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Schneewittchen

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03.08.2003
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Schneewittchen

Hildegard saß am Fenster, wie sie es fast immer tat. Ihr Blick ging durch den Garten und verweilte bei den Apfelbäumen, die jetzt schon viele Blätter verloren hatten. An den Ligusterhecken vorbei spazierte er dann in den Park und die Pappelallee mit den gold-gelb gefärbten Blättern entlang. Ihr Blick konnte das alles, sie selbst inzwischen nicht mehr. Jetzt besaß sie einen Rollstuhl. Den hatte ihre Schwiegertochter besorgt, die ein patentes Mädchen war. Wenn sie ab und zu kam, gab es immer viel zu lachen.
Aber auch, wenn sie nicht mehr gekommen wäre, hätte Hildegard sich nicht allein gefühlt. Gerade eben zeigte sich wieder einer, da unter dem Apfelbaum. Er suchte sich einen übriggebliebenen Apfel, einen schönen großen, roten, und biss hinein. Dass eine Amsel ihn schon angepickt hatte, schien dem Zwerg nichts auszumachen. Hildegard lächelte. Immer hatte er Hunger. Sie selbst mochte keine Äpfel. Jetzt spürte er wohl ihren Blick, denn er drehte sich um, sah zu ihr und winkte.
Ein putziges Kerlchen war das. Es hatte ein pausbäckiges Gesichtchen mit einer roten Knollennase. Es war Tom, der Anführer der Zwerge. Seinen richtigen Namen hatte er ihr genannt, aber sie konnte ihn nicht aussprechen. Die kleinen Augen wirkten selbst von hier aus ganz verschmitzt, wie sie so unter den dicken Augenbrauen hervorlugten. Der kleine Mann war nicht viel größer als ein dreijähriger Junge, aber er war kein Junge mehr. Oh nein! Er hatte einen schwarzen Bart, auf den er sehr stolz war. Das hatte er ihr selbst gesagt. Vielleicht kam er heute Abend zu ihr.
Als es klopfte, blickte sie auf ihre Uhr. Das musste Martin sein. Sie hatte schon auf ihn gewartet.
„Herein!“, sagte sie.
Er war es wirklich. Martin, der Kapitän. Jedenfalls war er es früher einmal gewesen. Ein richtiges Nordlicht, aber unter der Ruhe brodelte ein Vulkan oder doch zumindest ein Geysir. In seiner Gegenwart fühlte sie sich so lebendig. Er brachte sie zum Lachen und ließ sie ihre Krücken und den Rollstuhl vergessen. Wäre sie ein paar Jährchen jünger und nicht im Heim, ja dann – wäre sie nicht abgeneigt gewesen, etwas mit ihm anzufangen. Gelegentlich hatte sie sich sogar mit den Gedanken an ihn berührt und sich hinterher eine dumme Gans gescholten.
„Hallo, Hilde. So, da bin ich wieder. Pünktlich wie die Maurer.“ Sein dröhnender Bass füllte den Raum.
„Eher wie ein Schweizer Uhrwerk, Kapitän.“ Er hatte es gern, wenn sie ihn mit Kapitän anredete. Trotzdem sagte er: „Du sollst mich doch Martin nennen, einfach Martin, okay?“
„Aye, Aye, Käpt’n.“
„Na, Lust auf einen kleinen Spaziergang, Hilde?“, fragte er hoffnungsvoll.
Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Tom war verschwunden. Natürlich würde sie einwilligen, obwohl sie es hier in dem kleinen Zimmer gemütlich warm hatte. Sie war auch schon wieder müde, dabei hatte sie erst vor einer Stunde gefrühstückt. Diese Müdigkeit wurde in letzter Zeit immer schlimmer. Aber sie wusste: Martin wollte sich bewegen. Deswegen half er hier im Heim aus und unternahm mit den Bewohnern Spaziergänge. Außerdem fiel ihm zuhause die Decke auf den Kopf. Sie hatte ihn im Verdacht, noch einen anderen Grund zu haben, so oft, wie er zu ihr kam. Auch ihm fiel das Gehen schwer – er war nur fünf Jahre jünger als sie – und er benutzte einen Gehstock, aber wenn er ihren Rollstuhl schob, konnte er sich daran festhalten.
„Ja, Martin. Gerne.“
Der Kapitän stützte sie beim Aufstehen. Hildegard unterdrückte ein Stöhnen und versuchte das Stechen in ihrer Hüfte auszublenden. Er half ihr in die Jacke, öffnete einen dicken, gepolsterten Sack und legte ihn auf dem Rollstuhl zurecht. Nachdem sich Hildegard hineingesetzt hatte, zog er den Reißverschluss an dem Sack zu – den Mumiensack nannte sie ihn für sich – setzte ihr noch die Kapuze auf und wickelte einen Schal um ihren Hals. Seinen Gehstock und ihre Krücken verstaute er in der Halterung am Rollstuhl.

Auf dem blankgewienerten Flur kam ihnen Marlon entgegen. Marlon war der Pfleger, der am längsten hier arbeitete. In Wirklichkeit hieß er Andy, aber für sie war er Marlon, weil er haargenau so aussah wie der berühmte Filmschauspieler.
„Auf zur Polarexpedition, Hildchen?“
Ihr fiel nichts Geistreiches ein, deswegen nickte sie nur. Wieder einmal verwünschte sie sich wegen ihrer fehlenden Schlagfertigkeit.
Marlon wartete einen Moment und als nichts kam, hastete er weiter. „Viel Spaß, Hildchen“, wünschte er noch.
Draußen empfing sie ein schneidend kalter Herbstwind und Hildegard war froh über ihre Mumifizierung und das sagte sie auch Martin.
„Auch wenn du schon gestorben bist, ich werde dich schon wieder zum Leben erwecken. Wart’s nur ab, Hilde.“
Martin schob sie eine stille Straße entlang, an Einfamilienhäusern vorbei, die jetzt, am Vormittag, verwaist waren. Auf dem Eckgrundstück, an dem sie in die Nebenstraße zum Wald hin abbogen, erhob sich ein alter Labrador mit grauer Schnauze und bellte ihnen wie immer seine Begrüßung entgegen.
„Braver Hund“, lobte ihn Hildegard. Der Hund legte sich wieder in den Windschatten der Hausmauer und träumte weiter, vielleicht von einem Knochen, vielleicht von der Zeit, in der er noch als Welpe im Garten umhergetollt war. Hildegard seufzte.
„Es ist so still. Wollen wir was singen?“, schlug Martin vor.
„Warum nicht?“ Es waren keine Leute zu sehen. Wenn welche da waren, genierte sich Hildegard, aber heute war ein guter Tag zum Singen.
„Das Brandenburg-Lied?“
„Gut, zwo-drei: Märkische Heide, märkischer Sand …“
Ihre Stimmen harmonierten gut miteinander. Hildegards klare Alt-Stimme lieferte den passenden Kontrast zu Martins Bass.
„Tja, keiner klatscht Beifall, Hilde“, meinte Martin. „Wir sind doch aber gut, oder? Denen werd ich‘s zeigen.“
Jetzt kommt es, dachte Hildegard entzückt und tatsächlich, Martin sang aus voller Kehle: „Good bye Johnny , Good bye Johnny …“ Sie hatte den Film geliebt. „Wasser für Canitoga“ mit Hans Albers, eine seiner besten Rollen. Er spielte so, wie er auch im richtigen Leben gewesen war, eine schillernde Persönlichkeit, voller Energie. Zum Schluss hatte er sich geopfert, in diesem Senkkasten …
„… Cheerio, cheerio … Good bye, Johnny, Good bye, Johnny, schön war’s mit uns zwei’n …“
Sie waren am Waldrand angelangt und Martin hörte auf zu singen und verbeugte sich vor dem Wald. Er lüftete seine Kapitänsmütze, deutete mit einer theatralischen Geste auf das imaginäre Orchester, das ihn begleitet hatte. Die Bäume spendeten rauschenden Applaus. Hildegard konnte gar nicht anders als mitzuklatschen.
„Martin, heut hast du dich selbst übertroffen“, meinte sie.
„Ich habe in Wirklichkeit nicht für die gesungen, sondern nur für dich“, sagte er und verbeugte sich erneut, diesmal mit der Hand auf dem Herzen. Er befreite sie aus dem Sack und zog sie hoch. „Jetzt aber genug gefaulenzt!“, sagte er und reichte ihr die Krücken.
Während sie auf dem Waldweg nebeneinander her gingen, atmete Hildegard unwillkürlich tiefer. Es duftete nach nassem Laub und Moos und auch Pilze steuerten ihren Anteil zu dem würzigen Aroma bei. Martin erzählte wieder einmal von seinen Fahrten, schilderte einen Sturm, den sie auf seinem Fischtrawler vor Neufundland abgewettert hatten. Dabei redeten seine Arme mit – unterstützt von dem Gehstock – und beschrieben anschaulich eine riesige Welle, die das Schiff fast zum Kentern gebracht hätte. Nur gut, dass er hier Platz genug hat, dachte Hildegard belustigt.

Als sie wieder am Rollstuhl angelangt waren, sagte er: „Ist ja noch Zeit bis zum Mittagessen. Lass uns noch ein bisschen hierbleiben.“
Sie setzten sich auf eine Bank, die hier für müde Wanderer aufgestellt worden war. Martin sah sie an und lächelte. „Na, meine Mumie. Fühlst du dich jetzt wieder lebendiger?“
„Mumie!“ Sie schnaufte entrüstet. „Ich darf das sagen, aber du nicht, Kapitän.“
„Martin!“
„Ja, schon gut. Martin.“
Martin nahm ihre Hand. „Ich … ich mag dich, Hilde“, sagte er. „Sehr sogar.“
„Was soll das jetzt sein? Eine Liebeserklärung?“ Hildegard lachte unsicher.
„Ganz genau, Hilde.“ Der Kapitän blickte sie ernst an.
„Martin. Ich bin fast achtzig! Und du bist auch nicht viel jünger!“
„Bin ich dir zu alt? Sieh her! Ich bin noch ganz schön knackig.“ Martin stand auf, drehte sich um und wackelte vor ihr mit seinem Hintern, bevor er sich wieder setzte. Hildegard musste lachen. „Sei nicht albern“, sagte sie. Dann wurde auch sie ernst.
„Ich mag dich ja auch“, sagte sie, „aber das führt zu nichts. Wir sind beide zu alt.“
„Wer sagt das?“, fragte Martin. „Dafür ist man doch nie zu alt. Pass auf, ich beweise es dir!“
Er näherte sein Gesicht dem ihren. Will er mich jetzt etwa küssen?, dachte sie und gleichzeitig wünschte sie es.
„Mach die Augen zu“, sagte Martin. Hildegard tat es. Sie wartete … und wartete … und wollte die Augen schon wieder öffnen, da spürte sie plötzlich seine Lippen. So leicht wie eine schwache Brise war die Berührung gewesen und so schnell auch schon wieder vorbei. Hildegard war enttäuscht.
„Das soll ein Kuss gewesen sein? Hast du mit deinen Jahren nicht gelernt, wie es geht?“
„Das war doch nur der Auftakt.“ Martin lächelte und nahm einen neuen Anlauf. Diesmal wurde es ein richtiger Kuss. Er dauerte und dauerte und Hildegard ließ sich nach einer Weile einfach fallen und genoss ihn.
„Puh!“, sagte sie, nachdem sie sich gelöst hatten. „Du hast ja doch was gelernt.“ Unwillkürlich musste sie an einen Film mit Rock Hudson denken, der Titel fiel ihr nicht ein. Die Kussszene hatte der Regisseur sinnigerweise mit einer Sequenz untermalt, in der zwei Züge zusammenstießen.
„Ich habe noch viel mehr gelernt und bis jetzt auch nicht vergessen“, sagte Martin. „Das kann ich dir gerne beweisen.“
„So, so. Und wie?“
„Ich lade dich ein. Zu mir.“
Hatte er das wirklich gesagt? „Hast du das so gemeint, wie ich denke?“, fragte sie.
Er nickte nur.
„Das geht mir jetzt aber zu schnell.“
„Na ja, sooo viel Zeit haben wir ja nicht mehr, oder?“
„Ich glaube, es ist besser, du fährst mich jetzt wieder zurück.“ Sie hoffte, dass die Ablehnung nicht zu sehr nach Endgültigkeit geklungen hatte.
Auf dem Rückweg war Martin bestens gelaunt, er erzählte Anekdoten aus seinem Seefahrerleben, beschrieb die Verwirrungen, die ein Funker auslöste, weil er sich keine Gesichter merken konnte. Hildegard hörte gar nicht richtig zu, sondern träumte vor sich hin. Ja, das musste ein Traum sein. Wie lange war es her, dass ein Mann sie umworben hatte? Sie rechnete nach und erschrak. Über ihren Gedanken hatte sie erst gar nicht bemerkt, dass Martins Redefluss versiegt war.
„Du sagst ja gar nichts, Hilde?“, meinte er.
Es stimmte. Wieder einmal hatte sie Martin das Reden überlassen. Er konnte so interessant erzählen. Aber sie selbst? Was gab es da schon, das zu erzählen sich lohnte? Doch, es gab etwas. Außerdem wollte sie vor Martin keine Geheimnisse haben. Nicht nach dem, was gerade geschehen war.
„Wenn du mir versprichst, dass du es niemandem weitererzählst und auch nicht lachst, dann vertraue ich dir etwas an“, sagte sie. „Etwas, das ich bis jetzt noch keinem gesagt habe.“
„Uiii, du machst es aber spannend“, sagte der Kapitän. „Ich verspreche es.“
Hildegard gab sich einen Ruck und holte tief Luft. „Ich habe sie vor ungefähr zwei Wochen das erste Mal gesehen“, begann sie. „Zwerge.“
Sie erzählte hastig weiter aus Angst, er könne sie unterbrechen, beschrieb, wie sieben Zwerge eines Spätnachmittags vor ihrem Fenster herumgewuselt waren. Alle hatten Hacken oder Schaufeln geschultert, bis auf einen, der so etwas wie eine Wünschelrute in den Händen hielt. Sie liefen mal hierhin, mal dorthin, als ob sie etwas suchten.
Plötzlich sah einer von ihnen zu ihr hoch und winkte ihr zu. Am selben Abend noch erschienen sie bei ihr im Zimmer, waren sehr freundlich, unterhielten sich mit ihr und fragten, wie es ihr gehe. Auf ihre Frage, was sie denn suchten, wollten sie aber nicht mit der Sprache herausrücken. Von da an sah sie immer wieder mal einen von ihnen im Garten, am häufigsten Tom, den Anführer. Tom war es auch, der sie fast jeden Abend besuchte.
So, jetzt war es heraus. Sie wartete auf eine Reaktion von Martin, doch die blieb minutenlang aus.
Schließlich kam es von hinten: „Du meinst, wie in ‚Schneewittchen und die sieben Zwerge‘?“
„Ja, irgendwie schon.“
„Und du bist Schneewittchen? Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz?“
„Oh, ich sehe, du kennst dich bestens mit dem Märchen aus.“
„Ja, meine Oma hat mir ausgerechnet dieses Märchen früher immer und immer wieder vorgelesen. Komisch, jetzt wo ich drüber nachdenke: Als wollte sie es mir einbläuen. Und zum Schluss hat sie ... aber das ist doch verrückt.“
„Sag so was nicht“, bat Hildegard. „Du hast es versprochen.“
Der Kapitän hielt den Rollstuhl an und kam nach vorne. Er beugte sich über sie. „Hilde“, sagte er und sah ihr direkt in die Augen. „Das musst du doch selbst einsehen. Es ist verrückt.“
„Meinst du nicht, dass ich genau das zuerst auch gedacht hätte? Warum habe ich dir sonst bis jetzt nichts davon erzählt? Ich habe mich erschrocken, als ich sie das erste Mal im Garten gesehen habe, und noch viel mehr, als sie später plötzlich bei mir im Zimmer waren. Aber sie sind so ... real. Und inzwischen ist mir egal, ob ich mir das alles einbilde. Sie tun mir einfach gut. Sie sind immer so freundlich zu mir.“
Martin sah sie an und der Ausdruck auf seinem Gesicht sprach Bände.
„Ich bin nicht verrückt“, versicherte sie.
„Schon gut, Hilde.“ Der Kapitän richtete sich auf und ging wieder hinter den Rollstuhl.
„Martin!“, flehte sie. „Glaub mir doch.“
„Ich glaub dir ja, Hilde“, sagte Martin und setzte den Rollstuhl wieder in Bewegung.
Den Rest des Weges über war er einsilbig und es kam trotz ihres Bemühens kein richtiges Gespräch zustande. Zurück in ihrem Zimmer half er ihr aus dem Rollstuhl.
„Morgen um die gleiche Zeit?“, fragte er in munterem Ton.
Sie nickte. „Komm doch mal nachmittags. Dann kann ich sie dir vielleicht zeigen“, sagte sie.
„Wir reden morgen weiter.“ Der Kapitän machte Anstalten zu gehen.
„Bekomme ich keinen Abschiedskuss?“
„Doch, natürlich.“ Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Wange. „Bis morgen, Hilde.“
Schon in der Tür schüttelte er noch den Kopf und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er etwas wegwischen.
„Martin!“, rief sie, doch da hatte sich die Tür bereits hinter ihm geschlossen. Vielleicht für immer. Was war sie doch für eine dumme Kuh gewesen, ihm von den Zwergen zu erzählen.

Das Mittagessen nahm sie wie in Trance ein. In Gedanken durchlebte sie wieder und wieder, wie sich der Kapitän von ihr verabschiedet hatte. Kühl war er gewesen - wie einer dieser Eisberge, von denen er ihr erzählt hatte.
Die Frau, die ihr am Tisch gegenübersaß, hielt mit einer Hand einen großen Teddybären auf dem Schoß fest, während sie ihre Suppe löffelte. Hildegard glaubte sich zu erinnern, dass die Frau Elke hieß.
Plötzlich sagte die Frau: „Sie sind niedlich, nicht wahr?“
Hildegard erstarrte. „Wie bitte?“, fragte sie. Doch die Frau schwieg und streichelte nur unentwegt den großen Teddy. Sie war in ihrer eigenen Welt versunken. Hatte Elke eben auf die Zwerge angespielt? Das konnte doch nur eine Täuschung gewesen sein. War sie im Begriff, ihr letztes bisschen Verstand zu verlieren? Glaubte Martin das und wollte er deshalb nichts mehr von ihr wissen?
In ihrem Zimmer setzte sie sich ans Fenster und hielt nach ihnen Ausschau, doch sie zeigten sich nicht. Nur eine Amsel hüpfte über den Rasen zu den Apfelbäumen. Vielleicht suchte sie den Apfel, den Tom am Vormittag aufgegessen hatte. Der Vogel wirkte so lebendig, ruckte mit dem Kopf hin und her. Der Hausmeister tauchte auf und begann, in einer Ecke des Gartens das Laub zusammenzurechen. Die Amsel flog davon. Weiter hinten auf der Straße am Park sauste ein Radfahrer in einer gelben Jacke vorbei. Eine Frau aus dem Heim saß mit ihrer Familie im Gartenpavillon. Sie gestikulierten und lachten. Nur das Glas des Fensters trennte Hildegard von der Szenerie dort draußen. War es nicht schon immer so gewesen? Sie hatte sich ihr ganzes Leben hindurch so gefühlt – als Beobachterin, die durch ein dünnes Glas von der Wirklichkeit getrennt war, magisch angezogen von allem, was lebhaft und kraftvoll war. Das waren auch genau die Eigenschaften, die sie an sich nur allzu oft vermisste, die sie gebraucht hätte, um das Glas zu zerschlagen.
Sie war müde, unendlich müde. Den Nachmittag verdämmerte sie in ihrem Bett. Eine Pflegerin sah irgendwann herein. „Wollen Sie nicht an dem Spielkreis teilnehmen?“, fragte sie. Hildegard schüttelte nur den Kopf.
Die Pflegerin trat ganz ins Zimmer und kam an ihr Bett. „Warum denn nicht? Es ist nicht gut, sich hier einzugraben. Da hätten Sie Gesellschaft.“
„Heute nicht. Morgen, ja ..., vielleicht morgen“, wehrte Hildegard ab.
Später raffte sie sich dazu auf, den Fernseher einzuschalten. Ein alter Film mit Heinz Rühmann lief und sie war für eine Weile in einer anderen, schöneren Welt.
Das Abendessen brachte der junge Pfleger Henry ins Zimmer. Später half er ihr im Bad, bevor sie sich wieder ins Bett legte. Henry gab sich wie immer viel Mühe mit ihr. Sie kannte ihn noch als Azubi und er hatte sie für seine praktische Prüfung ausgewählt. Sie glaubte nicht, dass er es hier lange aushalten würde. Er hatte so traurige Augen.

Mitten in der Nacht erwachte sie durch ein Geräusch. Es war Tom. Er saß auf dem Besucherstuhl. Seine sechs Kumpel, alle wie er mit Zipfelmütze, Latzhose, buntem Hemd und Stiefeln bekleidet, hatten sich vor ihrem Bett aufgestellt.
„Du solltest doch niemandem von uns erzählen“, sagte Tom. „Auch nicht Martin.“
Hildegard fühlte sich ertappt. „Woher weißt du das?“, fragte sie.
„Der Wind hat es mir geflüstert." Tom seufzte. „Darf ich?“, fragte er und ohne ihre Zustimmung abzuwarten, griff er schon nach einem der belegten Brote, die vom Abendessen noch übrig waren.
Hildegard sah zu, wie Tom das Brot in sich hineinschlang.
„Du wirst bald sterben“, sagte er zwischen zwei Bissen.
„Das weiß ich doch“, sagte Hildegard.
„Ich meine sehr bald. Wahrscheinlich nächste Woche schon.“
„Was?“ Jetzt war Hildegard doch erschrocken. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Tom legte seine halb aufgegessene Schnitte weg und seine kleine Hand auf ihre. „Tut mir leid. Wollte es dir schonend beibringen, aber so was ist nicht meine Stärke.“
Hildegard schwieg, während eine einzelne Träne ihre Wange hinabrann. „Ich habe Angst“, sagte sie nach einer Weile.
Tom sah sie ernst an. „Das musst du nicht“, sagte er, „wir werden auf dich aufpassen.“
„So wie auf Schneewittchen?“
„Ja.“ Der kleine Mann warf sich in die Brust. „Ein Mann, ein Wort.“
Er gab den anderen ein Zeichen. „Wir versprechen es!“, sagten nun alle im Chor.
„Ein Mann, ein Wort – und sieben Männer, ein Satz.“ Hildegard lächelte unter Tränen.
„Das war gut, Hildegard!“, lobte Tom. „Witzig.“ Alle nickten.
„Wird dann auch ein Prinz kommen wie in dem Märchen?“, fragte Hildegard.
„Das weiß ich nicht“, sagte Tom.
Nein, alles weiß er auch nicht, dachte Hildegard.

 

Hi @Sturek !

Mir hat deine Geschichte insgesamt gefallen, mit Einschränkungen, wozu ich noch fragen werde bzw mein Gefühl schildern. Was auf jeden Fall zu sagen ist, du bist ein einwandfreier Erzähler. Der Ton, fließend, kompakt, ohne Ausrutscher, ohne Ausuferndes, plastisch; das ist angenehm zu lesen. Ich könnte sagen: wohltuend.
Auch die Figur ist sehr plausibel.
(Ja, Halluzinationen beginnen sachte, sind anfangs nett, harmlos, können aber sehr böse werden. Auch so könnte man dein Ende mit der Nachricht vom bevorstehenden Tod deuten.) Nicht ganz klar ist mir der Text als Ganzes ... dazu unten mehr.
Als Erstes:
Was mir am Ende fehlt, ist eine zweite Sequenz mit Martin. Dass der, selbst wenn er die Zwergensache bedenklich findet, sich ad hoc vollkommen zurückzieht, das ist doch etwas seltsam. Und es fehlt der Geschichte nach meinem Empfinden, dass es zu keiner weiteren Begegnung kommt. Der Martin ist ja immerhin als sehr nett beschrieben, sich ohne Erklärung zurückzuziehen oder noch mal nachzuhaken ... das passt wenig. Versteh mich nicht falsch, ich brauch da kein happy ending der Liebesgeschichte. Es kann durchaus scheitern mit den beiden, wenn sie sich erneut treffen, nur: irgendwas könnte da noch kommen.

Fast alle Anmerkunge beziehen sich auf den Plot. Sprachlich passt das für mich schon, Einzelheiten findet man ja immer.

Den hatte ihre Schwiegertochter besorgt, die ein patentes Mädchen war. Wenn sie ab und zu kam, gab es immer viel zu lachen.
Das 'patent' hängt irgendwie ohne Fäden rum -- hat ja auch nix mit mit dem Lachen zu tun. Was bedeutet da patent?

Jetzt spürte er wohl ihren Blick, denn er drehte sich um, sah zu ihr und winkte.
Nett beschrieben. Für eine Halo ungewöhnlich, die beziehen sich meist sofort auf den, der sie hat. (Bzw. der sie hat, bezieht sie auf sich).

„Ich habe in Wirklichkeit nicht für die gesungen, sondern nur für dich“, sagte er und verbeugte sich erneut, diesmal mit der Hand auf dem Herzen.
Das ist auch sympathisch, daher ist es unverständlich, wie schnell er sich zurückzieht, später.
„Bin ich dir zu alt? Sieh her! Ich bin noch ganz schön knackig.“ Martin stand auf, drehte sich um und wackelte vor ihr mit seinem Hintern, bevor er sich wieder setzte. Hildegard musste lachen. „Sei nicht albern“, sagte sie. Dann wurde auch sie ernst.
Wieder.
Hildegard war enttäuscht.
„Das soll ein Kuss gewesen sein? Hast du mit deinen Jahren nicht gelernt, wie es geht?“
Das ist alles sehr nett beschrieben, dieses Geplänkel, in heiterem Ton, fast schon irreal nett. Daher ist das Ende dieser Zweiergeschichte in ihrer Abruptheit ein wirklich derber Absturz. Da wirst du einige Lese-Erwartungen enttäuschen. Der Ton hier lässt ja auf eine nette Geschichte - ohne großen bösen Realismus - mit gutem Ende hoffen. Das hier ist ja noch rosabrillenverliebt-mäßig. Und dann wehe, wehe, wenn ich auf das Ende sehe? Daher denke ich, du solltest hier oder am Ende etwas ändern.

„Wenn du mir versprichst, dass du es niemandem weitererzählst und auch nicht lachst, dann vertraue ich dir etwas an“, sagte sie. „Etwas, das ich bis jetzt noch keinem gesagt habe.“
„Uiii, du machst es aber spannend“, sagte der Kapitän. „Ich verspreche es.“
Hildegard gab sich einen Ruck und holte tief Luft. „Ich habe sie vor ungefähr zwei Wochen das erste Mal gesehen“, begann sie. „Zwerge.“
Spannend. Und gut, dass es hier endlich weiter geht mit den Zwergen. Man könnte sagen, vielleicht sollte das schneller gehen, was heißt, dass du das Geplänkel der beiden kürzt. Vor allem dann, wenn du dabei bleibst, es am Ende nicht mehr aufzugreifen.
„Meinst du nicht, dass ich genau das zuerst auch gedacht hätte? Warum habe ich dir sonst bis jetzt nichts davon erzählt? Ich habe mich erschrocken, als ich sie das erste Mal im Garten gesehen habe, und noch viel mehr, als sie später plötzlich bei mir im Zimmer waren. Aber sie sind so ... real. Und inzwischen ist mir egal, ob ich mir das alles einbilde. Sie tun mir einfach gut. Sie sind immer so freundlich zu mir.“
Plausibel. Und sie räumt ein, es könnten Halos sein, was ja ein Ansatzpunkt für ihn sein könnte, ihr beistehen zu wollen.

Das Mittagessen nahm sie wie in Trance ein. In Gedanken durchlebte sie wieder und wieder, wie sich der Kapitän von ihr verabschiedet hatte. Kühl war er gewesen - wie einer dieser Eisberge, von denen er ihr erzählt hatte.
Tragisch. Gut gezeigt, ihre Traurigkeit, anrührend.

Die Pflegerin trat ganz ins Zimmer und kam an ihr Bett. „Warum denn nicht? Es ist nicht gut, sich hier einzugraben. Da hätten Sie Gesellschaft.“
„Heute nicht. Morgen, ja, vielleicht morgen“, wehrte Hildegard ab.
Später raffte sie sich dazu auf, den Fernseher einzuschalten. Ein alter Film mit Heinz Rühmann lief und sie war für eine Weile in einer anderen, schöneren Welt.
Das Abendessen brachte der junge Pfleger Henry ins Zimmer. Später half er ihr im Bad, bevor sie sich wieder ins Bett legte. Henry gab sich wie immer viel Mühe mit ihr. Sie kannte ihn noch als Azubi und er hatte sie für seine praktische Prüfung ausgewählt. Sie glaubte nicht, dass er es hier lange aushalten würde. Er hatte so traurige Augen.
Teil eins: ja, auch das gut.
Teil zwei: weg damit. Ich habe unten geschaut, ob der Henry irgendeine Rolle spielt, tut er nicht. Wozu ihn hier einführen? Und es wird auch zu lang.

Er gab den anderen ein Zeichen. „Wir versprechen es“, sagten nun alle im Chor.
„Ein Mann, ein Wort – und sieben Männer, ein Satz.“ Hildegard lächelte unter Tränen.
„Das war gut, Hildegard!“, lobte Tom. „Witzig.“ Alle nickten.
„Wird dann auch ein Prinz kommen wie in dem Märchen?“, fragte Hildegard.
„Das weiß ich nicht“, sagte Tom.
Nein, alles weiß er auch nicht, dachte Hildegard.
Auf eine seltsame Weise gefällt mir das Ende, trotzdem ich immer noch ein hybrides Gefühl habe, was das Gesamtbild betrifft. Ist mir nicht ganz klar, was du da machen wolltest -- einen versöhnlichen oder einen real-tragischen Text?

Neugierig auf deine Response,
Flac

 

Hallo @Sturek,

nun zu deiner Geschichte. Hab sie jetzt zweimal durch und sie hat mich angesprochen, ich hab mich gerne damit beschäftigt und das gerne gelesen. Mir sind einige Gedanken hängengeblieben, dazu am Ende mehr.

Den hatte ihre Schwiegertochter besorgt, die ein patentes Mädchen war.
Warum nicht patente Schwiegertochter. Unnötiger Relativsatz.
Wenn sie ab und zu kam, gab es immer viel zu lachen.
Ab und zu ... immer, ist mir nur direkt aufgefallen.
Sie selbst mochte keine Äpfel.
Ist für son Schneewittchen auch besser ...
Vielleicht kam er heute Abend zu ihr.
Stellt sich direkt die Frage: Tut er das regelmäßig? Wovon hängt das ab, ob er kommt?
Gelegentlich hatte sie sich sogar mit den Gedanken an ihn berührt und sich hinterher eine dumme Gans gescholten.
hatte sich mit dem Gedanken an ihn berührt finde ich sehr ungewöhnlich, dass einen eigene Gedanken berühren. Was spricht gegen "mit dem Gedanken an Nähe zwischen ihnen gespielt"? Oder könntest du ev. Masturbation meinen?
Hildegard unterdrückte ein Stöhnen und versuchte, das Stechen in ihrer Hüfte zu ignorieren.
und ignorierte das Stechen in ihrer Hüfte? Wenn du etwas ignoriert, verschwindet es ja nicht, es ist immer noch da, du weigerst dich nur, das wahrzunehmen.
den Mumiensack nannte sie ihn für sich
die Bezeichnung Mumienschlafsack ist sehr geläufig, daher kann das "nannte sie ihn für sich" weg, weil das quasi Gemeingut ist und die Ableitung auf den Rollstuhlsack ohne weiteres gelingt.
„Auf zur Polarexpedition, Hildchen?“
Boah, diese Verniedlichung, Hildchen, das klingt für mich wie Kindchen, dich nehme ich nicht ganz ernst. Warum sagt er nicht Hilde, das ist doch schon eine privatere Form ihres Namens.
Wieder einmal verwünschte sie sich wegen ihrer fehlenden Schlagfertigkeit.
warum schämt sie sich nicht einfach? Verwünschen hat was von Kirke und auf einmal sind alle Schweine.
Der Hund legte sich wieder in den Windschatten der Hausmauer und träumte weiter, vielleicht von einem Knochen, vielleicht von der Zeit, in der er noch als Welpe im Garten umhergetollt war.
projizierte Hundegedanken, weiß nicht, ob es das braucht.
„Es ist so still. Wollen wir was singen?“, schlug Martin vor.
„Warum nicht?“ Es waren keine Leute zu sehen. Wenn welche da waren, genierte sich Hildegard, aber heute war ein guter Tag zum Singen.
Ich finde das passend, weil ich das u.a. von meinen Eltern kannte, für diese Generation hat Singen einen sehr hohen Stellenwert und ist etwas Verbindendes, das man gerne tut.
Denen werd ich‘s zeigen.
? Ist doch niemand da.
Die Bäume spendeten rauschenden Applaus.
Magischer Realismus?
Es duftete nach nassem Laub und Moos und auch Pilze steuerten ihren Anteil zu dem würzigen Aroma bei.
würziges Aroma, bei Aroma bin ich als erstes bei Zusatzstoffen für Lebensmittel, weniger beim Wald. Wald hat für mich einen komplexen Geruch, der mich zugleich anzieht und abstößt, Zersetzung, Moder, Frische, Feuchtigkeit, etc..
den sie auf seinem Fischtrawler vor Neufundland abgewettert hatten
Neue Vokabel für mich, noch nie gehört.
Was gab es da schon, das zu erzählen sich lohnte?
Was gab es da schon Lohnenswertes zu erzählen? Ich finde Relativsätze mit der, die, das oft entbehrlich.
Plötzlich sagte die Frau: „Sie sind niedlich, nicht wahr?“
Überraschend und gut.
als Beobachterin, die durch ein dünnes Glas von der Wirklichkeit getrennt war, magisch angezogen von allem, was lebhaft und kraftvoll war. Das waren auch genau die Eigenschaften, die sie an sich nur allzu oft vermisste, die sie gebraucht hätte, um das Glas zu zerschlagen.
gut geschrieben.
„Heute nicht. Morgen, ja, vielleicht morgen“, wehrte Hildegard ab.
Da kommt das Zögern für mich zu wenig an.
Heute nicht. Morgen ..., vielleicht morgen“, wehrte Hildegard ab.
Mitten in der Nacht erwachte sie durch ein Geräusch. Es war Tom. Er saß auf dem Besucherstuhl. Seine sechs Kumpel, alle wie er mit Zipfelmütze, Latzhose, buntem Hemd und Stiefeln bekleidet, hatten sich vor ihrem Bett aufgestellt.
„Du solltest doch niemandem von uns erzählen“, sagte Tom. „Auch nicht Martin
Hehe, das finde ich sehr gelungen.
„Du wirst bald sterben“, sagte er zwischen zwei Bissen.
„Das weiß ich doch“, sagte Hildegard.
„Ich meine sehr bald. Wahrscheinlich nächste Woche schon.“
„Was?“ jetzt war Hildegard doch erschrocken. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Tom legte seine halb aufgegessene Schnitte weg und seine kleine Hand auf ihre. „Tut mir leid. Wollte es dir schonend beibringen, aber so was ist nicht meine Stärke.“
Nonchalant und nebenbei: Ach übrigens, du stirbst nächste Woche ... das ist schon hart, aber auch gut gemacht.
Er gab den anderen ein Zeichen. „Wir versprechen es“, sagten nun alle im Chor.
„Ein Mann, ein Wort – und sieben Männer, ein Satz.“ Hildegard lächelte unter Tränen.
Manchmal braucht es sieben Männer für einen Satz ... nice

Meine Lesart: Im Text geht es um Liebe und Tod, die klassischsten und für unser Leben wichtigsten Motive überhaupt und zugleich unvereinbare Antipode. Die Zwerge dienen einerseits als Überbringer der Todesnachricht, andererseits allein durch ihre Existenz als Beender der romantischen Episode. Insofern bringen sie viel mehr Gewicht auf die Waage als der Kapitän, der eine Romanze anstrebt und das Vorhaben "Liebe" bei der kleinsten Merkwürdigkeit sofort aufgibt, was aus dem Geysir ein Hologramm aus Behauptungen macht, die er nicht beweist, weil er keine adäquate Antwort kennt und dem Konflikt keinen Fitzel innere Substanz entgegensetzen kann.
Dienlicher für die Geschichte fände ich, wenn der Kapitän sich allein durch die Erwähnung der Zwerge zurückzieht, weil er weiß, was "Zwergesehen" bedeutet. Eine Art Geheimwissen. Dass er vor Hilde weiß, dass es Todesboten sind und ergo ihr Tod in sehr naher Zukunft bevorsteht, was für ihn ein Schock sein müsste. Vllt. rinnen ihm Tränen der Trauer über die Augen, vllt. hat er Ähnliches bei seinen Liebsten schon erlebt und schafft das emotional nicht, weicht deshalb zurück. Und Hilde versteht das nach der Todesbotschaft der Zwerge im Nachhinein, durch Rückschluss, und geht zuletzt auf ihn zu, um die verbleibende kurze Zeit zu nutzen. Oder so.
Dadurch, dass er sie verrückt nennt, würgst du diesen Handlungsstrang komplett ab, der Faden ist nicht zu Ende erzählt, sondern gerissen. Und über den Kapitän denke ich nur: was ein Lauch.
Zur Romanze: Ich finde die Szene im Wald gut geschrieben, die gelöste Stimmung, das Tempo der Annäherung, das Küssen, das Zögern. Doch auf motivlicher Ebene sehe ich das kritischer. Momentan ist das Verhältnis sehr ungleich. Er der Macher, der entscheidet, sie das Heimchen, das folgt, klassische Rollenverteilung unserer Elterngeneration. Für mich wäre es glaubhafter, wenn sich diese Romanze zum einen mehr auf Augenhöhe abspielen würde und zum anderen schon länger anbahnt. Ein bisschen hast du das drin: "Wäre sie ein paar Jährchen jünger und nicht im Heim, ja dann – wäre sie nicht abgeneigt gewesen, etwas mit ihm anzufangen." Doch der Kapitän überfällt sie regelrecht mit seiner Offenlegung aus heiterem Himmel, sie hat das nicht erwartet und schwankt zwischen Unglauben und stiller Hoffnung. Und sobald sie ihr Innenleben offenbart, wird sie bestraft.
Er ist ein Haudrauf, rüstig und fünf Jahre jünger, sie ist schüchtern, wie hinter Glas. Wie findet sich das zusammen? Ich lese, er geht ins Pflegeheim, einerseits weil ihm zuhause die Decke auf den Kopf fällt, andererseits geht er gerne am Rollstuhl spazieren und erzählt anderen von sich. Was verspricht er sich ernsthaft von einer älteren, gebrechlichen Frau, die pflegebedürftig ist und im Rollstuhl sitzt? Welche Qualitäten außer Singen und Nett sein hat sie anzubieten, die ein Verliebtsein erklären könnten?
Die Zwerge: Ich finde es momentan etwas ungeschickt, dass der Zwergenanführer anfangs kurz apfelessend auftaucht und dann für die Zeit des Ausflugs komplett verschwindet. Ich lese das als Leerstelle im Text und frage mich zwischendurch, warum du den eingeführt hast. Die Zwerge versprechen ihr, dass sie sie beschützen, warum begleiten sie die Hilde dann nicht in den Wald? Da würden die ganz andere Möglichkeiten eröffnet, vor allem, wenn nur die Hilde sie sieht, "Selbstgespräche" mit den Zwergen, in Richtung Screwball-Comedy, sie tut was, die Zwerge kommentieren, Martin fragt sie, mit wem sie redet, sie will ihn vor Zuschauern nicht küssen, kann es ihm nicht sagen, usw.. Das könnte auch was von einer Plage haben, die sie nicht loswird, sie symbolisieren ja den nahenden Tod, und iwie gelingt es ihr und dem Kapitän, den Zwergen und somit dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. das sind nur so meine Gedanken, die beim Lesen sprudeln. Ich denke jedenfalls, dass du mit ein paar gedrehten Stellrädchen aus der Geschichte noch mehr machen könntest, was nicht heißt, dass sie mir nicht gefällt. Das tut sie, sonst kämen die Ideen nicht.
Ganz ehrlich fehlt mir auch ein offener Schluss, ein Ausblick, das ist mir persönlich zu auserzählt. Wir wissen, Hilde wird sterben, der Kapitän wird einsilbig bleiben, falls er nochmal aufkreuzt und die Zwerge werden sie beschützen. Für mich ist das ein wenig so, als würde die Geschichte mit Hilde sterben.

Hoffe, es ist was für dich dabei, peace, l2f

 

Hallo @FlicFlac

Vielen Dank auch dir für deine intensive Beschäftigung mit meiner Geschichte und deine Anregungen, die ja vor allem den Plot betreffen.
Ja, der Kapitän scheint da ziemlich herzlos zu sein. Allerdings gibt es da noch das Hintertürchen, dass er nur Zeit braucht, um sich auf die neue Situation einzustellen.
Eine erneute Begegnung würde meiner Meinung nach nur in einem größeren Rahmen funktionieren. Der Kapitän könnte sich zum Beispiel ebenfalls auf die Zwerge einlassen und anschließend ginge es weiter in der von @jimmysalaryman skizzierten Richtung. Auch die Liebesbeziehung könnte ich dann wieder thematisieren.

Die mögliche Erklärung für das Verhalten des Kapitäns hatte ich ja schon in meiner Antwort auf @Takinios' Komm. beschrieben.
Das Problem ist, sie existiert bisher nur in meinem Kopf. Ich will ihn auch nicht zu sehr in den Mittelpunkt rücken. Vieleicht könnte ich eine Erklärung für sein Verhalten zumindest andeuten. Hmm, mal überlegen. Ja, ich werde noch einen Halbsatz einfügen. Der Kapitän sagt jetzt an der Stelle mit seiner Oma: Komisch, jetzt wo ich drüber nachdenke: Als wollte sie es mir einbläuen. Und zum Schluss hat sie … aber das ist doch verrückt.“

Das 'patent' hängt irgendwie ohne Fäden rum -- hat ja auch nix mit mit dem Lachen zu tun.
Das bezieht sich auf das Besorgen des Rollstuhls. Da gibt es ja einige praktische Probleme zu lösen. Kostenübernahme, Vertrag mit dem Sanitätshaus, Modellauswahl
Für eine Halo ungewöhnlich, die beziehen sich meist sofort auf den, der sie hat.
Interessant. Ich kenne mich da im Detail nicht aus, weiß nur, dass es so was gibt.
Da wirst du einige Lese-Erwartungen enttäuschen. Der Ton hier lässt ja auf eine nette Geschichte - ohne großen bösen Realismus - mit gutem Ende hoffen.
Das tut mir leid. Wenn die Erwartungshaltung der Leser in allen Dinge erfüllt wird, dann kann es auch schnell langweilig werden. Aber natürlich sollte so eine Wendung auch plausibel sein. Für mich ist sie das. Aber für den Leser? Ein bisschen nachgebessert habe ich noch, siehe oben.
Und sie räumt ein, es könnten Halos sein, was ja ein Ansatzpunkt für ihn sein könnte, ihr beistehen zu wollen.
Könnte es, ja, aber er ist durch das plötzliche Auftreten der Symptome der „Verrücktheit“ (erstmal) überfordert, zumal er ja gerade das Märchen Schneewittchen in besonderer Erinnerung hat. Für mich glaubhaft.
Teil zwei: weg damit. Ich habe unten geschaut, ob der Henry irgendeine Rolle spielt, tut er nicht. Wozu ihn hier einführen? Und es wird auch zu lang.
Hier wollte ich Hildegard als mitfühlende Beobachterin zeigen und ein paar Sympathiepunkte für sie einheimsen.
Ist mir nicht ganz klar, was du da machen wolltest -- einen versöhnlichen oder einen real-tragischen Text?
Für mich ist es ein versöhnlicher Text mit einem Touch magischem Realismus und Anklängen an das Märchen. @Morgoth hat meine Story in seinem Kommentar gut zusammengefasst. So ungefähr sollte sie meiner Vorstellung nach beim Leser funktionieren.

Grüße
Sturek

 

Stand von: Heute um 09:55

“ ...

Blackbird singing in the dead of night
Take these sunken eyes and learn to see
All your life, you were only waiting for this moment to be free ...“
(Lennon/McCartney)​

Nur eine Amsel hüpfte über den Rasen zu den Apfelbäumen.

Moin, @ Sturek,

fast hätte mich der reduzierende Wechsel zwischen Hildegard und ihrem „gehenden“und „spazierenden“ Blick

Hildegard saß am Fenster, wie sie es fast immer tat. Ihr Blick ging durch den Garten und verweilte bei den Apfelbäumen, die jetzt schon viele Blätter verloren hatten. An den Ligusterhecken vorbei spazierte er dann in den Park und die Pappelallee mit den gold-gelb gefärbten Blättern entlang.
rausgeworfen, dass ich den buchstäblichen Besitz des Rollstuhls – selbst wenn ich es vorzöge, eben diesen nicht brauchen zu müssen, was] aber dann einem patenten Mädchen gelingt
Jetzt besaß sie einen Rollstuhl. Den hatte ihre Schwiegertochter besorgt, die ein patentes Mädchen war.
(die „Versachlichung“ geschieht im Deutschen durch die Geschlechterrolle und die Verniedlichung der „Magd“ im „Mä[g]dchen“.

Die deutsche Sprachgeschichte wird sich nun mal nicht kurzfristig ändern lassen – außer wir täten es unsern niederländischer Nachbarn (de + het [„das“]) gleich dem "der" wird das r, dem "die" das i genommen ...

Als es klopfte, blickte sie auf ihre Uhr.
Fürchtet da jemand um die Eigentumsordnung?

Das musste Martin sein. Sie hatte schon auf ihn gewartet.
„Herein“, sagte sie.
Ich weiß ja schon, dass Du das „!“ durchaus verwendest, aber so’n bissken juckt’s mich immer noch in den Fingern …

Oder auch hier

„Hallo, Hilde. So, ...“
...
„Ja, Martin. Gerne.“

Hildegard unterdrückte ein Stöhnen und versuchte, das Stechen in ihrer Hüfte zu ignorieren.
Bei „versuchen“ immer aufpassen, weil sie oft ein etwas komplexeres Satzprädikat einleiten, dass durch ein schnödes Komma zerstört werden kann – wie eben hier zuvor „zu ignorieren versuchen“
Marlon war der Pfleger, der schon am längsten hier arbeitete.
Pfleger werden i. d. R. –
hab mehr als 20 Jahre in einem Krankenhaus gearbeitet, bild mir zumindest ein, das „Geschäft“ zu kennen -
durch kein schnödes „schon“ geehrt …
& so’n bissken juckt’s mich wieder in den Fingern!!!!, aber dann gleich als Betriebs-/Personalrat oder Mitarbeitervertreter

„Viel Spaß, Hildchen“, wünschte er noch.
Wiewohl ich weiß, dass es dem Wunsche auch nicht hilft ...

„Braver Hund“, lobte ihn Hildegard.

Es waren keine Leute zu sehen.
Aber vllt. doch ein Mensch?
Warum nicht schlicht „niemand“ oder „kein Mensch“, „keine Seele“ usw. usf. Wenn mich ein Verwaltungsfuzzi fragt, ob ich Kinder habe, kann ich getrost aus einer (keineswegs rotschinesischen) Einkindfamilie heraus ehrlicherweise nur mit „nein“ antworten ...

... sang aus voller Kehle: „Good bye Jonny , Good bye Jonny …“
wird der kleine nicht auch wie der große John (ja, es ist der Johan[nes] darinnen verborgen)

Hildegard konnte gar nicht anders, als mitzuklatschen.
Komma weg!

Während sie auf dem Waldweg nebeneinander her gingen, atmete Hildegard unwillkürlich tiefer.
m. E. ein verkürztes „hin- und hergehen

„Sei nicht albern*“, sagte sie.​
...
Pass auf, ich beweise es dir.*“​
„Mach die Augen zu*“, sagte Martin.
* vllt. ein "!"?


Schließlich kam es von hinten: „Du meinst, wie in [„,Schneewittchen und die sieben Zwerge?`“​

„Sag so was nicht*“, bat Hildegard. „Du hast es versprochen.“
(Dass es klappen kann, muss gar nicht erfleht werden:)

„Martin!“, flehte sie. „Glaub mir doch.“
„Ich glaub dir ja, Hilde*“, sagte Martin und …​


„Komm doch mal nachmittags.* Dann kann ich sie dir vielleicht zeigen“, sagte sie.

„Bis morgen, Hilde.*“​


Was?“[,]jetzt war Hildegard doch erschrocken.

Er gab den anderen ein Zeichen. „Wir versprechen es“, sagten nun alle im Chor.
!

Huy, mehr geworden als ich gedacht hab … gleichwohl: Gern gelesen vom

Friedel,

der noch ein schönes Wochenende wünscht!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @linktofink

Danke für deinen hilfreichen Kommentar und ich finde es toll, dass bei dir nach der Lektüre die Gedanken gesprudelt sind. Die Idee, das Ganze in einer Art Screw-Ball-Comedy zu erzählen, finde ich ausgezeichnet und das wäre eine eigene Geschichte wert. Das wäre aber auch eine völlig andere Geschichte.
Der Erzählstrang um den Kapitän reißt ab, das stimmt, aber wenn für seine Abkehr ein Grund zu erahnen ist, zum Beispiel dieses „Geheimwissen“, sollte der Leser das auch mehr nachvollziehen können. An der Schraube habe ich noch etwas gedreht. Mehr dazu weiter unten.

Warum nicht patente Schwiegertochter. Unnötiger Relativsatz.
Das patente Mädchen ist mehr Hildegards Perspektive
Ab und zu ... immer, ist mir nur direkt aufgefallen.
Ich denke, das ist nicht falsch
Stellt sich direkt die Frage: Tut er das regelmäßig? Wovon hängt das ab, ob er kommt?
Das kann Hildegard nicht voraussehen. Er kommt, wenn er Lust dazu hat.
Oder könntest du ev. Masturbation meinen?
Genau. Das ist gemeint.
und ignorierte das Stechen in ihrer Hüfte? Wenn du etwas ignoriert, verschwindet es ja nicht, es ist immer noch da, du weigerst dich nur, das wahrzunehmen.
Sehr scharfsinnig bemerkt. Statt ignorieren ausblenden? Ich glaube, das geht.
die Bezeichnung Mumienschlafsack ist sehr geläufig, daher kann das "nannte sie ihn für sich" weg
Für Camping-Freunde und Outdoorfreaks vielleicht, aber Allgemeingut? Da habe ich meine Zweifel.
Boah, diese Verniedlichung, Hildchen, das klingt für mich wie Kindchen,
Ja, das klingt zunächst übergriffig, aber so habe ich es schon in einem Pflegeheim gehört. Es kann auch ein Zeichen für ein vertrautes Verhältnis zwischen Patient und Pfleger sein.
? Ist doch niemand da.
Genau, das ist ja der Witz.
würziges Aroma, bei Aroma bin ich als erstes bei Zusatzstoffen für Lebensmittel,
Aroma kann durchaus als Synonym für Duft durchgehen. Duftlampe, Aromatherapie …
Was gab es da schon Lohnenswertes zu erzählen? Ich finde Relativsätze mit der, die, das oft entbehrlich.
Wäre eine Möglichkeit, aber Relativsätze haben für mich auch mit ruhigem Auserzählen zu tun.
Da kommt das Zögern für mich zu wenig an.
Heute nicht. Morgen ..., vielleicht morgen“, wehrte Hildegard ab.
Ein paar Auslassungspunkte kann ich noch spendieren
Meine Lesart: Im Text geht es um Liebe und Tod, die klassischsten und für unser Leben wichtigsten Motive überhaupt und zugleich unvereinbare Antipode. Die Zwerge dienen einerseits als Überbringer der Todesnachricht, andererseits allein durch ihre Existenz als Beender der romantischen Episode.
Die Lesart trifft es auch, finde ich.
Dienlicher für die Geschichte fände ich, wenn der Kapitän sich allein durch die Erwähnung der Zwerge zurückzieht, weil er weiß, was "Zwergesehen" bedeutet. Eine Art Geheimwissen. Dass er vor Hilde weiß, dass es Todesboten sind und ergo ihr Tod in sehr naher Zukunft bevorsteht, was für ihn ein Schock sein müsste.
Ich habe noch einen Halbsatz eingefügt, der in diese Richtung geht. Dadurch soll der Leser vermuten können, dass der Kapitän die Zwerge mit dem Tod in Verbindung bringt. Der Kapitän sagt jetzt an der Stelle mit seiner Oma: Komisch, jetzt wo ich drüber nachdenke: Als wollte sie es mir einbläuen. Und zum Schluss hat sie … aber das ist doch verrückt.“
Vielleicht reicht die Andeutung ja schon, um ein klareres Bild über die Reaktion des Kapitäns zu bekommen.
Für die Stelle seid ihr beide, @FlicFlac und du, verantwortlich.;)


Doch auf motivlicher Ebene sehe ich das kritischer. Momentan ist das Verhältnis sehr ungleich. Er der Macher, der entscheidet, sie das Heimchen, das folgt, klassische Rollenverteilung unserer Elterngeneration.
Hildegard ist nun mal die passive Beobachterin, welche die Welt wie hinter Glas wahrnimmt. Sie ist fasziniert von der lebendigen, kraftvollen Art des Kapitäns, ist aber selbst nicht der aktive Teil. Da ergibt sich das ungleiche Verhältnis wie von selbst.
Ein bisschen hast du das drin: "Wäre sie ein paar Jährchen jünger und nicht im Heim, ja dann – wäre sie nicht abgeneigt gewesen, etwas mit ihm anzufangen."
Nicht nur das. Der Kapitän kommt sehr oft zu ihr und Hildegard ahnt/hofft, dass da mehr dahinter steckt.
Er ist ein Haudrauf, rüstig und fünf Jahre jünger, sie ist schüchtern, wie hinter Glas.
Sehr gut. Das trifft es doch. Genau so sollte der Leser sie wahrnehmen. Und liegt nicht Schneewittchen nach ihrem Tod in einem Glassarg?
Was verspricht er sich ernsthaft von einer älteren, gebrechlichen Frau, die pflegebedürftig ist und im Rollstuhl sitzt? Welche Qualitäten außer Singen und Nett sein hat sie anzubieten, die ein Verliebtsein erklären könnten?
Ich halte dagegen: Verliebtsein kann man nicht erklären. Da kommt einfach vieles zusammen. Aus meiner Verwandtschaft kenne ich den Fall, dass sich ein Pärchen in Hildegards Alter gefunden hat. O-Ton: „Die Liebe hat eingeschlagen wie ein Blitz.“ Für Jüngere vielleicht schwer vorstellbar, aber so ist es. Die Frau war übrigens schwer gehbehindert.
Ich finde es momentan etwas ungeschickt, dass der Zwergenanführer anfangs kurz apfelessend auftaucht und dann für die Zeit des Ausflugs komplett verschwindet. Ich lese das als Leerstelle im Text und frage mich zwischendurch, warum du den eingeführt hast.
Auch Leerstellen können doch spannend sein, so nach dem Motto: Wann geht es denn endlich mit den Zwergen weiter? Und zu lange werden die Leser doch nicht auf die Folter gespannt.

Grüße
Sturek

Nachtrag:
Habe auch noch an einer zweiten Stellschraube gedreht, an der Stelle, wo sich der Kapitän von Hildegard verabschiedet, damit er etwas mitgenommener wirkt.

 

Hey @Sturek,
irgendwie sind das zwei Geschichten in einer oder die Geschichte über die Beziehung von Hilde und Martin wird eingerahmt von den Zwergen. Ich hatte mich ehrlich gesagt auf Beziehung im Alter gefreut ... aber dann kams ja anders ... aber ich guck mal, was ich so rauszitiert habe:

Aber auch, wenn sie nicht mehr gekommen wäre, hätte Hildegard sich nicht allein gefühlt. Gerade eben zeigte sich wieder einer, da unter dem Apfelbaum. Er suchte sich einen übriggebliebenen Apfel, einen schönen großen, roten, und biss hinein. Dass eine Amsel ihn schon angepickt hatte, schien ihm nichts auszumachen. Hildegard lächelte. Immer hatte er Hunger. Sie selbst mochte keine Äpfel. Jetzt spürte er wohl ihren Blick, denn er drehte sich um, sah zu ihr und winkte.
Ein putziges Kerlchen war das. Es hatte ein pausbäckiges Gesichtchen mit einer roten Knollennase. Es war Tom, der Anführer der Zwerge.
Der Text erzählt ziemlich gerade heraus, was Sache ist. Nur hier, finde ich, versucht der Erzähler mMn künstlich Spannung zu erzeugen, indem er erst nach ein paar Zeilen sagt, wer "er" ist, der sich unter dem Apfelbaum zeigt. Finde ich überdenkenswert, mich hat es genervt, weil ich kurz nicht orientiert war und ich nicht verstanden hab (außer eben um künstlich Spannung zu erzeugen), warum ich so um Dunkeln gelassen werde.

Gelegentlich hatte sie sich sogar mit den Gedanken an ihn berührt und sich hinterher eine dumme Gans gescholten.
Hier hatte ich die Hoffnung auf eine Beziehung und Sex im Alter Geschichte ... hat sich dann nur so mittel erfüllt ...

Nachdem sich Hildegard hineingesetzt hatte, zog er den Reißverschluss an dem Sack zu – den Mumiensack nannte sie ihn für sich – setzte ihr noch die Kapuze auf und wickelte einen Schal um ihren Hals.
Naja, aber so einen Eindruck macht sie bisher nicht, dass er ihr auch noch den Schal um den Hals wickeln muss

„Auf zur Polarexpedition, Hildchen?“
Fand ich sehr merkwürdig und distanzlos, dass der Pfleger sie Hildchen nennt. Finde es ungewöhnlich, dass die Bewohner geduzt werden (aber was weiß ich schon), aber dann auch noch die Verniedlichung, besonders weil er es dann noch einmal wiederholt.

„Es ist so still. Wollen wir was singen?“, schlug Martin vor.
„Warum nicht?“ Es waren keine Leute zu sehen. Wenn welche da waren, genierte sich Hildegard, aber heute war ein guter Tag zum Singen.
Ist wahrscheinlich total realistisch. Erinnert mich an diese Seniorentreffs, wo gemeinsam gesungen wird. Gibts sowas noch?

„Das soll ein Kuss gewesen sein? Hast du mit deinen Jahren nicht gelernt, wie es geht?“
:lol:

„Das geht mir jetzt aber zu schnell.“
„Na ja, sooo viel Zeit haben wir ja nicht mehr, oder?
Ja, stimmt!

Es stimmte. Wieder einmal hatte sie Martin das Reden überlassen. Er konnte so interessant erzählen. Aber sie selbst? Was gab es da schon, das zu erzählen sich lohnte? Doch, es gab etwas. Sie wollte vor Martin keine Geheimnisse haben. Nicht nach dem, was gerade geschehen war.
Das hab ich nicht so richtig gekauft. ZUm einen, weiß ich nicht so genau, ob sie nun von den Zwergen erzählt, weil sie denkt, sie hätte sonst nichts interessantes zu sagen oder weil sie vor Martin keine Geheimnisse haben will. Ich weiß auch nicht, ob ich den Kuss (nachdem was geschehen war) so hoch hängen würde ...

Für mich schwächelt der Schluss. Martin zieht sich zurück, weil er denkt, sie ist vermutlich altersschwächemäßig durchgeknallt. Alle anderen Altersssymptome haben ihn doch auch nicht abgeschreckt. Also seine Motivation, warum er jetzt so abweisend wird, die hat sich mir nicht erschlossen (schon klar, es ist Hildes Perspektive). Und dass dann noch mal im Schnelldurchgang die Begegnung mit den Zwergen erinnert wird usw. und dann kommt raus, sie stirbt bald. Das ist schon tragisch, weil sie doch gerade erst Martin und so ... andererseits ist Martin ja auch schon wieder raus, von daher vielleicht doch nicht so tragisch, aber Themawechsel zu Angst vor dem Sterben (aber mal nur so ganz kurz) ... ja, der Schluss erscheint mir nicht ganz rund. Ansonsten liest sich die Geschichte flüssig und ich bin gut durchgerutscht.

Viele Grüße
Katta

 

Hallo @Friedrichard

Danke für dein gründliches Lektorat und auch für die Worte von Lennon/McCartney. "Death of night", das passt und lässt die Rolle der Amsel als Todesbote in früheren Zeiten erahnen.

Es ist ja nahezu unglaublich, was du noch alles gefunden hast. Das meiste habe ich jetzt korrigiert, nur ein paar Sachen so gelassen. Das ist dann einfach eine Sache des persönlichen Geschmacks. Selbstverständlich spendiere ich dem Text auch noch ein paar Ausrufungszeichen!

Als es klopfte, blickte sie auf ihre Uhr.
Fürchtet da jemand um die Eigentumsordnung?
Es soll nicht irgendeine Uhr im Raum sein.
Es waren keine Leute zu sehen.
Aber vllt. doch ein Mensch?
Warum nicht schlicht „niemand“ oder „kein Mensch“, „keine Seele“ usw. usf.
"Leute" ist mehr die Ausdrucksweise Hildegards. Auf die Leute bezieht sich auch der nächste Satz.
Während sie auf dem Waldweg nebeneinander her gingen, atmete Hildegard unwillkürlich tiefer.
m. E. ein verkürztes „hin- und hergehen
Meiner Meinung nach gehört das „her“ hier mehr dem „nebeneinander“.

Vielen Dank nochmal und einen schönen 2. Advent!
Sturek

 

Hallo @Katta

Danke fürs Lesen und deine nützlichen Hinweise.
Also ich sehe die Zwerge und die Motive aus dem Märchen wie einen Rahmen um die Geschichte zwischen Hildegard und Martin. Die Zwerge spielen allerdings auch eine entscheidende Rolle, weil ihre Erwähnung zu dem Ende der Beziehung führt. Auch in Martins Vergangenheit tauchen sie auf. Die Figur, um die sich alles dreht, ist „Schneewittchen“.

Nur hier, finde ich, versucht der Erzähler mMn künstlich Spannung zu erzeugen, indem er erst nach ein paar Zeilen sagt, wer "er" ist, der sich unter dem Apfelbaum zeigt. Finde ich überdenkenswert, mich hat es genervt, weil ich kurz nicht orientiert war und ich nicht verstanden hab (außer eben um künstlich Spannung zu erzeugen), warum ich so um Dunkeln gelassen werde.
Ich finde, ein kleiner Spannungsbogen ist selten verkehrt, aber ich schau mir die Stelle nochmal an.
Hier hatte ich die Hoffnung auf eine Beziehung und Sex im Alter Geschichte
Ja, ich hatte tatsächlich überlegt, hier noch weiter zu gehen, aber erstens hätte das den Charakter der Story in eine andere Richtung verschoben und zweitens finde ich es auch extrem schwierig, über Sex im Alter angemessen in einer Geschichte zu schreiben.
Fand ich sehr merkwürdig und distanzlos, dass der Pfleger sie Hildchen nennt.
Distanzlos ist es nun gerade nicht. Doch eher das Gegenteil. Nach meiner Erfahrung handhaben das die Pflegekräfte sehr unterschiedlich, je nachdem, was sie für ein Verhältnis zu den Bewohnern aufbauen können. Das klingt erstmal übergriffig, muss es aber nicht sein.
Erinnert mich an diese Seniorentreffs, wo gemeinsam gesungen wird. Gibts sowas noch?
In meiner Stadt gibt es einen Chor, der fast nur aus Seniorinnen besteht.
ZUm einen, weiß ich nicht so genau, ob sie nun von den Zwergen erzählt, weil sie denkt, sie hätte sonst nichts interessantes zu sagen oder weil sie vor Martin keine Geheimnisse haben will. Ich weiß auch nicht, ob ich den Kuss (nachdem was geschehen war) so hoch hängen würde ...
Na, vielleicht ist Martin ein ganz toller Küsser. Es stimmt beides, sie will aus der Zuhörerrolle raus und vor Martin keine Geheimnisse haben. Eventuell muss ich da ein „auch“ spendieren.

Also seine Motivation, warum er jetzt so abweisend wird, die hat sich mir nicht erschlossen (schon klar, es ist Hildes Perspektive).
Ich hatte da ja nochmal nachgebessert und angedeutet, dass die Oma von Martin kurz vor ihrem Tod etwas Ähnliches erlebt haben könnte. Beim Abschied wirkt Martin jetzt auch mehr verstört als herzlos, so jedenfalls meine Hoffnung.
andererseits ist Martin ja auch schon wieder raus, von daher vielleicht doch nicht so tragisch, aber Themawechsel zu Angst vor dem Sterben (aber mal nur so ganz kurz)
Ja, Martin ist raus. Der dritte Frühling von Hildegard hat nicht lange gedauert. Das Ende wollte ich nicht auswalzen, sondern nur noch einmal den Bezug zum Märchen herstellen. Andernfalls ginge für meinen Geschmack auch etwas die Wirkung verloren.


Einen schönen 2. Advent!
Sturek

 

Hallo @Sturek,

ich habe eine Vorliebe für Märchen und war neugierig auf dein Schneewittchen.
Leider fehlt mir die Zeit, um alle Kommentare zu lesen (werde ich noch nachholen), deshalb kann ich mit meinem Leseeindruck auch daneben liegen.
Ältere Menschen werden bekanntlich Kindern immer ähnlicher, kann ich bestätigen, ich tauche zu gerne in die Fantasien meiner Enkelinnen mit ein.
Kinder schaffen sich imaginäre Freunde, wenn sie Probleme, Ängste … haben.
Brunhilde ist in einem Alter, in dem die Realität des Sterbens näher rückt, für mich hat sie tolle Begleiter für diese letzte Reise gefunden.


Aber auch, wenn sie nicht mehr gekommen wäre, hätte Hildegard sich nicht allein gefühlt.
Das sagt viel über ihre Verhältnis aus.
Wäre sie ein paar Jährchen jünger und nicht im Heim, ja dann – wäre sie nicht abgeneigt gewesen, etwas mit ihm anzufangen. Gelegentlich hatte sie sich sogar mit den Gedanken an ihn berührt und sich hinterher eine dumme Gans gescholten.
Schön!
hatte es gern, wenn sie ihn mit Kapitän anredete. Trotzdem sagte er: „Du sollst mich doch Martin nennen, einfach Martin, okay?“
„Aye, Aye, Käpt’n.“
Ist mir zu wiedersprüchlich.
Ich habe in Wirklichkeit nicht für die gesungen, sondern nur für dich“,
Wer ist „die?“
Nur das Glas des Fensters trennte Hildegard von der Szenerie dort draußen. War es nicht schon immer so gewesen? Sie hatte sich ihr ganzes Leben hindurch so gefühlt – als Beobachterin, die durch ein dünnes Glas von der Wirklichkeit getrennt war, magisch angezogen von allem, was lebhaft und kraftvoll war. Das waren auch genau die Eigenschaften, die sie an sich nur allzu oft vermisste, die sie gebraucht hätte, um das Glas zu zerschlagen.
Ist es nicht so, dass man gegen Lebensende oft in der Vergangenheit lebt, darüber nachdenkt?
Gefühlt war sie schon zu Lebzeiten in einem Glassarg, sah alles, hörte alles und hat nie richtig gelebt.
Keine Ahnung, ob du mit meinen Gedanken etwas anfangen kannst? Ich konnte es mit deiner Geschichte, sie hat mir sehr gut gefallen.

Ich wünsche dir noch eine schöne Adventszeit.
Liebe Grüße CoK

 

Hallo @CoK

Vielen Dank für deinen Kommentar und die Anregungen. Mit deinen Gedanken konnte ich viel anfangen.

Ein richtiges Märchen ist es nicht geworden, aber doch zumindest eine Geschichte mit märchenhaften Elementen. Das Auftauchen der Zwerge wollte ich etwas in der Schwebe zwischen Einbildung und (magischer) Realität halten. Als imaginäre Freunde, ähnlich wie Kinder sie sich erschaffen, kann man sie sicher sehen – die Interpretation gefällt mir.

hatte es gern, wenn sie ihn mit Kapitän anredete. Trotzdem sagte er: „Du sollst mich doch Martin nennen, einfach Martin, okay?“
„Aye, Aye, Käpt’n.“
Ist mir zu wiedersprüchlich.
Das mit "Martin" und dem "Kapitän" war als kleine liebevolle Kabbelei zwischen den beiden gedacht. Es kann da ruhig Widersprüchliches geben, finde ich. Jeder weiß vom anderen, wie es gemeint ist.
Ich habe in Wirklichkeit nicht für die gesungen, sondern nur für dich“,
Wer ist „die?“
Mit „die“ sind die Bäume gemeint, vor denen sich der Kapitän gerade verbeugt hat, weil sie ihm mit ihren Blättern rauschenden Applaus gespendet haben. Ich hoffe, das ist nicht zu rätselhaft.
Ist es nicht so, dass man gegen Lebensende oft in der Vergangenheit lebt, darüber nachdenkt?
Gefühlt war sie schon zu Lebzeiten in einem Glassarg, sah alles, hörte alles und hat nie richtig gelebt.
Damit hast du es auf den Punkt gebracht.
Also mir kam diese Stelle mit dem Glassarg, in dem Schneewittchen von den Zwergen bewacht wird, immer merkwürdig vor. Vordergründig kann dadurch ihre Schönheit nach außen wirken und auch einen Prinzen beeindrucken. Aber ich dachte beim Schreiben ganz ähnlich wie du. Dieser Glassarg kann als Sinnbild für etwas ganz anderes angesehen werden. Also hatte ich Hildegard als Beobachterin angelegt.

Ich wünsche dir auch eine schöne Adventszeit!
Sturek

 

Hallo Sturek,
eine tröstliche Vorstellung ist das, dass am Ende sieben Zwerge erscheinen und einen hinübergeleiten. Martin begreift, dass ihr Erscheinen den nahenden Tod ankündigt, es macht seine Hoffnung auf eine späte Liebesgeschichte zunichte. Das Thema "Einsamkeit" schwingt da sehr für mich mit.

Hildegard saß am Fenster, wie sie es fast immer tat. Ihr Blick ging durch den Garten und verweilte bei den Apfelbäumen, die jetzt schon viele Blätter verloren hatten. An den Ligusterhecken vorbei spazierte er dann in den Park und die Pappelallee mit den gold-gelb gefärbten Blättern entlang. Ihr Blick konnte das alles, sie selbst inzwischen nicht mehr. Jetzt besaß sie einen Rollstuhl. Den hatte ihre Schwiegertochter besorgt, die ein patentes Mädchen war. Wenn sie ab und zu kam, gab es immer viel zu lachen.
Schöner Einstieg, der in wenigen Sätzen ihre Situation gut umreißt.
Gerade eben zeigte sich wieder einer, da unter dem Apfelbaum.
Gefällt mir auch, die Irritation.
etzt spürte er wohl ihren Blick, denn er drehte sich um, sah zu ihr und winkte.
Ein putziges Kerlchen war das. Es hatte ein pausbäckiges Gesichtchen mit einer roten Knollennase. Es war Tom, der Anführer der Zwerge. Seinen richtigen Namen hatte er ihr genannt, aber sie konnte ihn nicht aussprechen.
Und hier gucke ich nochmal nach, ob ich bei "Märchen" gelandet bin. "Seltsam" passt.
„Na, Lust auf einen kleinen Spaziergang, Hilde?“, fragte er hoffnungsvoll.
Adjektive, die noch einmal genau das ausdrücken, was die wörtliche Rede schon sagt, sind entbehrlich.
Auch ihm fiel das Gehen schwer – er war nur fünf Jahre jünger als sie – und er benutzte einen Gehstock, aber wenn er ihren Rollstuhl schob, konnte er sich daran festhalten.
Sehr schön beobachtet, auch typisch, ich sehe die beiden schon gut vor mir.
„Auf zur Polarexpedition, Hildchen?“
Ihr fiel nichts Geistreiches ein, deswegen nickte sie nur. Wieder einmal verwünschte sie sich wegen ihrer fehlenden Schlagfertigkeit.
Marlon wartete einen Moment und als nichts kam, hastete er weiter. „Viel Spaß, Hildchen“, wünschte er noch.
Oje, ob vierzehn Jahre, oder fast achtzig, manche Themen bleiben gleich. Das "HIldchen" ist nicht mehr so ganz zeitgemäß, oder? Zumindest ist man da heute meist ein bisschen vorsichtiger damit, Heimbewohner zu duzen und dann noch zu verniedlichen, auch wenn die Versuchung ja da ist.

Sie waren am Waldrand angelangt und Martin hörte auf zu singen und verbeugte sich vor dem Wald. Er lüftete seine Kapitänsmütze, deutete mit einer theatralischen Geste auf das imaginäre Orchester, das ihn begleitet hatte. Die Bäume spendeten rauschenden Applaus. Hildegard konnte gar nicht anders als mitzuklatschen.
„Martin, heut hast du dich selbst übertroffen“, meinte sie.
Ja,das ist sehr puschelig. Passt aber auch zu den Zwergen.

Es stimmte. Wieder einmal hatte sie Martin das Reden überlassen. Er konnte so interessant erzählen. Aber sie selbst? Was gab es da schon, das zu erzählen sich lohnte? Doch, es gab etwas. Außerdem wollte sie vor Martin keine Geheimnisse haben. Nicht nach dem, was gerade geschehen war.
„Wenn du mir versprichst, dass du es niemandem weitererzählst und auch nicht lachst, dann vertraue ich dir etwas an“, sagte sie. „Etwas, das ich bis jetzt noch keinem gesagt habe.“
Du zeichnest sie als Frau, die sich selber immer eher uninteressant und farblos gefunden hat, im Gegensatz zu dem Kapitän. Und so motivierst du auch unter anderem, dass sie ihm das jetzt erzählt. Tragisch, dass das Aufregende, was sie zu erzählen hat, nicht zu mehr Nähe führt, so wie sie sich das gewünscht hat, sondern, im Gegenteil dazu, dass er sich distanziert.
„Ja, meine Oma hat mir ausgerechnet dieses Märchen früher immer und immer wieder vorgelesen. Komisch, jetzt wo ich drüber nachdenke: Als wollte sie es mir einbläuen. Und zum Schluss hat sie ... aber das ist doch verrückt.“
Ich glaube, hier hast du noch nachgelegt, um deutlicher zu machen, warum er jetzt ihren nahenden Tod ahnt. Für mich hätte es das nicht unbedingt gebraucht. Zumal es jetzt so wirkt, als ob die Zwerge vielen (Frauen?) erscheinen, während es vorher ihre eigene Welt war.
„Ich glaub dir ja, Hilde“, sagte Martin und setzte den Rollstuhl wieder in Bewegung.
Den Rest des Weges über war er einsilbig und es kam trotz ihres Bemühens kein richtiges Gespräch zustande. Zurück in ihrem Zimmer half er ihr aus dem Rollstuhl.
„Morgen um die gleiche Zeit?“, fragte er in munterem Ton.
Sie nickte. „Komm doch mal nachmittags. Dann kann ich sie dir vielleicht zeigen“, sagte sie.
„Wir reden morgen weiter.“ Der Kapitän machte Anstalten zu gehen.
„Bekomme ich keinen Abschiedskuss?“
Ja, wirklich sehr traurig. Verständlich, dass er das erstmal verdauen muss, aber bitter, diese Fremdheit jetzt, wo vorher eine große Vertrautheit war.
Die Frau, die ihr am Tisch gegenübersaß, hielt mit einer Hand einen großen Teddybären auf dem Schoß fest, während sie ihre Suppe löffelte. Hildegard glaubte sich zu erinnern, dass die Frau Elke hieß.
Plötzlich sagte die Frau: „Sie sind niedlich, nicht wahr?“
Hildegard erstarrte. „Wie bitte?“, fragte sie. Doch die Frau schwieg und streichelte nur unentwegt den großen Teddy
Die Szene mag ich sehr. Auch, dass man nicht genau weiß, wen die Frau meint.
Das Abendessen brachte der junge Pfleger Henry ins Zimmer. Später half er ihr im Bad, bevor sie sich wieder ins Bett legte. Henry gab sich wie immer viel Mühe mit ihr. Sie kannte ihn noch als Azubi und er hatte sie für seine praktische Prüfung ausgewählt. Sie glaubte nicht, dass er es hier lange aushalten würde. Er hatte so traurige Augen.
Hier hast du auch mehr Details hinzugefügt, meine ich. Das passt gut in die Geschichte.
„Darf ich?“, fragte er und ohne ihre Zustimmung abzuwarten, griff er schon nach einem der belegten Brote, die vom Abendessen noch übrig waren.
Hildegard sah zu, wie Tom das Brot in sich hineinschlang.
„Du wirst bald sterben“, sagte er zwischen zwei Bissen.
„Das weiß ich doch“, sagte Hildegard.
„Ich meine sehr bald. Wahrscheinlich nächste Woche schon.“
Toll, die Kombination, von gierigem Zwerg, so ganz lebendig, und der lakonischen Nachricht.
„Das weiß ich nicht“, sagte Tom.
Nein, alles weiß er auch nicht, dachte Hildegard.
Ein gutes Ende, finde ich.

Tja, warum ausgerechnet die Zwerge aus Schneewittchen, ob es etwas mit ihrem Lebensthema zu tun hat, du deutest da eine Zurückgezogenheit an, dass ist so ein Gedanke.

Sie hatte sich ihr ganzes Leben hindurch so gefühlt – als Beobachterin, die durch ein dünnes Glas von der Wirklichkeit getrennt war, magisch angezogen von allem, was lebhaft und kraftvoll war. Das waren auch genau die Eigenschaften, die sie an sich nur allzu oft vermisste, die sie gebraucht hätte, um das Glas zu zerschlagen.
Vielleicht geht es auch um "ungelebtes Leben", eben einmal die Seiten, die sie nicht ausleben konnte und am Ende diese Liebe, für die keine Zeit mehr bleibt.

Eine originelle, nachdenkliche Geschichte mit sympathischen Protagonisten.

Liebe Grüße von Chutney

P.S. Das Thema, dass der Tod in verschiedenen Gestalten erscheint finde ich nach wie vor genial umgesetzt von @Peeperkorn
https://www.amazon.de/Halt-mir-nur-still-Totentanz/dp/390690749X

 

Hallo @Chutney

Vielen Dank für deine ausführliche Kritik und deinen Leseeindruck. Es stimmt, in der Story geht es auch um Einsamkeit, natürlich ein wichtiges Thema im Alter. Vielleicht hat Hildegard sich deshalb die Zwerge herbeifantasiert. Vielleicht steckt auch etwas anderes, Seltsames dahinter. Das wollte ich in der Schwebe lassen. Dann kommt es zu der Annäherung zwischen ihr und dem Kapitän, aber es ist schon zu spät.

Ich gehe mal im Einzelnen auf einige deiner Anmerkungen ein.

Adjektive, die noch einmal genau das ausdrücken, was die wörtliche Rede schon sagt, sind entbehrlich.
Klar ist das Adverb hier entbehrlich. Ich habe es trotzdem angewendet, um mehr in den Gedanken Hildegards zu sein. Sie weiß, dass er auf einen Spaziergang hofft. Die wörtliche Rede kann das nicht richtig ausdrücken.
Das "HIldchen" ist nicht mehr so ganz zeitgemäß, oder? Zumindest ist man da heute meist ein bisschen vorsichtiger damit, Heimbewohner zu duzen und dann noch zu verniedlichen, auch wenn die Versuchung ja da ist.
Ich habe es selbst so im Heim gehört. Das ist noch gar nicht so lange her. Ich will es erstmal so lassen, schon, um anzudeuten, dass im Heim nicht immer alles so vorsichtig und korrekt abläuft, wie man es sich vorstellt.
Du zeichnest sie als Frau, die sich selber immer eher uninteressant und farblos gefunden hat, im Gegensatz zu dem Kapitän. Und so motivierst du auch unter anderem, dass sie ihm das jetzt erzählt.
Schön, dass du es so empfunden hast. Das war auch meine Vorstellung beim Schreiben.
„Ja, meine Oma hat mir ausgerechnet dieses Märchen früher immer und immer wieder vorgelesen. Komisch, jetzt wo ich drüber nachdenke: Als wollte sie es mir einbläuen. Und zum Schluss hat sie ... aber das ist doch verrückt.“
Ich glaube, hier hast du noch nachgelegt, um deutlicher zu machen, warum er jetzt ihren nahenden Tod ahnt. Für mich hätte es das nicht unbedingt gebraucht. Zumal es jetzt so wirkt, als ob die Zwerge vielen (Frauen?) erscheinen, während es vorher ihre eigene Welt war.
Ja, an der Schraube habe ich noch etwas gedreht und auch die Abschiedsszene mit dem Kapitän im Heim leicht verändert. Einige Kommentatoren hatten vorher angemahnt, die Gründe für die plötzliche Abkehr des Kapitäns seien nicht nachvollziehbar. Konnte ich nachvollziehen.
Die Großmutter hatte auch vorher schon eine besondere Beziehung zu dem Märchen. Es gibt eine seltsame Verbindung zwischen dem Kapitän, dessen Großmutter, den Zwergen und Hildegard. Das muss also nicht unbedingt bedeuten, dass die Zwerge nun auch vielen anderen Frauen vor ihrem Tod erscheinen. Finde ich zumindest.

Ja, wirklich sehr traurig. Verständlich, dass er das erstmal verdauen muss, aber bitter, diese Fremdheit jetzt, wo vorher eine große Vertrautheit war.
Ja, bitter und hoffentlich wirkt jetzt der Kapitän auch mehr verstört als herzlos. Vielleicht überlegt er es sich ja noch.
Hier hast du auch mehr Details hinzugefügt, meine ich. Das passt gut in die Geschichte.
Nein, das habe ich so gelassen, obwohl es manchen Kritikern zu viel war. Na ja, allen kann man es nicht recht machen.
Tja, warum ausgerechnet die Zwerge aus Schneewittchen, ob es etwas mit ihrem Lebensthema zu tun hat, du deutest da eine Zurückgezogenheit an, dass ist so ein Gedanke.
Das hat etwas damit zu tun, dass in dem Märchen Schneewittchen nach ihrem Tod von den Zwergen bewacht in einem Glassarg liegt. Der Glassarg ist, finde ich, ein schönes Bild für Menschen, an denen das Leben vorbeigeht. Deine Gedanken treffen es.
Eine originelle, nachdenkliche Geschichte mit sympathischen Protagonisten.
Das freut mich.
P.S. Das Thema, dass der Tod in verschiedenen Gestalten erscheint finde ich nach wie vor genial umgesetzt von @Peeperkorn
Danke für den Buchtipp. Das klingt ja interessant. Vielleicht kommen da auch Zwerge vor? Muss ich mir unbedingt ansehen.

Vorweihnachtliche Grüße
Sturek

 

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