Was ist neu

Schweigen ist Gold

Seniors
Beitritt
08.11.2001
Beiträge
2.833
Zuletzt bearbeitet:

Schweigen ist Gold

Schweigen ist Gold


Unschlüssig trat er von einem Fuß auf den anderen. Die Kälte der Mauer hinter seinem Rücken zog sich in ihn hinein, bis er sich kaum noch rühren konnte.
Die Überwindung, die es ihn kostete, einen Schritt zu machen, und dann noch einen, zeichnete Linien in sein Gesicht. Linien für immer. Bis er das Auto erreichte, fühlte er sich älter. Um so vieles älter, dass er innehalten musste. Die Straße aus der Stadt war befahren oder war frei. Er kam voran oder nicht. Von Zeit zu Zeit nahm er eine Stelle wahr, an der er vorbeifuhr, fragte sich, wie er dahingekommen war. Verschluckte die Frage. Atmete bewusst. Um einen Kontakt zu halten. Der Realität nicht völlig zu entrinnen. Nicht jetzt schon. Zuerst musste er sie erreichen.

Zuhause stellte er den Wagen ab. Nicht wie sonst, sondern quer in die Auffahrt. Heute kam es auf nichts mehr an. Ihr feines Lächeln stand vor seinen Augen. Die Freude, mit der sie die Tür öffnen würde. Die schnelle Umarmung, mit der sie ihn begrüßen würde. Nicht heute. Bitte nicht heute.
Die Auffahrt dehnte sich in einer gewissen Unendlichkeit. Wurde weit hinten von der Haustür gebündelt. Die erleuchteten Fenster machten überdeutlich, dass die Dämmerung sich an ihn herangeschlichen hatte. Über der Tür ging jetzt die Lampe an und schien ihm entgegen. Das Licht drängte ihn, fortzulaufen. Aber Sonja erschien unter der Tür. Kein Zurück mehr. Er streckte ruckartig den Rücken durch und nahm den Kopf hoch. Das war er ihr schuldig.

Einen halben Meter vor ihr blieb er stehen, vor den Stufen, die zu ihr heraufführten. Sein Blick wirkte unruhig. Ihr in die Augen zu sehen, fiel ihm zu schwer. Er schwieg, während in ihr heraufstieg, was er nicht sagen konnte. "Wo...", ihr Satz fiel ihm vor die Füße. Er trat unruhig hin und her, zerrieb den Satz unter seinen Füßen, schwieg weiter. "Wo ist Nina?" Ein größerer Satz, der sich vor ihn legte, ihm den Weg versperrte. Etwas zu sagen, war schwerer, als jemals zuvor. Er klaubte alle Worte zusammen, die er sich unterwegs zurechtgelegt hatte. Keines sprach über das, was Nina geschehen war. Unaussprechlich. Seine Lippen pressten sich weiß aufeinander. Ihr das nicht antun. Es nicht wahr werden lassen. Einfach schweigen, bis es vergeht.
Ihre Stimme wurde härter. Sie betonte jedes Wort. "Wo ist Nina!" Das unüberwindliche Nichts kroch die Stufen hinauf. Er hielt den Kopf gesenkt. Gegen den Impuls zu rennen musste er seine gesamte Kraft aufbieten. Seine Muskeln zuckten. Langsam, aber entschlossen hob er den Kopf.
Der Aufschrei, der sich durch ihren Körper zwängte, traf ihn mit voller Wucht. Die Linien in seinem Gesicht sprachen eine deutlichere Sprache, als Worte es konnten.
Seit dem Krankenhaus hatte er sich vor diesen Sekunden gefürchtet. Ihre Augen stachen in ihn hinein, als könnte sie sich nur noch so aufrechthalten. "Das ist nicht wahr. Sie ist nicht ...." Jetzt versagten auch ihr die Worte. "Sag es!", forderte ihr Flüstern.
"Sie ist tot." Die Worte kamen aus dem Nichts. Splitterten aus seinem Mund und schnitten tiefer in ihr Fleisch, als jede Klinge.
Als er das Auto gesehen hatte, Nina auf der Straße, und der Aufprall sich in ihn eingegraben hatte, später, Ninas Kopf im Schoß, da hatte er nicht gewusst, was kam. Die grelle Notaufnahme, weiße Ärzte, rote Flecken, hatten sein Denken ausgeschaltet. Er hatte die Nachricht entgegengenommen. Sie nach Hause getragen. Dieses Auto war mitten hineingerast in die heile Welt von gestern, von niemehr. Aber bis zu diesem Augenblick war der Abstand noch groß genug, jetzt durch den Aufprall zum Nichts geworden.

Unendlich langsam näherte sich sein Körper dem Nichts, das sich unter seinen Füßen ausbreitete. Quälend dunkel zog es ihn an. Er sollte jetzt für sie da sein, sie halten, ihr erklären. In der Tiefe wusste er, worauf es ankam. Nur konnte er es nicht erreichen.

Auf den Scherben ihres Lebens sahen sie einander an. Das Morgengrauen zog über sie hinweg, ohne dass noch ein Wort gefallen wäre. Niemals hätte er es hierhertragen dürfen.


______________________________________________________

Zusatz aus leider wieder einmal gegebenem Anlass:

Diese Geschichte ist jetzt bereits mehr als 5 Mal unberechtigterweise kopiert und anderswo gepostet worden. Ich bin es leid. Der nächste, der mein Urheberrecht verletzt, wird nicht mehr so leicht davon kommen.

 

Hallo,

ich bin erst seit kurzem Mitglied bei kurzgeschichten.de. Deine Geschichte habe ich als erste gelesen, weil sie empfohlen wurde. Du hast die Situation des Protagonisten, sein Fühlen und Nicht-Fühlen wirklich eindrucksvoll beschrieben.
Klasse !

 

*Schnüff* Wie machst du das nur? Du hast mich zum Heulen gebracht! :(
Wie kann man nur so schriftstellerisch begabt sein? Und jetzt bin ich auch noch neidisch!

Fazit: :thumbsup:

 

Hi!
Tut mir leid, dass die Geschichte keine gute Laune verbreitet.
Aber schön, dass sie Dir gefällt.

 

Hallo arc en ciel,

bei dieser Geschichte hatte ich das Gefühl, ich bin der Letzte hier, der sie noch nicht gelesen und kommentiert hat. Die vielen Kommentare dazu habe ich mir jetzt nicht so intensiv reingezogen, aber beim Überfliegen scheint diese Geschichte einen gemeinsamen Nenner zu haben, der sich "Begeisterung" nennt. Da verträgt sie sicher auch mal einen anderen Blickwinkel.

Ich verstehe zum Beispiel den Titel nicht wirklich. Ist das ironisch gemeint? Schweigen ist in deiner Geschichtssituation KEINE Option. Was also willst du mir als Leser damit sagen? Hätte der Mann seiner Frau lieber nichts erzählen sollen?

Zum Inhalt.

Ich versuche meine Kritik mal filmisch zu begründen, obwohl es sich um einen Text handelt. Aber ich kann es filmisch besser erklären.

Zunächst zum Stil.

Der Regisseur Howard Hawks hat mal gesagt, eine gut Geschichte muss einfach nur erzählt werden. Daraus schloss er, dass er bei der Verfilmung einer guten Geschichte die Kamera immer auf Augenhöhe halten kann, ohne jeden optischen Firlefanz.

Du scheinst deiner Geschichte nicht zu vertrauen, insofern spielst du viel mit Technik herum. Am Anfang arbeitest du mit einer wackeligen Handkamera, im weiteren Verlauf versuchst du, Nebensächlichkeiten Bedeutung zu verleihen, um dem Text auf diese Weise aufzupeppen. Das ist vielleicht der Grund, warum mich deine Worte nicht berühren. Weil sie ständig durch irgendwelche Kunstgriffe und Tricks bedeutungsvoller dargestellt werden, als sie eigentlich sind. Und ich schaue mehr auf die Technik, und weniger auf den Inhalt.

Alfred Hitchcock hat mal den Unterschied zwischen einem subtilen Spannungsaufbau (Suspense) und einem Schockmoment erklärt.

Beim subtilen Spannungsaufbau (den er konzeptionell zwingend bevorzugte), sieht man zunächst, wie ein Attentäter unter einem Tisch eine Zeitbombe installiert. Im weiteren Verlauf nehmen zwei Personen am Tisch Platz, natürlich ohne von der Bombe zu wissen, und führen ein liebenswertes und sympathische Gespräch. Diese Sequenz hat für den Zuschauer/Leser durchgehend große Spannung, und im weiteren Verlauf, weil die Charaktere uns immer näher kommen, wächst auch die emotionale Beteiligung. Diese Form der Spannung packt einen von der ersten bis zur letzten Sekunde.

Wenn man nicht weiß, dass eine Zeitbombe unter dem Tisch versteckt war, dann schaut man dem Dialog mehr oder weniger interessiert zu, ohne wirklich beteiligt zu sein, am Ende gibt es einen Knall, man erschrickt sich und das war's.

Auch deine Geschichte ist so aufgebaut, wie die zweite Variante. Du lässt den Leser lange im Ungewissen, worum es eigentlich geht. Die emotionale Bindung zur Situation und deinen Figuren greift erst am Ende. Wobei ich von deinen Figuren und deren Leben eh nix erfahre, was mich unter dem Strich sowieso relativ unbeteiligt lässt.

Ja, der Knall ist eigentlich das Wesen der klassischen Kurzgeschichte, doch für das von dir gewählte tragische Thema halte ich ihn für falsch. Da wird vieles dem Effekt untergeordnet. Und du kannst vor allen Dingen nicht nach Innen gehen, sonder baust zunächst alles nach einem eher technischen, mehr auf Äußerlichkeiten ausgerichtetes Konzept aus. Du darfst ja dem Leser nicht gleich zu viel verraten.


Dein Text ist kurz, eher eine Momentaufnahme, eine Zustandsbeschreibung. Ich könnte sie in einem Satz abhandeln, und es stünde in diesem Satz im Kern alles drin, worum es in deinem Text geht.

In Wirklichkeit drückst du dich darum, eine Geschichte zu schreiben. Es gibt vor deinem Text eine Geschichte: Die eines Paares, dass (vermutlich) ein glückliches Leben führt, und aus heiterem Himmel seine Tochter verliert.

Und es gibt nach einem Text eine Geschichte: Wie wird das Ehepaar mit dem Tod des geliebten Kindes umgehen?

Und genau zwischen diesen beiden Geschichten hast du deinen Text platziert.

Keiner will in der Haut eines Menschen stecken, der einem anderen Menschen eine derart schreckliche Botschaft überbringen muss. Und darüber schreibst du lauter (teilweise gut, teilweise etwas bemüht formulierte) Selbstverständlichkeiten, die für mich als Leser nicht s Überraschendes beinhalten.

Das wäre ungefähr so, als würde man mit besonderen Formulierungen beschreiben, wie Menschen bei einem schrecklich kalten Winter frieren. Jeder weiß eigentlich, wie man friert. Es kommt nur darauf an, für Frösteln oder Zähneklappern andere Formulierungen zu finden.

Tja, das waren so meine Gedanken zu diesem Text.

Rick

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo arc en ciel!
Ich finde die Geschichte wahnsinnig beeindruckend. Mitreissend wie nichts anderes. Du benutzt die Worte so, dass man die Augen nicht mehr abwenden kann, es etsteht ein reissender Fluss aus erschütternder Dramatik. Es ist mir richtig nahe gegangen beim lesen, weil einem das Leid richtig authentisch berührt. Du hast mich richtig in die Erfahrung hineingezogen, und ich hoffe, dass du dies nie erleben musstest.

Mit Grüssen,
Aeternum

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom