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Schweigen ist Gold
Schweigen ist Gold
Unschlüssig trat er von einem Fuß auf den anderen. Die Kälte der Mauer hinter seinem Rücken zog sich in ihn hinein, bis er sich kaum noch rühren konnte.
Die Überwindung, die es ihn kostete, einen Schritt zu machen, und dann noch einen, zeichnete Linien in sein Gesicht. Linien für immer. Bis er das Auto erreichte, fühlte er sich älter. Um so vieles älter, dass er innehalten musste. Die Straße aus der Stadt war befahren oder war frei. Er kam voran oder nicht. Von Zeit zu Zeit nahm er eine Stelle wahr, an der er vorbeifuhr, fragte sich, wie er dahingekommen war. Verschluckte die Frage. Atmete bewusst. Um einen Kontakt zu halten. Der Realität nicht völlig zu entrinnen. Nicht jetzt schon. Zuerst musste er sie erreichen.
Zuhause stellte er den Wagen ab. Nicht wie sonst, sondern quer in die Auffahrt. Heute kam es auf nichts mehr an. Ihr feines Lächeln stand vor seinen Augen. Die Freude, mit der sie die Tür öffnen würde. Die schnelle Umarmung, mit der sie ihn begrüßen würde. Nicht heute. Bitte nicht heute.
Die Auffahrt dehnte sich in einer gewissen Unendlichkeit. Wurde weit hinten von der Haustür gebündelt. Die erleuchteten Fenster machten überdeutlich, dass die Dämmerung sich an ihn herangeschlichen hatte. Über der Tür ging jetzt die Lampe an und schien ihm entgegen. Das Licht drängte ihn, fortzulaufen. Aber Sonja erschien unter der Tür. Kein Zurück mehr. Er streckte ruckartig den Rücken durch und nahm den Kopf hoch. Das war er ihr schuldig.
Einen halben Meter vor ihr blieb er stehen, vor den Stufen, die zu ihr heraufführten. Sein Blick wirkte unruhig. Ihr in die Augen zu sehen, fiel ihm zu schwer. Er schwieg, während in ihr heraufstieg, was er nicht sagen konnte. "Wo...", ihr Satz fiel ihm vor die Füße. Er trat unruhig hin und her, zerrieb den Satz unter seinen Füßen, schwieg weiter. "Wo ist Nina?" Ein größerer Satz, der sich vor ihn legte, ihm den Weg versperrte. Etwas zu sagen, war schwerer, als jemals zuvor. Er klaubte alle Worte zusammen, die er sich unterwegs zurechtgelegt hatte. Keines sprach über das, was Nina geschehen war. Unaussprechlich. Seine Lippen pressten sich weiß aufeinander. Ihr das nicht antun. Es nicht wahr werden lassen. Einfach schweigen, bis es vergeht.
Ihre Stimme wurde härter. Sie betonte jedes Wort. "Wo ist Nina!" Das unüberwindliche Nichts kroch die Stufen hinauf. Er hielt den Kopf gesenkt. Gegen den Impuls zu rennen musste er seine gesamte Kraft aufbieten. Seine Muskeln zuckten. Langsam, aber entschlossen hob er den Kopf.
Der Aufschrei, der sich durch ihren Körper zwängte, traf ihn mit voller Wucht. Die Linien in seinem Gesicht sprachen eine deutlichere Sprache, als Worte es konnten.
Seit dem Krankenhaus hatte er sich vor diesen Sekunden gefürchtet. Ihre Augen stachen in ihn hinein, als könnte sie sich nur noch so aufrechthalten. "Das ist nicht wahr. Sie ist nicht ...." Jetzt versagten auch ihr die Worte. "Sag es!", forderte ihr Flüstern.
"Sie ist tot." Die Worte kamen aus dem Nichts. Splitterten aus seinem Mund und schnitten tiefer in ihr Fleisch, als jede Klinge.
Als er das Auto gesehen hatte, Nina auf der Straße, und der Aufprall sich in ihn eingegraben hatte, später, Ninas Kopf im Schoß, da hatte er nicht gewusst, was kam. Die grelle Notaufnahme, weiße Ärzte, rote Flecken, hatten sein Denken ausgeschaltet. Er hatte die Nachricht entgegengenommen. Sie nach Hause getragen. Dieses Auto war mitten hineingerast in die heile Welt von gestern, von niemehr. Aber bis zu diesem Augenblick war der Abstand noch groß genug, jetzt durch den Aufprall zum Nichts geworden.
Unendlich langsam näherte sich sein Körper dem Nichts, das sich unter seinen Füßen ausbreitete. Quälend dunkel zog es ihn an. Er sollte jetzt für sie da sein, sie halten, ihr erklären. In der Tiefe wusste er, worauf es ankam. Nur konnte er es nicht erreichen.
Auf den Scherben ihres Lebens sahen sie einander an. Das Morgengrauen zog über sie hinweg, ohne dass noch ein Wort gefallen wäre. Niemals hätte er es hierhertragen dürfen.
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Zusatz aus leider wieder einmal gegebenem Anlass:
Diese Geschichte ist jetzt bereits mehr als 5 Mal unberechtigterweise kopiert und anderswo gepostet worden. Ich bin es leid. Der nächste, der mein Urheberrecht verletzt, wird nicht mehr so leicht davon kommen.