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Schweigen ist Gold

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08.11.2001
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Schweigen ist Gold

Schweigen ist Gold


Unschlüssig trat er von einem Fuß auf den anderen. Die Kälte der Mauer hinter seinem Rücken zog sich in ihn hinein, bis er sich kaum noch rühren konnte.
Die Überwindung, die es ihn kostete, einen Schritt zu machen, und dann noch einen, zeichnete Linien in sein Gesicht. Linien für immer. Bis er das Auto erreichte, fühlte er sich älter. Um so vieles älter, dass er innehalten musste. Die Straße aus der Stadt war befahren oder war frei. Er kam voran oder nicht. Von Zeit zu Zeit nahm er eine Stelle wahr, an der er vorbeifuhr, fragte sich, wie er dahingekommen war. Verschluckte die Frage. Atmete bewusst. Um einen Kontakt zu halten. Der Realität nicht völlig zu entrinnen. Nicht jetzt schon. Zuerst musste er sie erreichen.

Zuhause stellte er den Wagen ab. Nicht wie sonst, sondern quer in die Auffahrt. Heute kam es auf nichts mehr an. Ihr feines Lächeln stand vor seinen Augen. Die Freude, mit der sie die Tür öffnen würde. Die schnelle Umarmung, mit der sie ihn begrüßen würde. Nicht heute. Bitte nicht heute.
Die Auffahrt dehnte sich in einer gewissen Unendlichkeit. Wurde weit hinten von der Haustür gebündelt. Die erleuchteten Fenster machten überdeutlich, dass die Dämmerung sich an ihn herangeschlichen hatte. Über der Tür ging jetzt die Lampe an und schien ihm entgegen. Das Licht drängte ihn, fortzulaufen. Aber Sonja erschien unter der Tür. Kein Zurück mehr. Er streckte ruckartig den Rücken durch und nahm den Kopf hoch. Das war er ihr schuldig.

Einen halben Meter vor ihr blieb er stehen, vor den Stufen, die zu ihr heraufführten. Sein Blick wirkte unruhig. Ihr in die Augen zu sehen, fiel ihm zu schwer. Er schwieg, während in ihr heraufstieg, was er nicht sagen konnte. "Wo...", ihr Satz fiel ihm vor die Füße. Er trat unruhig hin und her, zerrieb den Satz unter seinen Füßen, schwieg weiter. "Wo ist Nina?" Ein größerer Satz, der sich vor ihn legte, ihm den Weg versperrte. Etwas zu sagen, war schwerer, als jemals zuvor. Er klaubte alle Worte zusammen, die er sich unterwegs zurechtgelegt hatte. Keines sprach über das, was Nina geschehen war. Unaussprechlich. Seine Lippen pressten sich weiß aufeinander. Ihr das nicht antun. Es nicht wahr werden lassen. Einfach schweigen, bis es vergeht.
Ihre Stimme wurde härter. Sie betonte jedes Wort. "Wo ist Nina!" Das unüberwindliche Nichts kroch die Stufen hinauf. Er hielt den Kopf gesenkt. Gegen den Impuls zu rennen musste er seine gesamte Kraft aufbieten. Seine Muskeln zuckten. Langsam, aber entschlossen hob er den Kopf.
Der Aufschrei, der sich durch ihren Körper zwängte, traf ihn mit voller Wucht. Die Linien in seinem Gesicht sprachen eine deutlichere Sprache, als Worte es konnten.
Seit dem Krankenhaus hatte er sich vor diesen Sekunden gefürchtet. Ihre Augen stachen in ihn hinein, als könnte sie sich nur noch so aufrechthalten. "Das ist nicht wahr. Sie ist nicht ...." Jetzt versagten auch ihr die Worte. "Sag es!", forderte ihr Flüstern.
"Sie ist tot." Die Worte kamen aus dem Nichts. Splitterten aus seinem Mund und schnitten tiefer in ihr Fleisch, als jede Klinge.
Als er das Auto gesehen hatte, Nina auf der Straße, und der Aufprall sich in ihn eingegraben hatte, später, Ninas Kopf im Schoß, da hatte er nicht gewusst, was kam. Die grelle Notaufnahme, weiße Ärzte, rote Flecken, hatten sein Denken ausgeschaltet. Er hatte die Nachricht entgegengenommen. Sie nach Hause getragen. Dieses Auto war mitten hineingerast in die heile Welt von gestern, von niemehr. Aber bis zu diesem Augenblick war der Abstand noch groß genug, jetzt durch den Aufprall zum Nichts geworden.

Unendlich langsam näherte sich sein Körper dem Nichts, das sich unter seinen Füßen ausbreitete. Quälend dunkel zog es ihn an. Er sollte jetzt für sie da sein, sie halten, ihr erklären. In der Tiefe wusste er, worauf es ankam. Nur konnte er es nicht erreichen.

Auf den Scherben ihres Lebens sahen sie einander an. Das Morgengrauen zog über sie hinweg, ohne dass noch ein Wort gefallen wäre. Niemals hätte er es hierhertragen dürfen.


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Zusatz aus leider wieder einmal gegebenem Anlass:

Diese Geschichte ist jetzt bereits mehr als 5 Mal unberechtigterweise kopiert und anderswo gepostet worden. Ich bin es leid. Der nächste, der mein Urheberrecht verletzt, wird nicht mehr so leicht davon kommen.

 

Oh, mein Gott, wie viele Fehler hat er bloß gefunden.
sie ;)

[ 07.08.2002, 12:25: Beitrag editiert von: hastdunmotto ]

 

Motto: sorry! wollte nur allg. "er" schreiben... weil ich ehrlich nicht wußte, ob er oder sie.
werd's mir merken.

was das Thema betrifft: ich hab versucht, mich hineinzuversetzen. Wenn ich von solchen Dingen verfolgt werde, hab ich immerhin ein Ventil: mit sowas mache ich mich von diesen negativen Gedanken frei. Einmal geschrieben verblassen dann die schlimmen Gedanken irgendwann.

Hier war es aber nur eine rel. spontane Idee. In der Umsetzung scheine ich den Nerv aber getroffen zu haben, wie es aussieht.

Lieben Gruß,
Frauke

 

hei Frauke,

das ist wirklich ne andere Geschichte, die Du da geschrieben hast.
Hier wieder nur ein kleiner Ausschnitt, aus einem Leben.
(Wie ein 90 minütiges Fussballspiel, du beschreibst die 58 Minunte, Sekunde 18-20). Dieser Vergleich gilt für alle deine geschichten. Bezöge (konjunktiv) ich mir nur auf diese Geschichte, wird (indikativ) wäre (konjunktiv), es ein unpassender Vergleich.

Diesmal steht die Emotion im vordergrund, und das ist Dir alles sehr gut gelungen. Diesmal die Szenebeschreibung als Begleiterscheinung, so sehe ich es gerade.

Ich kann nur mit dem 2. Satz nicht so ganz viel anfangen, aber das ist Geschmackssache." Kalte Mauer" und so weiter.

Tja, hoffentlich werden wir so etwas nicht erleben !!!

Bis dann Archetyp

 

oh, Entschuldigung!
ich habe eine Kritik von Dir übersehen!
Die kalte Mauer habe ich ganz wörtlich gemeint, denn dieser Mann sucht Halt und lehnt sich an... und die Mauer bietet nicht das, was er will. Sie ist kalt. Sie kann nur "körperlich" halten... und deshalb steht sie da am Anfang. Aber außerdem bedeutet eine Mauer im Rücken, daß "man den Rücken frei hat" ...

lieben dank für Deine Kritik,
Frauke

 

Hi Frauke,
über den Empfehlungsthread bin ich auf Deine Geschichte gestoßen.

Du erzählst sehr gut! Die Geschichte hat mich völlig aufgewühlt, zumal ich Ähnliches schon mehrfach aus ziemlicher Nähe miterlebt habe.

Gratulation!

Gruß Barbara

 

hallo Barbara!
sowas zu erleben, wünsche ich niemandem. Ich bin sehr froh, daß es für mich reine Fiktion ist... ich hoffe, es war nicht wirklich so schlimm, wie für diese beiden hier...
Danke für Dein Lob. Dieser Stil, einfach Szenen zu erzählen, gefällt ja nicht jedem... aber es freut mich sehr, wenn diese Texte etwas bewegen.

Lieben Gruß,
Frauke

 

Hej Frauke!

Wow... ich bin beeindruckt! Sehr schön, sehr traurig und unglaublich treffend. In jeglicher Hinsicht.
Hinterläßt mich mit einem beklemmenden Gefühl. Und das graue Wetter tut sein Übriges dazu.
Für mein Gefühl eine Deiner besten Geschichten!

Lieben Gruß

chaosqueen :queen:

 

hallo.

das ist die erste Geschichte die ich ausgdruckt haben wollte, damit ich sie noch ein bißchen hier bei mir habe. wunderbar.
eine Verbeugung und liebe Grüße,
alex.

 

hi Queen!
Ganz lieben Dank! Dein Lob ehrt mich! Diese Geschichte entstand aus einem Gedanken heraus, mal wieder eher so nebenbei. aber es war eine von denen, die ich schreiben mußte, damit ich diese Gedanken so zu sagen ablegen konnte!

@alex!
ganz vielen lieben Dank auch für Dein Lob! ich freue mich wirklich, wenn jemand mag, was ich schreibe. Und wenn Du es dann sogar behalten willst, hört sich das für mich sehr gut an!

Lieben Dank,

Frauke

PS: bin grad leider nur selten hier, weil viele, viele Prüfungen... @queen: wär schon schön, wenn mein Tag TATsächlich 48Std. hätte... komme derzeit nicht mehr zum Schreiben ... schon seit über 2 Wochen nicht ... das ist richtig gruselig...
Dafür dreht sich mein Leben ein wenig schnell in letzter Zeit... ich sammele also wieder Energie ... ;)

 

Hallo arc en ciel!
Ich frage mich ehrlich gesagt, warum du nicht schon längst ein Buch veröffentlicht hast! Dein Schreibstil, deine Wortwahl und die bildliche Beschreibung... Einfach toll! Ich bin völlig begeistert!!!
Bye, Mary-Lou.

 

hallo Mary-Lou!
vielen lieben Dank für Dein Lob... klar, ich hätte gern ein eigenes Buch - wie wohl viele hier - aber leider ist das nicht so einfach ... abgesehen davon, daß die Geschichten WIRKlich gut sein müssen, braucht man auch eine Menge Elan, um sowas unterzubringen ... und ich gestehe: den hab ich noch nicht investiert... außerdem: sieh Dich hier um: eine Menge anderer werden und sollten vor mir veröffentlichen!

Lieben Gruß,
Frauke

 

Hallo arc en ciel,

ich bin ebenfalls über den Link im Empfehlungsthread auf diese geschichte gestoßen. Eigentlich wollte ich mir heute "mal eben" so viele Empfehlungen wie ich es schaffe durchlesen, doch direkt die erste Geschichte hat mich sehr viel länger beschäftigt, als es eigentlich vorausgesehen war. Ich habe mir die Geschichte wie paralysiert in einem steifen zustand in meinem Stuhl durchgelesen und saß nachdem ich sie fertig hatte noch einige Zeit leblos auf den Bildschirm starrend vor meiner Tastatur und habe nachgedacht.

Mein Mathe Lehrer, mit dem namen Wieczorek hat, vor nicht allzu langer Zeit seine 18 jährige Tochter in einem Autounfall verloren. Ich hatte großen Mitleid und habe damals lange darüber nachgedacht wie so etwas sein müsste. Diese Geschichte hat diesen Gedanken erneut bei mir aufgewühlt.

Als ich dann den Verweis auf diese Seite gefolgt bin, war ich für einige zeit beschäftigt. Eine lange weilende Gänsehaut überkam mich. ich kann mir den Schmerz womöglich nicht annähernd vorstellen, weil ich wohl mit 16 selbst noch zu den Kindern Zähle. Aber wenn der Schmerz beim lesen solcher gedanken so riesig ist, dann ist der wirkliche Schmerz unbegreiflich.

"Die Zeit heilt die kleinen Wunden, aber große Wunden breiten sich aus. Man muss sie ein Leben lang versorgen."

Liebe Grüße,
Ryoga

 

hi Ryoga!
danke für Deine Anmerkungen... ich scheine mit diesem Text und diesem Thema einen Nerv zu treffen. einerseits macht es mich betroffen, daß ich so viele negative Gefühle auslöse, andererseits bin ich ein wenig stolz auf mich, daß ich "Euch" dazu bringe, darüber nachzudenken, was die Personen empfinden - oder es den Leser sogar ein wenig selbst fühlen zu lassen...

Lieben Dank!

Frauke

 

Hallo an alle hier auf kurzgeschichten.de!
Ich bin eine Mutter dreier Kinder; eines davon, das älteste, Sara, starb vor über 3 Jahren. Unfall. Ihr Vater/mein Mann fuhr das Auto. Sehr ähnlich dieser Geschichte.
Ich wurde mehrmals auf diese hingewiesen, konnte sie jedoch erst vor kurzem aufrufen. Da sind viele Worte, viele Gedanken und Handlungen die ich, als Betroffene Mutter, nicht ausdrucken kann. Dies wurde auch in einem Beitrag erwähnt. Ich weiss nicht warum es so ist! Nein, mir fehlen nicht die Worte, ich glaube ich will sie nicht aussprechen, ich will meine echten Gefühle nicht rauslassen. Ich will diesen Tag überspringen, auslöschen, rückgängig machen. Es ist so schwer DAS in Worte zu fassen an was man nicht erinnert werden möchte.
Relativ schnell nach Saras Tod fing ich an zu schreiben. 18 Monate lang. Bis ich merkte daß etwas fehlt. Die Worte sind so kahl, leer... sachlich. „so und so war dies oder das“. Zwischen durch kam meine Wut raus; diese Teile des Geschriebenen sind gut. Sonst nichts. Der Rest schreit nach Mitleid. Wie in einem Film wo man die Szenen sehen kann, sich aber nicht genau in den Schauspieler hineinversetzen, da er verschieden fühlen kann. Dafür bin ich für diesen Beitrag sehr dankbar! Er brachte mich dazu zu sehen daß ich eigentlich verdränge. Und beschrieb eine der schlimmsten Situationen nach dem Tod eines gelibten Menschen (die Todesnachricht überbringen) sehr, sehr gut (obwohl nicht selbst betroffen)!
Danke!
Einhorn

 

Hallo Frauke!

Viel Neues kann ich nicht mehr sagen... eine gewaltige, sehr ausdrucksstarke Geschichte, die Gefühle und Situationen sehr gefühlvoll vermittelt. Furtbare Gedanbken sind das, Du schaffst es, sie einem nahezubringen.

Schöne Grüße... Anne

 

Hallo.
Ich gratuliere dir zu dieser hervorragenden Geschichte, an der ich am meisten bewundere, daß du in Metaphern schreibst, ohne deinen Leser damit zu nerven. Du hast ein höchst sensibles Thema einfühlsam und ganz, ganz exellent beschrieben. Freu mich schon auf die nächste Geschichte von dir.
Liebe Grüße

 

Danke Anja! wenn Du noch mehr von mir lesen willst... ;) kein Problem. Da ist noch genug :D oder zu viel, wie man es nimmt. :lol:

 

Hallo arc en ciel,

wirklich eine sprachlich, inhaltlich und strukturmäßig gelungene Geschichte.
Ich finde es gut, dass es in der Geschichte auch eine `übergeordnete´ Aussage gibt: die Grenzen des Menschen an der Unumkehrbarkeit des Todes, der klägliche Verdrängungsversuch des „Nicht wahr werden lassen(s)“ -- dafür braucht es nicht `mal einen Unfall...
Diese Schnittstelle zwischen Philosophie und Psychologie hast Du mitten in das tägliche Leben plaziert, in ansprechender Weise.
„gebündelte Unendlichkeit“ - toll!
Der zweite Satz mit der Kälte ist etwas ungünstig, die Kälte, nicht die Mauer zieht sich doch in seinen Rücken.
`Die Straßen, die aus der Stadt hinausführten´ - so klingt es für mich flüssiger.

„Während in ihr heraufstieg, was er nicht sagen konnte“ - in ihr steigt die Frage hoch, zu dem, was er nicht sagen kann (will). In ihr steigt aber nicht hoch, was er zu sagen hätte. Halte auch „heraufsteigen“ für ungünstig, finde es erinnert so an Treppen).
Sorry, bin wohl der einzige Meckerer (aber nur zu 1% !).

Liebe Grüße,


tschüß... Woltochinon

 

hi Wolchi!
vielen lieben Dank für Deine Kritik. Die Umstellung bei den Straßen laß ich mir durch den Kopf gehen. Danke.
An der anderen Stelle meinte ich wirklich, daß die Erkenntnis - nicht die Frage - in ihr hochsteigt. Vielleicht nicht die konkreten Worte, aber immerhin kommt er zurück - in dieser Verfassung, unfähig zu sprechen - und vor allem: wo, wenn nicht bei ihm, sollte eigentlich die Tochter sein...
meiner Ansicht nach gab es für sie nur die - noch verdrängte, aber langsam dämmernde - Erkenntnis, daß dre Kleinen was passiert ist...

Lieben Gruß,
Frauke

 

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