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Schneewittchen
Hildegard saß am Fenster, wie sie es oft, genaugenommen fast immer tat. Ihr Blick ging durch den Garten und verweilte bei den Apfelbäumen, die jetzt schon viele Blätter verloren hatten. Über Ligusterhecken hinweg spazierte er dann in den Park und die Lindenallee mit den rot-gelb gefärbten Blättern entlang. Sie musste an Andreas denken. Er hätte die Blätter vielleicht als Feuerfunken des verlöschenden Sommers beschrieben. Andreas. Immer hatte er übertrieben. Noch während sie an ihn dachte, wanderte ihr Blick schon weiter und verließ den Park, um über die angrenzenden Felder zu spazieren und im Wald zwischen den hellen, freundlichen Birken zu verschwinden.
Ihr Blick konnte das alles, sie selbst inzwischen nicht mehr. Die Zeiten, in denen sie stundenlang spazieren gehen konnte, waren lange vorbei. Jetzt besaß sie einen Rollstuhl, dafür hatte ihre Schwiegertochter gesorgt. Die war ein patentes Mädchen, immer lustig. Dann und wann kam sie Hildegard besuchen und sie lachten viel. Hildegard war ihr dankbar, dass sie kam und ihre Zeit für sie opferte.
Aber auch, wenn sie nicht mehr gekommen wäre, hätte Hildegard sich nicht allein gefühlt. Gerade eben zeigte sich wieder einer, da unter dem Apfelbaum. Er suchte sich einen übriggebliebenen Apfel, einen schönen großen, roten, und biss hinein. Dass eine Amsel ihn schon angepickt hatte, schien ihm nichts auszumachen. Hildegard lächelte. Immer hatte er Hunger. Sie selbst mochte keine Äpfel. Jetzt spürte er wohl ihren Blick, denn er drehte sich um, sah zu ihr und winkte.
Ein putziges Kerlchen war das. Es hatte ein pausbäckiges Gesichtchen mit einer roten Knollennase. Es war Tom, der Anführer der Zwerge. Seinen richtigen Namen hatte er ihr genannt, aber sie konnte ihn nicht aussprechen. Die kleinen Augen wirkten selbst von hier aus ganz verschmitzt, wie sie so unter den dicken Augenbrauen hervorlugten. Der kleine Mann war nicht viel größer als ein dreijähriger Junge, aber er war kein Junge mehr. Oh nein! Er hatte einen schwarzen Bart, auf den er sehr stolz war. Das hatte er ihr selbst gesagt. Vielleicht kam er heute abend zu ihr. Sie würde sehen.
Es klopfte. Sie blickte auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Sie hatte schon auf Martin gewartet.
„Herein“, sagte sie.
Er war es tatsächlich. Martin, der Kapitän. Jedenfalls war er es früher mal gewesen. Ein richtiges Nordlicht, aber unter der Ruhe brodelte ein Vulkan oder doch zumindest ein Geysir und das gefiel ihr. Er war ganz anders als Andreas. In seiner Gegenwart fühlte sie sich so lebendig. Wäre sie ein paar Jährchen jünger und nicht im Heim, ja dann – wäre sie nicht abgeneigt gewesen, etwas mit ihm anzufangen. Gelegentlich hatte sie sich sogar mit den Gedanken an ihn berührt und sich hinterher eine dumme Gans gescholten.
„Hallo, Hilde. So, da bin ich wieder. Pünktlich wie die Maurer.“ Sein dröhnender Bass füllte den Raum.
„Eher wie ein Schweizer Uhrwerk, Kapitän.“ Er hatte es gern, wenn sie ihn mit Kapitän anredete. Trotzdem sagte er: „Du sollst mich doch Martin nennen, einfach Martin, okay?“
„Aye, Aye, Käpt’n.“
„Na, Lust auf einen kleinen Spaziergang, Hilde?“, fragte er hoffnungsvoll.
Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Tom war verschwunden. Natürlich würde sie einwilligen, obwohl sie es hier in dem kleinen Zimmer gemütlich warm hatte. Sie war auch schon wieder müde, dabei hatte sie erst vor einer Stunde gefrühstückt. Diese Müdigkeit wurde in letzter Zeit immer schlimmer. Aber sie wusste: Martin wollte sich bewegen. Deswegen half er hier im Heim aus und unternahm mit den Bewohnern Spaziergänge. Außerdem fiel ihm zuhause die Decke auf den Kopf. Sie hatte ihn im Verdacht, noch einen anderen Grund zu haben, so oft, wie er zu ihr kam. Auch ihm fiel das Gehen schwer – er war gerade mal fünf Jahre jünger als sie – und er benutzte einen Gehstock, aber wenn er ihren Rollstuhl schob, konnte er sich daran festhalten.
„Ja, Martin. Gerne.“
Der Kapitän stützte sie beim Aufstehen. Hildegard unterdrückte ein Stöhnen und versuchte, das Stechen in ihrer Hüfte zu ignorieren. Er half ihr in die Jacke und sie setzte sich in den Rollstuhl, nachdem er einen dicken, gepolsterten Sack geöffnet und darauf zurechtgelegt hatte. Dann zog er den Reißverschluss an dem Sack zu – den Mumiensack nannte sie ihn für sich – setzte ihr noch die Kapuze auf und wickelte einen Schal um ihren Hals. Seinen Gehstock und ihre Krücken verstaute er in der Halterung am Rollstuhl.
Auf dem blankgewienerten Flur kam ihnen Marlon entgegen. Marlon war der Pfleger, der schon am längsten hier arbeitete, wie ihr Schwester Maria einmal erzählt hatte. Ein bisschen schwärmte Hildegard für ihn. In Wirklichkeit hieß er Andy, aber für sie war er Marlon, weil er haargenau so aussah wie der berühmte Filmschauspieler.
„Auf zur Polarexpedition, Hildchen?“
Ihr fiel nichts Geistreiches ein, deswegen nickte sie nur. Wieder einmal verwünschte sie sich wegen ihrer fehlenden Schlagfertigkeit.
Marlon wartete einen Moment und als nichts kam, hastete er weiter. „Viel Spaß, Hildchen“, wünschte er noch.
Draußen empfing sie ein schneidend kalter Herbstwind und Hildegard war froh über ihre Mumifizierung und das sagte sie auch Martin.
„Auch wenn du schon gestorben bist, ich werde dich schon wieder zum Leben erwecken. Wart’s nur ab, Hilde.“
Martin schob sie eine stille Straße entlang, an Einfamilienhäusern vorbei, die jetzt, am Vormittag, verwaist waren. Auf dem Eckgrundstück, wo sie in die Nebenstraße zum Wald hin abbogen, erhob sich ein alter Labrador mit grauer Schnauze und bellte ihnen wie immer seine Begrüßung entgegen.
„Braver Hund“, lobte ihn Hildegard und der Hund legte sich wieder in den Windschatten der Hausmauer und träumte weiter, vielleicht von einem Knochen, vielleicht von der Zeit, wo er noch als Welpe im Garten umhergetollt war. Hildegard seufzte.
„Es ist so still. Wollen wir was singen?“, schlug Martin vor.
„Warum nicht?“ Es waren keine Leute zu sehen. Wenn welche da waren, genierte sich Hildegard, aber heute war ein guter Tag zum Singen.
„Das Brandenburg-Lied?“
„Gut, zwo-drei: Märkische Heide, märkischer Sand …
Ihre Stimmen harmonierten gut miteinander, wie Hildegard fand. Ihre klare Alt-Stimme lieferte den passenden Kontrast zu Martins Bass.
„Tja, keiner klatscht Beifall, Hilde“, meinte Martin. „Wir sind doch aber gut, oder? Denen werd ich‘s zeigen.“
Jetzt kommt es, dachte Hildegard entzückt und tatsächlich, Martin sang aus voller Kehle: „Good bye Jonny , Good bye Jonny …“ Sie hatte den Film geliebt. „Wasser für Canitoga“ mit Hans Alvers, eine seiner besten Rollen.
Er spielte so, wie er auch im richtigen Leben gewesen war, eine schillernde Persönlichkeit, voller Energie. Zum Schluss hatte er sich geopfert, in diesem Senkkasten…
„… Cheerio, cheerio … Good bye, Jonny, Good bye, Jonny, schön war’s mit uns zwei’n …
Sie waren am Waldrand angelangt und Martin hörte auf zu singen und verbeugte sich vor dem Wald. Er lüftete seine Kapitänsmütze, deutete mit einer theatralischen Geste auf das imaginäre Orchester, das ihn begleitet hatte. Die Bäume spendeten rauschenden Applaus. Hilde konnte gar nicht anders, als mitzuklatschen.
„Martin, heut hast du dich selbst übertroffen“, meinte sie.
„Ich habe in Wirklichkeit nicht für die gesungen, sondern nur für dich“, sagte er und verbeugte sich erneut, diesmal mit der Hand auf dem Herzen. Er befreite sie aus dem Sack und zog sie hoch. „Jetzt aber genug gefaulenzt!“, sagte er und reichte ihr die Krücken.
Während sie auf dem Waldweg nebeneinander her gingen, atmete Hildegard unwillkürlich tiefer. Es duftete nach nassem Laub und Moos und auch Pilze steuerten ihren Anteil zu dem würzigen Aroma bei. Martin erzählte wieder einmal von seinen Fahrten, schilderte einen Sturm, den sie auf seinem Fischtrawler vor Neufundland abgewettert hatten. Dabei redeten seine Arme mit, beschrieben anschaulich eine riesige Welle, die das Schiff fast zum Kentern gebracht hätte. Nur gut, dass er hier Platz genug hat, dachte Hildegard belustigt.
Als sie wieder am Rollstuhl angelangt waren, sagte er: „Ist ja noch Zeit bis zum Mittagessen. Lass uns noch ein bisschen hierbleiben.“
Sie setzten sich auf eine Bank, die hier für müde Wanderer aufgestellt worden war. Martin sah sie an und lächelte. „Na, meine Mumie. Fühlst du dich jetzt wieder lebendiger?“
„Mumie!“ Sie schnaufte entrüstet. „ich darf das sagen, aber du nicht, Kapitän.“
„Martin!“
„Ja, schon gut. Martin.“
Martin ergriff ihre Hand. „Ich … ich mag dich, Hilde“, sagte er. „Sehr sogar.“
„Was soll das jetzt sein? Eine Liebeserklärung?“ Hildegard lachte unsicher.
„Ganz genau, Hilde.“ Der Kapitän blickte sie ernst an.
„Martin. Ich bin fast achtzig! Und du bist auch nicht viel jünger!“
„Bin ich dir zu alt? Sieh her! Ich bin noch ganz schön knackig.“ Martin stand auf, drehte sich um und wackelte vor ihr mit seinem Hintern, bevor er sich wieder setzte. Hildegard musste lachen. „Sei nicht albern“, sagte sie. Dann wurde auch sie ernst.
„Ich mag dich ja auch“, sagte sie, „aber das führt zu nichts. Wir sind beide zu alt.“
„Wer sagt das?“, fragte Martin. „Dafür ist man doch nie zu alt. Pass auf, ich beweise es dir.“
Er näherte sein Gesicht dem ihren. Will er mich jetzt etwa küssen?, dachte sie und gleichzeitig wünschte sie es.
„Mach die Augen zu“, sagte Martin. Hildegard tat es. Sie wartete … und wartete … und wollte die Augen schon wieder öffnen, da spürte sie plötzlich seine Lippen auf ihren. So leicht wie eine schwache Brise war die Berührung gewesen und so schnell auch schon wieder vorbei. Hildegard war enttäuscht.
„Das soll ein Kuss gewesen sein? Hast du mit deinen Jahren nicht gelernt, wie es geht?“
„Das war doch nur der Auftakt.“ Martin lächelte und nahm einen neuen Anlauf. Diesmal wurde es ein richtiger Kuss. Er dauerte und dauerte und Hildegard ließ sich nach einer Weile einfach fallen und genoss ihn.
„Puh!“, sagte sie, nachdem sie sich gelöst hatten. „Du hast ja doch was gelernt.“ Unwillkürlich musste sie an einen Film mit Rock Hudson denken, der Titel fiel ihr nicht ein. Die Kussszene hatte der Regisseur sinnigerweise mit einer Sequenz untermalt, in der zwei Züge zusammenstießen.
„Ich habe noch viel mehr gelernt und bis jetzt auch nicht vergessen“, sagte Martin. „Das kann ich dir gerne beweisen.“
„So, so. Und wie?“
„Ich lade dich ein. Zu mir.“
Hatte er das wirklich gesagt? „Hast du das so gemeint, wie ich denke?“, fragte sie.
Er nickte nur.
„Das geht mir jetzt aber zu schnell.“
„Na ja, sooo viel Zeit haben wir ja nicht mehr, oder?“
„Ich glaube, es ist besser, du fährst mich jetzt wieder zurück.“ Sie hoffte, dass die Ablehnung nicht zu sehr nach Endgültigkeit geklungen hatte.
Auf dem Rückweg war Martin bestens gelaunt, er erzählte Anekdoten aus seinem Seefahrerleben, beschrieb die Verwirrungen, die ein Funker auslöste, weil er sich keine Gesichter merken konnte. Hildegard hörte gar nicht richtig zu, sondern träumte vor sich hin. Ja, das musste ein Traum sein. Wie lange war es her, dass ein Mann sie umworben hatte.
Sie rechnete nach und erschrak. Über ihren Gedanken hatte sie erst gar nicht bemerkt, dass Martins Redefluss versiegt war.
„Du sagst ja gar nichts, Hilde“, meinte er.
Ja, es stimmte, sie sagte aber meistens nichts. Martin konnte so interessant erzählen und sie war eine gute Zuhörerin. Das zumindest nahm sie als Fähigkeit für sich in Anspruch. Aber selbst erzählen? Was gab es da schon, das sich lohnte? Doch, es gab etwas. Sie wollte vor Martin keine Geheimnisse haben. Nicht nach dem, was gerade geschehen war.
„Wenn du mir versprichst, dass du es niemandem weitererzählst und auch nicht lachst, dann vertraue ich dir etwas an“, sagte sie. „Etwas, dass ich bis jetzt noch keinem gesagt habe.“
„Uiii, du machst es aber spannend“, sagte der Kapitän. „Ich verspreche es.“
Hildegard gab sich einen Ruck und holte tief Luft. „Ich habe sie vor ungefähr zwei Wochen das erste Mal gesehen“, begann sie. „Zwerge.“
Sie erzählte hastig weiter aus Angst, er könne sie unterbrechen, beschrieb, wie sieben Zwerge eines Spätnachmittags vor ihrem Fenster herumgewuselt waren. Alle hatten Hacken oder Schaufeln geschultert, bis auf einen, der so etwas wie eine Wünschelrute in den Händen hielt. Sie liefen mal hierhin, mal dorthin, als ob sie etwas suchten.
Plötzlich sah einer von ihnen zu ihr hoch und winkte ihr zu. Am selben Abend noch erschienen sie bei ihr im Zimmer, waren sehr freundlich, unterhielten sich mit ihr und fragten, wie es ihr gehe. Auf ihre Frage, was sie denn suchten, wollten sie aber nicht mit der Sprache herausrücken. Von da an sah sie immer wieder mal einen von ihnen im Garten, am häufigsten Tom, den Anführer. Tom war es auch, der sie fast jeden Abend besuchte.
So, jetzt war es heraus. Sie wartete auf eine Reaktion von Martin, doch die blieb minutenlang aus.
Schließlich kam es von hinten: „Du meinst, wie in „Schneewittchen und die sieben Zwerge.“
„Ja, irgendwie schon.“
„Und du bist Schneewittchen? Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz?“
„Oh, ich sehe, du kennst dich bestens mit dem Märchen aus.“
„Ja, meine Oma hat mir ausgerechnet dieses Märchen früher immer und immer wieder vorgelesen. Komisch, jetzt wo ich drüber nachdenke: Als wollte sie es mir einbläuen. Das ist doch verrückt.“
„Sag so was nicht“, bat Hildegard. „Du hast es versprochen.“
Der Kapitän hielt den Rollstuhl an und kam nach vorne. Er beugte sich über sie. „Hilde“, sagte er und sah ihr direkt in die Augen. „Das musst du doch selbst einsehen. Es ist verrückt.“
„Meinst du nicht, dass ich genau das zuerst auch gedacht hätte? Warum habe ich dir sonst bis jetzt nichts davon erzählt? Ich habe mich erschrocken, als ich sie das erste Mal im Garten gesehen habe, und noch viel mehr, als sie später plötzlich bei mir im Zimmer waren. Aber sie sind so ... real. Und inzwischen ist mir egal, ob ich mir das alles einbilde. Sie tun mir einfach gut. Sie sind immer so freundlich zu mir.“
Martin sah sie an und der Ausdruck auf seinem Gesicht sprach Bände.
„Ich bin nicht verrückt“, versicherte sie.
„Schon gut, Hilde.“ Der Kapitän richtete sich auf und ging wieder hinter den Rollstuhl.
„Martin!“, flehte sie. „Glaub mir doch.“
„Ich glaub dir ja, Hilde“, sagte Martin und setzte den Rollstuhl wieder in Bewegung.
Den Rest des Weges über war er einsilbig und es kam trotz ihres Bemühens kein richtiges Gespräch zustande. Zurück in ihrem Zimmer half er ihr aus dem Rollstuhl.
„Morgen um die gleiche Zeit?“, fragte er in munterem Ton.
Sie nickte. „Komm doch mal nachmittags. Dann kann ich sie dir vielleicht zeigen“, sagte sie.
„Wir reden morgen weiter.“ Der Kapitän machte Anstalten zu gehen.
„Bekomme ich keinen Abschiedskuss?“
„Doch, natürlich.“ Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Wange. „Bis morgen, Hilde.“
Als er gegangen war, blickte sie wie betäubt auf die Tür, die sich hinter ihm geschlossen hatte. Vielleicht für immer. Was war sie doch für eine dumme Kuh gewesen, ihm von den Zwergen zu erzählen.
Das Mittagessen nahm sie wie in Trance ein. In Gedanken durchlebte sie wieder und wieder, wie sich der Kapitän von ihr verabschiedet hatte. Kühl war er gewesen - wie einer dieser Eisberge, von denen er ihr erzählt hatte.
Die Frau, die ihr am Tisch gegenübersaß, hielt mit einer Hand einen großen Teddybären auf dem Schoß fest, während sie ihre Suppe löffelte. Irmgard glaubte sich zu erinnern, dass die Frau Elke hieß.
Plötzlich sagte die Frau: „Sie sind niedlich, nicht wahr?“
Hildegard erstarrte. „Wie bitte?“, fragte sie. Doch die Frau schwieg und streichelte nur unentwegt den großen Teddy. Sie war in ihrer eigenen Welt versunken. Hatte Elke eben auf die Zwerge angespielt? Das konnte doch nur eine Täuschung gewesen sein. War sie im Begriff, ihr letztes bisschen Verstand zu verlieren? Glaubte Martin das und wollte er deshalb nichts mehr von ihr wissen?
In ihrem Zimmer setzte sie sich ans Fenster und hielt nach ihnen Ausschau, doch sie zeigten sich nicht. Nur eine Amsel hüpfte über den Rasen zu den Apfelbäumen. Vielleicht suchte sie den Apfel, den Tom am Vormittag aufgegessen hatte. Der Vogel wirkte so lebendig, ruckte mit dem Kopf hin und her. Der Hausmeister tauchte auf und begann in einer Ecke des Gartens das Laub zusammenzurechen. Die Amsel flog davon. Weiter hinten auf der Straße am Park sauste ein Radfahrer in einer gelben Jacke vorbei. Eine Frau aus dem Heim saß mit ihrer Familie im Gartenpavillon. Sie gestikulierten und lachten. Nur das Glas des Fensters trennte Hildegard von der Szenerie dort draußen. War es nicht schon immer so gewesen? Sie hatte sich ihr ganzes Leben hindurch so gefühlt – als Beobachterin, die durch ein dünnes Glas von der Wirklichkeit getrennt war, magisch angezogen von allem, was lebhaft und kraftvoll war, Eigenschaften, die sie an sich nur allzu oft vermisste, die sie gebraucht hätte, um das Glas zu zerschlagen.
Sie war müde, unendlich müde. Den Nachmittag verdämmerte sie in ihrem Bett. Maria sah irgendwann herein und fragte, ob sie nicht an dem Spielekreis teilnehmen wolle. Sie schüttelte nur den Kopf.
Maria trat ganz ins Zimmer und kam an ihr Bett. „Warum denn nicht? Es ist nicht gut, sich hier einzugraben. Da hätten Sie Gesellschaft.“
„Heute nicht. Morgen, ja, vielleicht morgen“, wehrte Hildegard ab.
Später raffte sie sich dazu auf, den Fernseher einzuschalten. Ein alter Film mit Heinz Rühmann lief und sie war für eine Weile in einer anderen, schöneren Welt.
Das Abendessen brachte der junge Pfleger Henry ins Zimmer. Später half er ihr im Bad, bevor sie sich wieder ins Bett legte. Henry gab sich wie immer viel Mühe mit ihr. Sie kannte ihn noch als Azubi und er hatte sie für seine praktische Prüfung ausgewählt. Sie glaubte nicht, dass er es hier lange aushalten würde. Er hatte so traurige Augen.
Mitten in der Nacht erwachte sie durch ein Geräusch. Es war Tom. Er saß auf dem Besucherstuhl. Seine sechs Kumpel, alle wie er mit Zipfelmütze, Latzhose, buntem Hemd und Stiefeln bekleidet, hatten sich vor ihrem Bett aufgestellt.
„Du solltest doch niemandem von uns erzählen“, sagte Tom. „Auch nicht Martin.“
Hildegard fühlte sich ertappt. „Woher weißt du das?“, fragte sie.
„Der Wind hat es mir geflüstert." Tom seufzte. „Darf ich?“, fragte er und ohne ihre Zustimmung abzuwarten, griff er schon nach einem der belegten Brote, die vom Abendessen noch übrig waren.
Hildegard sah zu, wie Tom das Brot in sich hineinschlang.
„Du wirst bald sterben“, sagte er zwischen zwei Bissen.
„Das weiß ich doch“, sagte Hildegard.
„Ich meine sehr bald. Wahrscheinlich nächste Woche schon.“
„Was?“ jetzt war Hildegard doch erschrocken. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Tom legte seine halb aufgegessene Schnitte weg und seine kleine Hand auf ihre. „Tut mir leid. Wollte es dir schonend beibringen, aber so was ist nicht meine Stärke.“
Hildegard schwieg, während eine einzelne Träne ihre Wange hinabrann. „Ich habe Angst“, sagte sie nach einer Weile.
Tom sah sie ernst an. „Das musst du nicht“, sagte er, „wir werden auf dich aufpassen.“
„So wie auf Schneewittchen?“
„Ja.“ Der kleine Mann warf sich in die Brust. „Ein Mann, ein Wort.“
Er gab den anderen ein Zeichen. „Wir versprechen es“, sagten nun alle im Chor.
„Ein Mann, ein Wort – und sieben Männer, ein Satz.“ Hildegard lächelte unter Tränen.
„Das war gut, Hildegard!“, lobte Tom. „Witzig.“ Alle nickten.
„Wird dann auch ein Prinz kommen wie in dem Märchen?“, fragte Hildegard.
„Das weiß ich nicht“, sagte Tom.
Nein, alles weiß er auch nicht, dachte Hildegard.