltet sei? Ist doch erst ein paar Jahre her ... Die aufgenommenen Änderungen waren immer eine "Vereinfachung", weil sie die bereits bestehende Sprachrealtität abgebildet haben. "Kommata" als Plural von "Komma" mag von der Wortherkunft richtig sein, aber wenn "alle" den Plural "Kommas" verwenden? Also hat der Duden "Kommas" schon vor Jahren als weitere, richtige Pluralbildung aufgenommen.
Etwas Fixes wie "alte Rechtschreibung" hat es nie gegeben. Jedes Jahr kamen neue Wörter oder Regeln dazu, wurden gestrichen oder angepasst. Auch bei diesen üblichen Änderungen hat jedes Mal irgendjemand geschimpft. Aber den meisten ging 's am verlängerten Rücken vorbei.
Die Macher hinter der NR haben einen Fehler gemacht. Sie haben zuviele Regeländerungen auf einmal bestimmt. Hätten sie die Änderungen auf mehrere Jahre verteilt, hätte keiner sonderlich drauf geachtet.
Dass die ß-Regelung geändert werden musste, war seit Jahrzehnten klar. Oder kann mir jemand erklären, weshalb "Fuß" wie "Fuß" aber "Fluß" wie "Fluss" gesprochen wird? Die ß-Regelung bewirkt nicht mehr, als dass endlich so geschrieben wird wie gesprochen. Man kann den Machern vorwerfen, nicht konsequent genug gewesen zu sein. Aber wie wäre der Aufschrei gewesen wenn "Buss" statt "Bus" geschrieben werden müsste? - Endlich kann man "ß" bzw. "ss" so schreiben, wie es gesprochen wird. Abgesehen vom "dass" gibt es keine Ausnahmen, die man lernen muss. Wenn das keine Verbesserung ist. (Ich bin gegen die Abschaffung des ß wie bei den Schweizern, denn z. B. "Masse" und "Maße" oder "Busse" und "Buße" sprechen sich unterschiedlich aus. Die Abschaffung des ß wäre/ist ein Qualtitätsverlust der deutschen Sprache.)
Oder die Zeichensetzung: Das Komma zwischen mit "und" verbundenen Hauptsätzen oder beim erweiterten Infinitiv mit zu sind zum Beispiel Regeln gewesen, die ich nie wirklich nachvollziehen konnte. Weshalb musste man ein Komma setzen, auch wenn es nicht gesprochen wurde, sogar den Satzrhythmus durch eine Zwangspause stört? - Auch die neuen Zeichensetzungsregeln sind nicht mehr als eine längst überfällige Anpassung an die gelebte Sprache. (Die Ausnahme ist die Zeichensetzung bei der direkten Rede.) Die neuen Kommaregeln sind nicht nur eine Vereinfachung, sie sind für mich als Autor ein Gewinn, weil ich endlich regelkonform meine Kommas setzen kann.
Das Genitiv-S: Ich muss nur ein paar Dutzend Meter die Straße runtergehen und sehe ein Geschäft mit dem Firmenschild "Katja's Bazar". Ich hasse dieses S, aber irgendwie haben die Duden-Leute auch Recht, wenn sie sagen: Es ist üblich geworden, das Genitiv-S bei Eigennamen mit Apostroph abzutrennen. Also nehmen wir diese Ausnahmeregel auf. - Auch hier wurde die gelebte Sprache als zulässig aufgenommen.
Die Groß- und Kleinschreibung, die Zusammen- und Getrenntschreibung: Das hat schon nach der AR nicht funktioniert. Wer das abstreitet, hat seine Schul- und Ärgerzeit über dies Thema verdrängt. Endlich wurde auch dieser Bereich dem Sprachempfinden angepasst - statt dass man eine Ausnahmen-Liste lernen muss. Das war ebenfalls längst überfällig. (Die Ausnahmen hier sind z.B. "Nichts sagend" und "nichtssagend", d.h. die Fälle, wo eine unterschiedliche Schreibweise einen anderen Sinn hat. Ich rechne damit, dass nachgebessert wird - weil das dem Sinn der Rechschreibreform entsprechen würde. Vorausgesetzt, die Politiker mischen sich nicht ein.)
Dass die Macher der NR ihren Job recht gut gemacht haben, kann man daran erkennen, dass nahezu jeder bei einem Diktat eher nach den Regeln der NR als der AR schreibt (siehe den Test, den ich weiter oben verlinkt habe) - selbst die Verfechter der AR. Und zwar nicht, weil man sie zwingt, nach der NR zu schreiben, sondern weil die NR unserem gelebten Sprachempfinden ganz einfach näher liegt als die AR.
Vor Allem der letzte Punkt reicht für mich schon, die Verfechter der AR nicht ganz ernst zu nehmen. Wenn manche sich dann auch noch mit einer nachgeplapperten Bemerkung wie "Und Flipper war ein Delphin. Punkt." selbst disqualifizieren, ist das für mich nur noch eine weitere Bestätigung. Tja - und wenn Enzensberger (oder ein anderer) sagt, man solle einfach "Nicht nach Duden" auf seine Hochschularbeiten schreiben, dann frage ich mich, in welchem Elfenbeinturm der Typ lebt oder wie senil er mittlerweile geworden ist. Denn natürlich schreibe ich meine Arbeiten so, wie der Prof das haben will. Wenn der sagt, nach AR - dann suche ich meine alte Word-Version raus. Denn im Kopf habe ich die Regeln schon lange nicht mehr.
Beim Spiegel ist übrigens interessant, dass es unter Spiegel-Online eine - meist lehrreiche und für Sprachinteressierte empfehlenswerte - Kolumne "Zwiebelfische" gibt, die sich mit der deutschen Sprache beschäftigt. Der Autor der Kolumne ist ein Befürworter der NR bis auf die Zusammen- und Getrenntschreibung. Ich bin ja gespannt, wie der Autor sich jetzt aus der Affäre zieht. Er kann ja schlecht in seiner Kolumne eine andere Meinung vertreten als sein Arbeitgeber.
Mehr als einmal sind hier auf KG.de Rechtschreibfehler mit der neuen NR begründet worden - obwohl es auch nach der AR falsch gewesen wäre. Mein ganz subjektiver Eindruck ist deshalb, dass die NR von denjenigen am vehementesten abgelehnt wird, die sowieso mit der Rechtschreibung auf Kriegsfuß stehen. Die NR ist einfach der Sündenbock, der für den eigenen Mangel herhalten muss.
Klaus