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Dieser Text basiert auf einem tatsächlichen Fall aus dem Jahr 1971, der im Rhein-Sieg Kreis geschah und überregionale Bekanntheit erlangte (bis in die USA). Der Rest ist fiktiv.
Schnee in Much
… das ist schon so lange her, ich weiß, sehr lange, aber … auch nach all den Jahren, Jahrzehnte sind das ja mittlerweile, glaub ich, ja, ja doch, Jahrzehnte … da lässt mich das immer noch nicht los, ich kann das einfach nicht vergessen, ich kanns einfach nicht, das ist … und, tja, wo soll ich da anfangen? Winter 71’, das war ein kalter Winter, viel Schnee und viel Nebel, so weit ich mich erinnern kann. Nein, kalt wars, bitterkalt, und auch neblig, man hat kaum was sehen können, so viel Nebel, durch den Nebel, ja …
… damals, da hab ich noch bei der KT in Troisdorf gearbeitet, die hatten ja gerade in der Poststraße auf zwei Stockwerke erweitert, die Produktion lief ja, Wirtschaftswunder, so war das … gutes Geld hab ich da verdient, und auch wieder ausgegeben. Kalt wars, also daran kann ich mich sehr genau erinnern, kalt und viel Nebel und … ich war verheiratet … glücklich ist jetzt die andere Sache. Eigentlich nicht. Nie. Das war so eine Sache - so hat man das eben gemacht. Ich bin in Scheidt aufgewachsen, das ist ein kleines Dorf vor Much, eine Straße nur, im Grunde, paar Häuser … und so, so war das. Das ergibt sich einfach, das suchst du dir nicht aus. Ich hab die Gitta geheiratet, das war 68’, in dem Jahr war ja viel los, hier, Rudi Dutschke und so, aber davon wussten wir ja gar nichts, da hat man fast nix von mitbekommen, wir haben da vielleicht mal was in der Zeitung gelesen … aber, die weite Welt war das eben nicht, und so richtig verstanden … na ja. Wir sind ja gleich um die Ecke gezogen, Steinwurf von meinem Elternhaus, und was will man da machen? Da guckt dir jeder ins Küchenfenster. Du konntest nicht mal auf deinem eigenen Balkon einen schmutzigen Witz erzählen, das ging nicht, da waren die Ohren überall. Und hast du mal fünf Flaschbier getrunken, da wusste das die ganze Nachbarschaft, dein eigener Vater wusste das! Also, ich frage Sie, wie sollte das schon enden?
… die Doris hab ich dann in einer Kneipe kennengelernt, ganz blöd. War so, ich weiß nicht … wir waren einfach was trinken, Kollegen und ich, nach der Arbeit, die gingen immer in so eine Kneipe unten an der Sieg, das Alpenhäuschen, so hieß das, gibt es schon lange nicht mehr, und da saß sie an der Theke, gleich neben uns. Ich war das erste Mal mit, ich hatte es nicht so mit dem Weggehen, und meine Kollegen waren auch alle ein paar Jahre älter als ich. Jedenfalls saß sie da, und … sagen wir, ich wusste, sie war jung - zu jung im Grunde, das wusste ich natürlich, aber wie das so ist … drei, vier, fünf Kölsch und dann vergisst man das eben, man vergisst das ziemlich schnell. Das war erstmal alles ganz unschuldig, flirten und Blicke, was man so macht, unbeholfen und schüchtern, ich war nie so der Aufreißer, ich meine, warum auch? Das brauchte ich ja nicht. Ich war ja verheiratet, da brauchte ich das nicht, dachte ich … ich hab mich da nie so groß drum gekümmert, die Gitta kannte ich ja schon ewig, quasi aus dem Sandkasten, da denkt man über so was gar nicht nach, man ist dann zusammen und dann Ende, aus. Und, ich hab mich gar nicht getraut, ich hab mich gar nicht getraut, sie anzusprechen, also zuerst, aber dann … wir wurd richtig heiß und kalt, und natürlich guckten auch die Kollegen … ich hab sie dann nur gefragt, ob sie öfters da ist, in dieser Kneipe, und … Nein, die Sache mit der Doris, die ist ja ganz wichtig, denn nur deswegen … aber was rede ich hier eigentlich? Natürlich, so wars, da hat sich dann was draus entwickelt, ich bin noch mal hin, und noch mal, natürlich alleine, und was soll ich sagen? Klar hab ich meine Frau betrogen, ich hab meine Frau betrogen vom Punkt Eins an, das ist die Wahrheit. Aber da war ja auch nix, von Anfang an, nix, Sie wissen schon, was ich meine, ja? Bei der Doris … da war das eben anders, da war das, da war das leidenschaftlich. Und man kann das dann nicht nur einmal machen, man kann das nicht bei einem Mal belassen, das geht einfach nicht. Ich war eben jung.
Ich hab das geheim gehalten, sicher … vor den Kollegen, und natürlich vor der Familie und so. So gut es ging. Zuhause treffen ging bei ihr ja nicht, wegen der Eltern, die hätten mir die Hölle heiß gemacht, und … gab da so einen kleinen Pinte auf halbem Weg,
direkt an der Sieg, da hatten die Fremdenzimmer, die wurden meistens von Monteuren gemietet … war günstig und gut gelegen, Abfahrt hinter der Brücke, und man konnte hintenrum parken … ich hab denen irgendeine Geschichte erzählt, der Besitzer von dem Schuppen war Grieche, soweit ich mich erinnere, und ich glaub, den hat sowieso nur das Geld interessiert, der hat keine Fragen gestellt. Ich hab mir immer wieder gesagt, jetzt hör zu, sie ist alt genug, um in solche Kneipen zu gehen, aber … im Grunde wusste ich es ja. Alle redeten sie von Sex und von Freiheit und wasweißichnicht, und wie toll das alles sein kann, nur ich, ich … naja. Jetzt lassen Sie mich doch einfach erzählen, ich komm da schon noch drauf, ich, ich muss hier erstmal meine Gedanken sortieren, ist nicht so, dass mir das leicht fällt, das ist … danke, danke, ja, das wäre nett. Wissen Sie, es ist so - ich habe das noch niemandem erzählt, Sie sind ja der Erste, der erste Mensch, der das … und mir war das nicht bewusst, über die Konsequenzen, da hab ich ja gar nicht nachgedacht, ich wollte nur, ich wollte … und mag schon sein, dass ich sie verführt hab, ja, ich hab sie verführt, das ist richtig, aber damals, da … und es war so, sie wollte das auch, sie wollte das ja auch!
Bin damals einen K 70 gefahren, nagelneu, neuneinhalb Tausend, mein Vater hat noch ganz schön was beigetan, weil er wollte, dass ich direkt ein größeres Auto fahre, als ich die Gitta geheiratet hab, und das war ja ein Viertürer, Mittelklasse, mehr Platz als mein alter 411, von wegen Familienplanung und alles … aber ich bin mit dem Wagen einfach nicht klargekommen, Frontantrieb, und dann bei schlechtem Wetter, das war nichts … ich hatte schon mal Probleme auf dem Weg dahin, also in diese Pinte, da bin ich von der Fahrbahn runter, in ein Feld rein, aber zum Glück ist da nichts weiter passiert … das war immer meine größte Angst, dass ich da einen Unfall baue und nachher erklären muss, was ich da gemacht hab, wie, warum, weswegen? Weswegen warst du denn da, Hans? Denn ansonsten hab ich da ja nichts zu suchen gehabt … ja, ich hab gesagt, ich bin da bei einer Sache dabei, der Herr Reither, der damals einer der Inhaber der KT war, der meinte, wir sollen uns alle an Willy Brandt erinnern, von wegen der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden, und ich wusste, dass die im Hintergrund an einer Sache arbeiteten, die waren grad dabei einen Abgaswäscher zu entwerfen, der dann in der chemischen Industrie eingesetzt werden sollte, das hab ich der Gitta gesagt und auch dem Rest der Familich, der Reither will eben, dass ich dabei bin, um direkt beurteilen zu können, ob das überhaupt umsetzbar ist, der will einen mit Erfahrung, einen aus der Fertigung, n Praktiker, so, so hab ich das gesagt, und das sind Überstunden, und Überstunden sind gut, Geld kann man immer gebrauchen.
Das wars dann, so hatte ich dann die Zeit, immer Donnerstags nach der Arbeit, da bin ich gleich los, ich hab sie unter der Unterführung an der Autobahnbrücke abgeholt, sie hat da ja immer auf mich gewartet, gleich da unten an der Ampel, als würde sie drauf warten, dass es Grün wird - so hab ich dir das gesagt, das fällt dann nicht weiter auf. Na ja, so war das eben. Wir hatten doch immer nur vier, fünf Stunden, das … wir sind durch den Eingang an der Seite, jedesmal das gleiche Zimmer, hinten im Gang links, ich bin rein und hab immer sofort die Gardinen zugezogen, obwohl da nichts weiter war, nur die Siegaue, aber man kann ja nie wissen, hab ich gedacht. Sie war klug, sie war sehr klug, wirklich, sie wusste, was in der Welt los war, und sie hat mir immer erstmal erzählt, was so alles passiert ist, Berlin, Frankfurt, Amerika - ich weiß nicht, wo sie das herhatte, aber … Wahnsinn, wir saßen da auf dem Bett und sie hat einfach erzählt, dies, das, das war … man hat dann ne Ahnung bekommen, ja? Wenigstens so n kleines bisschen, und sie hatte auch so viele Ideen, wie man und wo man was tun könnte, ich weiß nicht mehr, aber sie war wirklich klug, wirklich. Ich hab mich immer gefragt, tue ich selbst heut noch, was sie mit einem wie mir gewollt hat. Das habe ich nie so richtig verstanden, was sie an einem wie mir fand, und warum, ich denke mir immer, die hätt doch ganz andere haben können, aber ich, ausgerechnet ich!
Ging eine ganze Zeit lang gut, und das war schon wie im Traum, als würd man nich mehr aufwachen, oder aufwachen wollen, ich hab nur an den Donnerstag gedacht, die ganze Arbeitswoche über, da dacht ich dran, wie das ist, in diesem Zimmer, mit ihr, ganz allein, ja, obwohl ich wusste, es ist was Verbotenes im Grunde, und ich wusste, es war nicht richtig, aber es war dann doch stärker, es war immer stärker, das Verlangen, so wars. Und, auch wenn es so schön ist und alles, man weiß ja doch irgendwie, wie sowas ausgeht, das kann ja gar nicht funktionieren, die Zeit da in diesem Zimmer, die war wunderbar und alles, die Doris, toll und klug und intelligent, und zart, sanftmütig, alles was man sich wünscht, wünschen kann, und da, da war ich auch sowas wie frei, glaub ich, so hab ich mich jedenfalls gefühlt, als müsste ich da sein, in diesem Zimmer, in dieser billigen Absteige, als würd ich dahingehören, wir beide, als würden wir da hingehören, das war die Welt für mich, für uns, aber man weiß ja doch, wie das ist, ich war fünfundzwanzig Jahre alt, ich wusste, dass man nicht alles haben kann, das war mir klar, und dass Träume meistens Träume bleiben, das sowieso. Und als die Gitta dann schwanger wurde, da wusste ich gleich, das geht jetzt nicht mehr, ich muss das beenden, das muss ein Ende haben, das wurde dann ernst, der Ernst des Lebens, wie man sagt, aber ich bin einfach nicht von ihr losgekommen, ging nicht, ich wusste nicht, wie ich das hätte machen sollen, denn, es war so, wenn ich das jetzt beendet hätte, dann hätte das bedeutet, dass … ja? Dann hätte es nur noch das gegeben, dieses Leben, dieses eine Leben, in Scheidt, in diesem Haus so groß wie ein Hamsterkäfig, oder so klein, und nur n Steinwurf von meinen Eltern entfernt … da denkste noch mal drüber nach, ob jetzt oder nicht später, oder doch jetzt, oder sich noch was Zeit lassen. Ich hab ihr nix davon erzählt, dass die Gitta schwanger war, das wär nicht gut gewesen, aber ich nehm an, sie hats gemerkt, sie hat immer wieder gesagt, dass ich mich verändert hätt und was denn los ist, das hat sie gefragt, aber ich wollt nicht damit rausrücken, dass hätte sich nicht richtig angefühlt, weil …
War ja ein kalter Winter, hatte ich schon gesagt, und an diesem Donnerstag, an diesem Tag, da, da hab ich sie sitzengelassen - also, im Grunde wollte ich das, das wollte ich, ich hatte gerade Feierabend gemacht bei der KT, und fragte mich noch ein Kollege, der sagte, hör mal, solln wir nich nochmal n Kölsch zusammen, weißte?, und ich hab gesagt, heut nich, heut is ungünstig, aber es war ja so, ich wollt sofort los, ich wollt sofort los, ich wollte nach Hause, nach Scheidt, ich wollte da in der Küche sitzen und alleine sein, einfach nur allein sein, das wollte ich, ich wusste ja, die Gitta, die ist auch da und der ihr Bauch wächst und wächst, das hat man ja gesehen, das hat jeder gesehen, aber ich wollt da sein und zu mir selbst sagen: So ist das jetzt, so und nicht anders, und das wird auch so bleiben, das wird so bleiben bist du in der Kiste liegst. Und ich dacht noch, komm, auf dem Weg machste kurz Halt und kaufst dir bei Kaisers n Bismarck, trinkst dir das so weg, trinkst dir den Frust weg, das wollt ich, aber als ich dann im Auto saß, als ich da hinterm Steuer saß, da dacht ich, nee, so kanns wirklich nicht weitergehen, so kann das nicht zuende gehen und … nein, ich war zu feige, ich bin einfach zu feige, ne feige Sau biste, und das hat so an mir genagt, das hat so in mir gegärt, dass ich dann auf halber Strecke um bin, und da …
bin ich in den Nebel, dichter Nebel, richtige Suppe, und Schnee, dick Schnee. So war das aber immer damals, wenn ich mich so zurückerinner, da lag immer Schnee im Winter, und Schnee satt, nicht so wie heute, bisschen Matsch, von wegen Klima und alles. So war das. Und ich bin einfach irgendwo rechts ran an der Landstraße und hab auf nem Wirtschaftsweg gewendet, Reifen drehten durch und alles voller Schlamm, Motor soff ab und ich sitz da in der Kiste, und die roch noch so neu, und ich musste an den Bauch von der Gitta denken und an die Doris, an die Haut von der, kann man nicht beschreiben, ganz weich, ganz weich war die, und ich saß da, und um mich rum, da schneit und schneits wie sonst was und der Atem, hier, kleine Schafswölkchen, und ich sitz da im Dunkel und starr in den Schnee, tja, und das ist die Wahrheit, das erklärt das vielleicht, warum und wieso und …
der stand an der Straße, gleich da vorm Graben, und nackt. Ganz nackt, splitterfasernackt. Ich dacht ja, ich dacht zuerst an ein Reh, an Wild, was da wechselt, weil ich den Schatten gesehen hab, da im Schnee, und das war so … ich kriege das nicht raus, ich krieg das einfach nicht raus aus mir, selbst heute nicht, bis heute sehe ich den da stehen, als wär er grad erst ausm Schnee gekommen, wie so n kleines Kind, n Neugeborenes, ich wusste ja von nichts. Ich bin an ihm vorbeigefahren, einfach dran vorbeigefahren, ich hab mich nicht mal umgeguckt … nich in den Rückspiegel, nichts, einfach weiter, bin weiter, weiter bis an die Unterführung, aber da war nichts, ich glaub, die Doris hat das geahnt, sie hat das geahnt, oder sie hat es von sich aus nicht mehr gewollt, ich bin zweimal, dreimal an der Ampel vorbei, immer ganz langsam, weil sie die Straße da noch nicht geräumt hatten, aber natürlich auch wegen … aber, sie kam nicht, ich hab sie nie wieder gesehen, ich hab sie danach nie wieder gesehen, ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist, was sie heute macht, keine Ahnung.
Von der ganzen Sache hab ich erst in der Zeitung gelesen, paar Tage später. Mir war das nicht klar, mir war das nicht bewusst, was da eigentlich passiert ist, ich meine, wer denkt an sowas? Doch keiner, oder? Grausam, ja, grausam, kann ich da nur sagen … so sind die Menschen wohl, manchmal denk ich, es wär besser, wenn … aber na ja. Und, ich weiß nicht, ich glaub nicht, dass ich das sofort wusste, dass das ein Fehler ist, ich meine, wie kann man das auch ahnen, was los war, wenn ich das gewusst hätte, dann … aber jetzt, später, da kann man das immer sagen, oder? Da fällts einem leichter, das zu beurteilen, obs n Fehler war oder wasweißich … der stand da eben, nachts, nackt im Straßengraben, und ich hab das nicht gesehen, ich hab nicht gesehen, dass der gefesselt war oder so, das hab ich erst gelesen, das hab ich in der Zeitung gelesen, dass es da um ein Verbrechen geht und überhaupt, dass die den da an einen Baum gebunden haben, nackt an einen Baum gebunden - ich frage Sie, wer kommt auf so eine Idee, und ich hatte ja auch noch was anderes im Kopf, da meine Familie, da die Doris, und ich, ich dazwischen, und dann das … ein Junge nackt am Straßengraben, was hätten Sie da, ich meine, was hätten sie gedacht, gemacht? Kann man nicht sagen, oder? Kann man nicht genau sagen, wie man sich da verhalten hätte.
Und dann, doch, als ich das in der Zeitung gelesen hatte, als sie die dann auch verhaftet hatten, die, die dafür verantwortlich waren, Gastarbeiter warens, glaub ich, ja, Jugos, da, da wusste ich dann, nein, war nicht richtig, der arme Junge, und natürlich denkt man das, könnte der, hätte der … wäre der noch am leben, wenn du angehalten hättest, hättest du nur kurz gefragt, Wasn los hier?, Was machstn hier? Jung, du bist ja nackt!, spinnst du eigentlich?, aber nein, nee, nein, das hab ich eben nicht gemacht, ich bin einfach weitergefahren. Man redet sich dann auch was ein, später, später redet man sich das ein, vielleicht ist das doch ne Falle gewesen, vielleicht n schlechter Scherz, man kommt da auf alles Mögliche, man denkt sich alles Mögliche, könnte dies, könnte das, und du hättest nichts machen können, du hättest nichts anders machen können, es hätt nix geändert, aber ob das stimmt?, das sind ja diese Fragen.
All die Jahre, und das bleibt bei einem, ich seh ihn ja immer noch vor mir, ich seh ihn da stehen als sei er selbst aus Schnee, so ganz hell und … ich weiß nicht, und manchmal denk ich schon, da denk ich, dasser doch den Mund aufgemacht hat, das er mir was sagen wollte, dass er was rufen wollte, dass er um Hilfe rufen wollte, dasser mich so gesehen hat wie ich ihn gesehen hab, und dass ich vielleicht der letzte Mensch war, den er gesehen hat, ausgerechnet ich!, aber ich bin mir nie sicher, ich kann mir nie sicher sein, es gibt so Sachen, so Erinnerungen, denen kannst du nicht vertrauen, die sind auf einmal da und dann weißt du nicht, ob das alles wirklich so passiert ist, deswegen …
Ich weiß, ich weiß schon, dass das verjährt, unterlassene Hilfeleistung, das ist mir bewusst, aber … ich hatte das auch lange Zeit vergessen gehabt, ich hab nicht mehr drüber nachgedacht, auch über die Doris, nein, was hätte werden können oder sollen, das hab ich mir richtig verboten, denn es führt ja zu nichts, das macht einen nur unglücklich, und jetzt, jetzt bin ich zufrieden, wenn man das so sagen kann, zufrieden, ja. Mein Sohn ist erwachsen, längst erwachsen, und mit der Gitta komme ich gut klar, sie ist ein guter Mensch, treu, zuverlässig. Aber, es ist so, man hat da letztes Jahr diesen Gedenkstein aufgestellt, genau an der Stelle, wo der Junge dann erfroren ist, in diesem Winter, damals, 71’, und ich fahr da noch oft dran vorbei, weil ich immer noch in Scheidt wohne, nicht mehr in dem kleinen Haus da, natürlich in einem größeren, aber ich bin in der Gegend geblieben, war dann später Techniker bei Reifenhäuser, bin jetzt seit ein paar Jahren zuhause. Und eigentlich gehts mir gut, nur das … ich fahr dran vorbei, und das ists jedesmal wie ein Stich, ja? Ein Stich …
… da kommt dann alles zusammen, ich denk an die Doris und an den Jungen und an den Schnee, unds gab, glaub ich, nie wieder so einen Winter, nie wieder so viel Schnee wie damals, Schnee, Nebel, dicht wie nur was, und ich war noch nie da, an dem Stein, ich wollt immer mal anhalten und mir das ansehen, mir das genauer ansehen, aber ich kriegs nich hin, nein, irgendwie … und, ich weiß nicht, was Sie damit jetzt machen, das ist ja ihre Sache, ich konnt das aber nicht mehr, nicht mehr so, musste raus, musste einfach raus, das könnense doch verstehen, ja? Dass so was raus muss, aus einem, sonst, ja … sonst. Und jetzt denke ich an beide, manchmal sogar an beide gleichzeitig, auch wenn ich mich nicht mehr ans Gesicht von dem Jungen da erinnern kann, ich hab den ja kaum gesehen, nur ne Sekunde, vielleicht zwei, und an was will man sich da schon erinnern? Das war nicht mehr als n Schatten, n Schatten im Schnee, oder? Nur n Schatten im Schnee. So wars.