Was ist neu

Schnee in Much

Empfehlung
Challenge 2. Platz
Challenge 1. Platz
Seniors
Beitritt
28.12.2009
Beiträge
2.435
Zuletzt bearbeitet:
Anmerkungen zum Text

Dieser Text basiert auf einem tatsächlichen Fall aus dem Jahr 1971, der im Rhein-Sieg Kreis geschah und überregionale Bekanntheit erlangte (bis in die USA). Der Rest ist fiktiv.

Schnee in Much

… das ist schon so lange her, ich weiß, sehr lange, aber … auch nach all den Jahren, Jahrzehnte sind das ja mittlerweile, glaub ich, ja, ja doch, Jahrzehnte … da lässt mich das immer noch nicht los, ich kann das einfach nicht vergessen, ich kanns einfach nicht, das ist … und, tja, wo soll ich da anfangen? Winter 71’, das war ein kalter Winter, viel Schnee und viel Nebel, so weit ich mich erinnern kann. Nein, kalt wars, bitterkalt, und auch neblig, man hat kaum was sehen können, so viel Nebel, durch den Nebel, ja …

… damals, da hab ich noch bei der KT in Troisdorf gearbeitet, die hatten ja gerade in der Poststraße auf zwei Stockwerke erweitert, die Produktion lief ja, Wirtschaftswunder, so war das … gutes Geld hab ich da verdient, und auch wieder ausgegeben. Kalt wars, also daran kann ich mich sehr genau erinnern, kalt und viel Nebel und … ich war verheiratet … glücklich ist jetzt die andere Sache. Eigentlich nicht. Nie. Das war so eine Sache - so hat man das eben gemacht. Ich bin in Scheidt aufgewachsen, das ist ein kleines Dorf vor Much, eine Straße nur, im Grunde, paar Häuser … und so, so war das. Das ergibt sich einfach, das suchst du dir nicht aus. Ich hab die Gitta geheiratet, das war 68’, in dem Jahr war ja viel los, hier, Rudi Dutschke und so, aber davon wussten wir ja gar nichts, da hat man fast nix von mitbekommen, wir haben da vielleicht mal was in der Zeitung gelesen … aber, die weite Welt war das eben nicht, und so richtig verstanden … na ja. Wir sind ja gleich um die Ecke gezogen, Steinwurf von meinem Elternhaus, und was will man da machen? Da guckt dir jeder ins Küchenfenster. Du konntest nicht mal auf deinem eigenen Balkon einen schmutzigen Witz erzählen, das ging nicht, da waren die Ohren überall. Und hast du mal fünf Flaschbier getrunken, da wusste das die ganze Nachbarschaft, dein eigener Vater wusste das! Also, ich frage Sie, wie sollte das schon enden?

… die Doris hab ich dann in einer Kneipe kennengelernt, ganz blöd. War so, ich weiß nicht … wir waren einfach was trinken, Kollegen und ich, nach der Arbeit, die gingen immer in so eine Kneipe unten an der Sieg, das Alpenhäuschen, so hieß das, gibt es schon lange nicht mehr, und da saß sie an der Theke, gleich neben uns. Ich war das erste Mal mit, ich hatte es nicht so mit dem Weggehen, und meine Kollegen waren auch alle ein paar Jahre älter als ich. Jedenfalls saß sie da, und … sagen wir, ich wusste, sie war jung - zu jung im Grunde, das wusste ich natürlich, aber wie das so ist … drei, vier, fünf Kölsch und dann vergisst man das eben, man vergisst das ziemlich schnell. Das war erstmal alles ganz unschuldig, flirten und Blicke, was man so macht, unbeholfen und schüchtern, ich war nie so der Aufreißer, ich meine, warum auch? Das brauchte ich ja nicht. Ich war ja verheiratet, da brauchte ich das nicht, dachte ich … ich hab mich da nie so groß drum gekümmert, die Gitta kannte ich ja schon ewig, quasi aus dem Sandkasten, da denkt man über so was gar nicht nach, man ist dann zusammen und dann Ende, aus. Und, ich hab mich gar nicht getraut, ich hab mich gar nicht getraut, sie anzusprechen, also zuerst, aber dann … wir wurd richtig heiß und kalt, und natürlich guckten auch die Kollegen … ich hab sie dann nur gefragt, ob sie öfters da ist, in dieser Kneipe, und … Nein, die Sache mit der Doris, die ist ja ganz wichtig, denn nur deswegen … aber was rede ich hier eigentlich? Natürlich, so wars, da hat sich dann was draus entwickelt, ich bin noch mal hin, und noch mal, natürlich alleine, und was soll ich sagen? Klar hab ich meine Frau betrogen, ich hab meine Frau betrogen vom Punkt Eins an, das ist die Wahrheit. Aber da war ja auch nix, von Anfang an, nix, Sie wissen schon, was ich meine, ja? Bei der Doris … da war das eben anders, da war das, da war das leidenschaftlich. Und man kann das dann nicht nur einmal machen, man kann das nicht bei einem Mal belassen, das geht einfach nicht. Ich war eben jung.

Ich hab das geheim gehalten, sicher … vor den Kollegen, und natürlich vor der Familie und so. So gut es ging. Zuhause treffen ging bei ihr ja nicht, wegen der Eltern, die hätten mir die Hölle heiß gemacht, und … gab da so einen kleinen Pinte auf halbem Weg,
direkt an der Sieg, da hatten die Fremdenzimmer, die wurden meistens von Monteuren gemietet … war günstig und gut gelegen, Abfahrt hinter der Brücke, und man konnte hintenrum parken … ich hab denen irgendeine Geschichte erzählt, der Besitzer von dem Schuppen war Grieche, soweit ich mich erinnere, und ich glaub, den hat sowieso nur das Geld interessiert, der hat keine Fragen gestellt. Ich hab mir immer wieder gesagt, jetzt hör zu, sie ist alt genug, um in solche Kneipen zu gehen, aber … im Grunde wusste ich es ja. Alle redeten sie von Sex und von Freiheit und wasweißichnicht, und wie toll das alles sein kann, nur ich, ich … naja. Jetzt lassen Sie mich doch einfach erzählen, ich komm da schon noch drauf, ich, ich muss hier erstmal meine Gedanken sortieren, ist nicht so, dass mir das leicht fällt, das ist … danke, danke, ja, das wäre nett. Wissen Sie, es ist so - ich habe das noch niemandem erzählt, Sie sind ja der Erste, der erste Mensch, der das … und mir war das nicht bewusst, über die Konsequenzen, da hab ich ja gar nicht nachgedacht, ich wollte nur, ich wollte … und mag schon sein, dass ich sie verführt hab, ja, ich hab sie verführt, das ist richtig, aber damals, da … und es war so, sie wollte das auch, sie wollte das ja auch!

Bin damals einen K 70 gefahren, nagelneu, neuneinhalb Tausend, mein Vater hat noch ganz schön was beigetan, weil er wollte, dass ich direkt ein größeres Auto fahre, als ich die Gitta geheiratet hab, und das war ja ein Viertürer, Mittelklasse, mehr Platz als mein alter 411, von wegen Familienplanung und alles … aber ich bin mit dem Wagen einfach nicht klargekommen, Frontantrieb, und dann bei schlechtem Wetter, das war nichts … ich hatte schon mal Probleme auf dem Weg dahin, also in diese Pinte, da bin ich von der Fahrbahn runter, in ein Feld rein, aber zum Glück ist da nichts weiter passiert … das war immer meine größte Angst, dass ich da einen Unfall baue und nachher erklären muss, was ich da gemacht hab, wie, warum, weswegen? Weswegen warst du denn da, Hans? Denn ansonsten hab ich da ja nichts zu suchen gehabt … ja, ich hab gesagt, ich bin da bei einer Sache dabei, der Herr Reither, der damals einer der Inhaber der KT war, der meinte, wir sollen uns alle an Willy Brandt erinnern, von wegen der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden, und ich wusste, dass die im Hintergrund an einer Sache arbeiteten, die waren grad dabei einen Abgaswäscher zu entwerfen, der dann in der chemischen Industrie eingesetzt werden sollte, das hab ich der Gitta gesagt und auch dem Rest der Familich, der Reither will eben, dass ich dabei bin, um direkt beurteilen zu können, ob das überhaupt umsetzbar ist, der will einen mit Erfahrung, einen aus der Fertigung, n Praktiker, so, so hab ich das gesagt, und das sind Überstunden, und Überstunden sind gut, Geld kann man immer gebrauchen.

Das wars dann, so hatte ich dann die Zeit, immer Donnerstags nach der Arbeit, da bin ich gleich los, ich hab sie unter der Unterführung an der Autobahnbrücke abgeholt, sie hat da ja immer auf mich gewartet, gleich da unten an der Ampel, als würde sie drauf warten, dass es Grün wird - so hab ich dir das gesagt, das fällt dann nicht weiter auf. Na ja, so war das eben. Wir hatten doch immer nur vier, fünf Stunden, das … wir sind durch den Eingang an der Seite, jedesmal das gleiche Zimmer, hinten im Gang links, ich bin rein und hab immer sofort die Gardinen zugezogen, obwohl da nichts weiter war, nur die Siegaue, aber man kann ja nie wissen, hab ich gedacht. Sie war klug, sie war sehr klug, wirklich, sie wusste, was in der Welt los war, und sie hat mir immer erstmal erzählt, was so alles passiert ist, Berlin, Frankfurt, Amerika - ich weiß nicht, wo sie das herhatte, aber … Wahnsinn, wir saßen da auf dem Bett und sie hat einfach erzählt, dies, das, das war … man hat dann ne Ahnung bekommen, ja? Wenigstens so n kleines bisschen, und sie hatte auch so viele Ideen, wie man und wo man was tun könnte, ich weiß nicht mehr, aber sie war wirklich klug, wirklich. Ich hab mich immer gefragt, tue ich selbst heut noch, was sie mit einem wie mir gewollt hat. Das habe ich nie so richtig verstanden, was sie an einem wie mir fand, und warum, ich denke mir immer, die hätt doch ganz andere haben können, aber ich, ausgerechnet ich!

Ging eine ganze Zeit lang gut, und das war schon wie im Traum, als würd man nich mehr aufwachen, oder aufwachen wollen, ich hab nur an den Donnerstag gedacht, die ganze Arbeitswoche über, da dacht ich dran, wie das ist, in diesem Zimmer, mit ihr, ganz allein, ja, obwohl ich wusste, es ist was Verbotenes im Grunde, und ich wusste, es war nicht richtig, aber es war dann doch stärker, es war immer stärker, das Verlangen, so wars. Und, auch wenn es so schön ist und alles, man weiß ja doch irgendwie, wie sowas ausgeht, das kann ja gar nicht funktionieren, die Zeit da in diesem Zimmer, die war wunderbar und alles, die Doris, toll und klug und intelligent, und zart, sanftmütig, alles was man sich wünscht, wünschen kann, und da, da war ich auch sowas wie frei, glaub ich, so hab ich mich jedenfalls gefühlt, als müsste ich da sein, in diesem Zimmer, in dieser billigen Absteige, als würd ich dahingehören, wir beide, als würden wir da hingehören, das war die Welt für mich, für uns, aber man weiß ja doch, wie das ist, ich war fünfundzwanzig Jahre alt, ich wusste, dass man nicht alles haben kann, das war mir klar, und dass Träume meistens Träume bleiben, das sowieso. Und als die Gitta dann schwanger wurde, da wusste ich gleich, das geht jetzt nicht mehr, ich muss das beenden, das muss ein Ende haben, das wurde dann ernst, der Ernst des Lebens, wie man sagt, aber ich bin einfach nicht von ihr losgekommen, ging nicht, ich wusste nicht, wie ich das hätte machen sollen, denn, es war so, wenn ich das jetzt beendet hätte, dann hätte das bedeutet, dass … ja? Dann hätte es nur noch das gegeben, dieses Leben, dieses eine Leben, in Scheidt, in diesem Haus so groß wie ein Hamsterkäfig, oder so klein, und nur n Steinwurf von meinen Eltern entfernt … da denkste noch mal drüber nach, ob jetzt oder nicht später, oder doch jetzt, oder sich noch was Zeit lassen. Ich hab ihr nix davon erzählt, dass die Gitta schwanger war, das wär nicht gut gewesen, aber ich nehm an, sie hats gemerkt, sie hat immer wieder gesagt, dass ich mich verändert hätt und was denn los ist, das hat sie gefragt, aber ich wollt nicht damit rausrücken, dass hätte sich nicht richtig angefühlt, weil …

War ja ein kalter Winter, hatte ich schon gesagt, und an diesem Donnerstag, an diesem Tag, da, da hab ich sie sitzengelassen - also, im Grunde wollte ich das, das wollte ich, ich hatte gerade Feierabend gemacht bei der KT, und fragte mich noch ein Kollege, der sagte, hör mal, solln wir nich nochmal n Kölsch zusammen, weißte?, und ich hab gesagt, heut nich, heut is ungünstig, aber es war ja so, ich wollt sofort los, ich wollt sofort los, ich wollte nach Hause, nach Scheidt, ich wollte da in der Küche sitzen und alleine sein, einfach nur allein sein, das wollte ich, ich wusste ja, die Gitta, die ist auch da und der ihr Bauch wächst und wächst, das hat man ja gesehen, das hat jeder gesehen, aber ich wollt da sein und zu mir selbst sagen: So ist das jetzt, so und nicht anders, und das wird auch so bleiben, das wird so bleiben bist du in der Kiste liegst. Und ich dacht noch, komm, auf dem Weg machste kurz Halt und kaufst dir bei Kaisers n Bismarck, trinkst dir das so weg, trinkst dir den Frust weg, das wollt ich, aber als ich dann im Auto saß, als ich da hinterm Steuer saß, da dacht ich, nee, so kanns wirklich nicht weitergehen, so kann das nicht zuende gehen und … nein, ich war zu feige, ich bin einfach zu feige, ne feige Sau biste, und das hat so an mir genagt, das hat so in mir gegärt, dass ich dann auf halber Strecke um bin, und da …

bin ich in den Nebel, dichter Nebel, richtige Suppe, und Schnee, dick Schnee. So war das aber immer damals, wenn ich mich so zurückerinner, da lag immer Schnee im Winter, und Schnee satt, nicht so wie heute, bisschen Matsch, von wegen Klima und alles. So war das. Und ich bin einfach irgendwo rechts ran an der Landstraße und hab auf nem Wirtschaftsweg gewendet, Reifen drehten durch und alles voller Schlamm, Motor soff ab und ich sitz da in der Kiste, und die roch noch so neu, und ich musste an den Bauch von der Gitta denken und an die Doris, an die Haut von der, kann man nicht beschreiben, ganz weich, ganz weich war die, und ich saß da, und um mich rum, da schneit und schneits wie sonst was und der Atem, hier, kleine Schafswölkchen, und ich sitz da im Dunkel und starr in den Schnee, tja, und das ist die Wahrheit, das erklärt das vielleicht, warum und wieso und …

der stand an der Straße, gleich da vorm Graben, und nackt. Ganz nackt, splitterfasernackt. Ich dacht ja, ich dacht zuerst an ein Reh, an Wild, was da wechselt, weil ich den Schatten gesehen hab, da im Schnee, und das war so … ich kriege das nicht raus, ich krieg das einfach nicht raus aus mir, selbst heute nicht, bis heute sehe ich den da stehen, als wär er grad erst ausm Schnee gekommen, wie so n kleines Kind, n Neugeborenes, ich wusste ja von nichts. Ich bin an ihm vorbeigefahren, einfach dran vorbeigefahren, ich hab mich nicht mal umgeguckt … nich in den Rückspiegel, nichts, einfach weiter, bin weiter, weiter bis an die Unterführung, aber da war nichts, ich glaub, die Doris hat das geahnt, sie hat das geahnt, oder sie hat es von sich aus nicht mehr gewollt, ich bin zweimal, dreimal an der Ampel vorbei, immer ganz langsam, weil sie die Straße da noch nicht geräumt hatten, aber natürlich auch wegen … aber, sie kam nicht, ich hab sie nie wieder gesehen, ich hab sie danach nie wieder gesehen, ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist, was sie heute macht, keine Ahnung.

Von der ganzen Sache hab ich erst in der Zeitung gelesen, paar Tage später. Mir war das nicht klar, mir war das nicht bewusst, was da eigentlich passiert ist, ich meine, wer denkt an sowas? Doch keiner, oder? Grausam, ja, grausam, kann ich da nur sagen … so sind die Menschen wohl, manchmal denk ich, es wär besser, wenn … aber na ja. Und, ich weiß nicht, ich glaub nicht, dass ich das sofort wusste, dass das ein Fehler ist, ich meine, wie kann man das auch ahnen, was los war, wenn ich das gewusst hätte, dann … aber jetzt, später, da kann man das immer sagen, oder? Da fällts einem leichter, das zu beurteilen, obs n Fehler war oder wasweißich … der stand da eben, nachts, nackt im Straßengraben, und ich hab das nicht gesehen, ich hab nicht gesehen, dass der gefesselt war oder so, das hab ich erst gelesen, das hab ich in der Zeitung gelesen, dass es da um ein Verbrechen geht und überhaupt, dass die den da an einen Baum gebunden haben, nackt an einen Baum gebunden - ich frage Sie, wer kommt auf so eine Idee, und ich hatte ja auch noch was anderes im Kopf, da meine Familie, da die Doris, und ich, ich dazwischen, und dann das … ein Junge nackt am Straßengraben, was hätten Sie da, ich meine, was hätten sie gedacht, gemacht? Kann man nicht sagen, oder? Kann man nicht genau sagen, wie man sich da verhalten hätte.

Und dann, doch, als ich das in der Zeitung gelesen hatte, als sie die dann auch verhaftet hatten, die, die dafür verantwortlich waren, Gastarbeiter warens, glaub ich, ja, Jugos, da, da wusste ich dann, nein, war nicht richtig, der arme Junge, und natürlich denkt man das, könnte der, hätte der … wäre der noch am leben, wenn du angehalten hättest, hättest du nur kurz gefragt, Wasn los hier?, Was machstn hier? Jung, du bist ja nackt!, spinnst du eigentlich?, aber nein, nee, nein, das hab ich eben nicht gemacht, ich bin einfach weitergefahren. Man redet sich dann auch was ein, später, später redet man sich das ein, vielleicht ist das doch ne Falle gewesen, vielleicht n schlechter Scherz, man kommt da auf alles Mögliche, man denkt sich alles Mögliche, könnte dies, könnte das, und du hättest nichts machen können, du hättest nichts anders machen können, es hätt nix geändert, aber ob das stimmt?, das sind ja diese Fragen.

All die Jahre, und das bleibt bei einem, ich seh ihn ja immer noch vor mir, ich seh ihn da stehen als sei er selbst aus Schnee, so ganz hell und … ich weiß nicht, und manchmal denk ich schon, da denk ich, dasser doch den Mund aufgemacht hat, das er mir was sagen wollte, dass er was rufen wollte, dass er um Hilfe rufen wollte, dasser mich so gesehen hat wie ich ihn gesehen hab, und dass ich vielleicht der letzte Mensch war, den er gesehen hat, ausgerechnet ich!, aber ich bin mir nie sicher, ich kann mir nie sicher sein, es gibt so Sachen, so Erinnerungen, denen kannst du nicht vertrauen, die sind auf einmal da und dann weißt du nicht, ob das alles wirklich so passiert ist, deswegen …

Ich weiß, ich weiß schon, dass das verjährt, unterlassene Hilfeleistung, das ist mir bewusst, aber … ich hatte das auch lange Zeit vergessen gehabt, ich hab nicht mehr drüber nachgedacht, auch über die Doris, nein, was hätte werden können oder sollen, das hab ich mir richtig verboten, denn es führt ja zu nichts, das macht einen nur unglücklich, und jetzt, jetzt bin ich zufrieden, wenn man das so sagen kann, zufrieden, ja. Mein Sohn ist erwachsen, längst erwachsen, und mit der Gitta komme ich gut klar, sie ist ein guter Mensch, treu, zuverlässig. Aber, es ist so, man hat da letztes Jahr diesen Gedenkstein aufgestellt, genau an der Stelle, wo der Junge dann erfroren ist, in diesem Winter, damals, 71’, und ich fahr da noch oft dran vorbei, weil ich immer noch in Scheidt wohne, nicht mehr in dem kleinen Haus da, natürlich in einem größeren, aber ich bin in der Gegend geblieben, war dann später Techniker bei Reifenhäuser, bin jetzt seit ein paar Jahren zuhause. Und eigentlich gehts mir gut, nur das … ich fahr dran vorbei, und das ists jedesmal wie ein Stich, ja? Ein Stich …

… da kommt dann alles zusammen, ich denk an die Doris und an den Jungen und an den Schnee, unds gab, glaub ich, nie wieder so einen Winter, nie wieder so viel Schnee wie damals, Schnee, Nebel, dicht wie nur was, und ich war noch nie da, an dem Stein, ich wollt immer mal anhalten und mir das ansehen, mir das genauer ansehen, aber ich kriegs nich hin, nein, irgendwie … und, ich weiß nicht, was Sie damit jetzt machen, das ist ja ihre Sache, ich konnt das aber nicht mehr, nicht mehr so, musste raus, musste einfach raus, das könnense doch verstehen, ja? Dass so was raus muss, aus einem, sonst, ja … sonst. Und jetzt denke ich an beide, manchmal sogar an beide gleichzeitig, auch wenn ich mich nicht mehr ans Gesicht von dem Jungen da erinnern kann, ich hab den ja kaum gesehen, nur ne Sekunde, vielleicht zwei, und an was will man sich da schon erinnern? Das war nicht mehr als n Schatten, n Schatten im Schnee, oder? Nur n Schatten im Schnee. So wars.

 

ich finde dein Text hat einen guten Flow, hat mich direkt reingezogen und ich war gut in der Geschichte drin. Bei mir ist ein Sog entstanden und das lag an zwei Gründen: Erstens fand ich deinen Charakter interessant, hatte den Eindruck, als wäre ich direkt neben ihm und er würde mir diesen Fall beichten. Fand da deine Erläuterung interessant, dass du dir vorgestellt hast, dass er das einem Polizisten beichtet, das konnte ich mir auch gut so vorstellen.

Hallo und danke für deine Zeit und deinen Kommentar, und erstmal sorry, dass du solange warten musstest, ich hing ziemlich in den Seilen und war das erste Mal seit zwanzig Jahren so richtig krank, aka sick as a dog.

Solche Texte sollten schon genau diesen von dir erwähnten Flow haben, sonst wirken sie eben nicht echt; echt oder authentisch, das sind immer so Begriffe, da muss man vorsichtig mit sein, weil gute Autoren eben auch oft gute Lügner sind, sie operieren an der Oberfläche, die sich aber wie Tiefe liest, das ist oft nicht so genau zu unterscheiden. Ich glaube, man benötigt in etwa das gleiche emotionale Moment wie Schauspieler beim method acting; je komplexer eine Figur ist, desto komplexer muss (ich nehme es an!) auch der eigene emotionale Invest sein. Es gibt demnach Figuren, die nicht zu ergründen sind; ich schreibe gerade an einem Text aus der Sicht einer über 60jährigen Frau, die in ihrem Leben noch nie ein Date oder Sex hatte. Da bin ich mir nicht sicher, ob ich das hinbekommen, das kann man sich nicht einfach anlesen so eine emotionale Verfasstheit. Also, schön, wenn es für dich hier funktioniert und du diese Figur glaubwürdig empfindest. Ich nehme so etwas immer als größtes Kompliment wahr, denn ich selbst habe so das Gefühl, dass ca. 99% der Figuren in der Gegenwartsliteratur nur schlecht verhüllte Alter Egos der Autoren und ihrer Agenda sind.

Mag das hier, dass du zuerst schon damit startest, dass sie sich kennenlernen und dann folgen die Details und wie es dazu gekommen ist. Konnte ich als Leser gut nehmen und hat mich von der Vorgehensweise etwas an Haruki Murakami erinnert.
Ist eine gute Technik, der Vorgriff, das foreshadowing, einfach um so einen Anker im Text zusetzen, am besten natürlich nur implizierend, so KÖNNTE es weiter gehen, die Kunst ist ja, wie ich finde, dass man Spuren auslegt aber nicht alle echt sind, es könnten auch nur red herrings sein, Spuren die im Nichts verlaufen. Das muss irgendwie alles gut austariert sein, damit es nicht planlos oder konfus wirkt, ich bin da auch immer am probieren und mir nie sicher, inwieweit der Leser da mitgeht. Deswegen müsst ihr ja dran glauben, haha!

Finde das einen guten Abschluss, da steckt etwas Wehmütiges drin, es schwebt so im Raum und mir wird richtig schwer ums Herz. Finde ich sehr gut gemacht, lese ich gerne.
Mit war dieser fixe Punkt wichtig, dieses Andenken, dieses Symbol im Text, was sich auch materialisiert. Ich denke mir immer, was würde mich dazu bringen, über so eine Sache, über so ein Erlebnis noch einmal nachzudenken, bzw was würde mich dazu bringen, noch einmal darüber nachdenken zu müssen? Es sind wahrscheinlich Dinge, die du jeden Tag siehst, die du neu siehst, wie so ein Gedenkstein oder ähnliches. So war mein Denken beim Schreiben dieses Textes, es brauchte ine nachvollziehbare Reaktion auf eine Ursache, das sollte nicht aus dem Nichts kommen.
Insgesamt sehr gut geschrieben, konnte mich auf den Text einlassen und habe es genossen. Schönes Teil.
Das freut mich sehr! Nochmal bedanke ich mich für deinen sehr ausführlichen und guten Kommentar!

Gruss, Jimmy

wird fortgesetzt

 

Hallo @jimmysalaryman

Eine tragische Geschichte und ich habe dem Erzähler gerne zugehört und ihn bedauert. Diesen Erzählton hast du gut hinbekommen und ich hatte wirklich beim Lesen seine Stimme im Ohr.
Seine Lebensumstände und sein Hin- und Hergerissensein zwischen seinem vorhersehbaren Leben mit Gitta und der Aussicht, mit Doris daraus auszubrechen. Wer will ihn da verdammen, wenn er so durcheinander ist, dass er in einer Extremsituation Schuld auf sich lädt?
Alles schön und gut.
Aber wo ist der Bezug zum Thema? Den kann ich hier beim besten Willen nicht erkennen. Außerdem betonst du an einer Stelle, dass er die Geschichte bisher nicht erzählt hat. Warum gerade jetzt?

Hier noch Kleinigkeiten:

als würde sie drauf warten, dass es Grün wird - so hab ich dir das gesagt, das fällt dann nicht weiter auf.
"so hab ich ihr das gesagt" meinst du wohl.
in dieser billigen Absteige, als würd ich dahingehören,
als würd ich da hingehören.
und das wird auch so bleiben, das wird so bleiben bist du in der Kiste liegst.
das wird so bleiben Komma bis du ...

Grüße
Sturek

 

Hallo Jimmy,
das ist die Geschichte, die mir am meisten von allen Geschichten "an die Nieren" gegangen ist, das Thema Schuld, doppelt sogar und so tragisch.
Ehrlich gesagt, ich wüsste nicht, wie man da noch Weihnachten sinnvoll einbauen könnte, ich sehe das alles in diesem Weiß-Grau und Weihnachten würde da so einen bunten Punkt reinmachen, aber vielleicht habe ich auch zu wenig Phantasie. "Gestern" spielt das ja und die Macht, die das Geschehene heute noch hat, wird sehr spürbar und "Schnee" kommt auch viel vor, wird betont, hält auch als Rechtfertigung her.
Was ja wirklich so tragisch ist, ist, dass sein Fremdgehen mächtig Schuldgefühle auslöst, dass er viel unternimmt und plant, um ein Auffliegen zu vermeiden, es wird so deutlich, dass er da wirklich in einem Konfikt ist, aber der Versuchung eben erliegt. Das zieht sich so lange und erfordert so viel Organisation. Und eigentlich gelingt das auch, Gitta erfährt es vermutlich nicht, Doris zieht sich selbst zurück. Und dann ist es eine Unaufmerksamkeit, eine falsche Einschätzung, die die Katastrophe verursacht.

Nein, kalt wars, bitterkalt, und auch neblig, man hat kaum was sehen können, so viel Nebel, durch den Nebel, ja …
Ich habe das Gefühl, von Anfang an versucht er sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Aber hier weiß man noch gar nicht worum es geht.
Ich hab die Gitta geheiratet, das war 68’, in dem Jahr war ja viel los, hier, Rudi Dutschke und so, aber davon wussten wir ja gar nichts, da hat man fast nix von mitbekommen, wir haben da vielleicht mal was in der Zeitung gelesen …
Ziemlich exakt das, was meine Eltern gesagt haben, wenn ich sie auf die Zeit angesprochen habe.
Also, ich frage Sie, wie sollte das schon enden?
Oh, da wird einem schon mulmig.
Also, ich frage Sie, wie sollte das schon enden?
… die Doris hab ich dann in einer Kneipe kennengelernt, ganz blöd.
Ich kriege das gerade nicht richtig rüberkopiert, aber ich finde es auch interessant, dass du da immer wieder so Absätze drin hast. So, als würde das Gespräch nach einer Unterbrechung fortgesetzt. Oder als wäre das auf Band aufgenommen und nur das Wichtigste transskribiert worden, weil er zwischendurch noch mehr abgeschwiffen ist.
also zuerst, aber dann … wir wurd richtig heiß und kalt, und natürlich guckten auch die Kollegen …
"Mir"?

Alle redeten sie von Sex und von Freiheit und wasweißichnicht, und wie toll das alles sein kann, nur ich, ich … naja. Jetzt lassen Sie mich doch einfach erzählen, ich komm da schon noch drauf, ich, ich muss hier erstmal meine Gedanken sortieren, ist nicht so, dass mir das leicht fällt, das ist … danke, danke, ja, das wäre nett. Wissen Sie, es ist so - ich habe das noch niemandem erzählt, Sie sind ja der Erste, der erste Mensch, der das … und mir war das nicht bewusst, über die Konsequenzen, da hab ich ja gar nicht nach
er ist im Erzählfluss, er ärgert sich, er fordert, er bedankt sich, er rechtfertigt sich, wirbt um Verständnis - steckt viel drin in wenigen Sätzen
Bin damals einen K 70 gefahren, nagelneu, neuneinhalb Tausend, mein Vater hat noch ganz schön was beigetan, weil er wollte, dass ich direkt ein größeres Auto fahre, als ich die Gitta geheiratet hab, und das war ja ein Viertürer, Mittelklasse, mehr Platz als mein alter 411, von wegen Familienplanung und alles … aber ich bin mit dem Wagen einfach nicht klargekommen, Frontantrieb,
Das ist ja nun schon fast eine perfekte Metapher, er bekommt das Auto im Grunde, weil er die Erwartungen der Eltern erfüllt und mit dem Auto verbinden sich gleich die nächsten Erwartungen - und er kommt damit nicht klar.
ja, ich hab gesagt, ich bin da bei einer Sache dabei, der Herr Reither, der damals einer der Inhaber der KT war, der meinte, wir sollen uns alle an Willy Brandt erinnern, von wegen der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden, und ich wusste, dass die im Hintergrund an einer Sache arbeiteten,
Ja und hier zeigst du, wie viel Arbeit er da reinsteckt, dass das nicht auffliegt und wie er alles tut, um die Kontrolle zu behalten. Er ist eigentlich ungeheuer angepasst und was er tut erschreckt ihn selbst zutiefst und er versucht alles, um den Schaden so gering wie möglich zu halten.
ich bin rein und hab immer sofort die Gardinen zugezogen, obwohl da nichts weiter war, nur die Siegaue, aber man kann ja nie wissen, hab ich gedacht.
Hier auch.
Das habe ich nie so richtig verstanden, was sie an einem wie mir fand, und warum, ich denke mir immer, die hätt doch ganz andere haben können, aber ich, ausgerechnet ich!
Ich habe natürlich auch die ganze Zeit gedacht, dass mit ihr irgendetwas Schlimmes passieren wird und war auf diesen "Spurwechsel" später auch null gefasst.

ich war fünfundzwanzig Jahre alt, ich wusste, dass man nicht alles haben kann, das war mir klar, und dass Träume meistens Träume bleiben, das sowieso. Und als die Gitta dann schwanger wurde, da wusste ich gleich, das geht jetzt nicht mehr, ich muss das beenden,
Immer wieder die Betonung, dass er seine Werte hat, ein Gewissen, ein Selbstbild, wo das Fremdgehen eigentlich nicht reinpasst.
als ich da hinterm Steuer saß, da dacht ich, nee, so kanns wirklich nicht weitergehen, so kann das nicht zuende gehen und … nein, ich war zu feige, ich bin einfach zu feige, ne feige Sau biste, und das hat so an mir genagt, das hat so in mir gegärt, dass ich dann auf halber Strecke um bin, und da …
Und auch hier, doch ein Anspruch an sich selbst, dieses Bemühen, alles richtig zu machen. Im Grunde ist er so davon gefangengenommen, dass er gerade dadurch den tragischen Fehler begeht.
der stand an der Straße, gleich da vorm Graben, und nackt. Ganz nackt, splitterfasernackt. Ich dacht ja, ich dacht zuerst an ein Reh,
Sehr plötzlich, auch für mich als Leserin. Ich bin ja auch gerade noch mit dem andern Thema beschäftigt.
aber, sie kam nicht, ich hab sie nie wieder gesehen, ich hab sie danach nie wieder gesehen, ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist, was sie heute macht, keine Ahnung.
Das eine Thema löst sich in Luft auf.
ich frage Sie, wer kommt auf so eine Idee, und ich hatte ja auch noch was anderes im Kopf, da meine Familie, da die Doris, und ich, ich dazwischen, und dann das … ein Junge nackt am Straßengraben, was hätten Sie da, ich meine, was hätten sie gedacht, gemacht? Kann man nicht sagen, oder? Kann man nicht genau sagen, wie man sich da verhalten hätte.
Und dann eine Unachtsamkeit, die so eine Schuld verursacht.
da wusste ich dann, nein, war nicht richtig, der arme Junge, und natürlich denkt man das, könnte der, hätte der … wäre der noch am leben, wenn du angehalten hättest, hättest du nur kurz gefragt, Wasn los hier?, Was machstn hier? Jung, du bist ja nackt!, spinnst du eigentlich?, aber nein, nee, nein, das hab ich eben nicht gemacht, ich bin einfach weitergefahren.
Oh Mann, hier fühle ich echt mit ihm mit.
All die Jahre, und das bleibt bei einem, ich seh ihn ja immer noch vor mir, ich seh ihn da stehen als sei er selbst aus Schnee, so ganz hell und … ich weiß nicht, und manchmal denk ich schon, da denk ich, dasser doch den Mund aufgemacht hat, das er mir was sagen wollte, dass er was rufen wollte, dass er um Hilfe rufen wollte, dasser mich so gesehen hat wie ich ihn gesehen hab, und dass ich vielleicht der letzte Mensch war, den er gesehen hat, ausgerechnet ich!,
Das ist wirklich bitter und er rückt hier ganz nah, ich kann mich da gut identifizieren.
Mein Sohn ist erwachsen, längst erwachsen, und mit der Gitta komme ich gut klar, sie ist ein guter Mensch, treu, zuverlässig. Aber, es ist so, man hat da letztes Jahr diesen Gedenkstein aufgestellt, genau an der Stelle, wo der Junge dann erfroren ist, in diesem Winter, damals, 71’, und ich fahr da noch oft dran vorbei, weil ich immer noch in Scheidt wohne, nicht
Auch noch einmal berührend, dass er nun einen Sohn hat, der ja auch irgendwann in das Alter des Jungen im Schnee gekommen ist. Wie das so im Hintergrund mitschwingt.
Das war nicht mehr als n Schatten, n Schatten im Schnee, oder? Nur n Schatten im Schnee. So wars.
Ja, lieber Jimmy, da hast du mich voll erwischt. Ist vielleicht auch ein Text, der einen ein bisschen demütig werden lässt gegenüber der menschlichen Schwäche im Allgemeinen und der eigenen Schwäche im Besonderen, denn irgendwas übersieht man ja doch mal und man kann nur dankbar sein, wenn es nicht so schlimme Auswirkungen hat, wie in deiner Geschichte.

Liebe Grüße von Chutney

 

Schön die Wortkamera draufgehalten auf deinen Protagonisten.
Hello @Morphin, und danke auch dir für deinen Kommentar.

Wortkamera ist mein Wort 2023, denn das beschreibt den Stil hier ganz genau: einfach die Kamera drauf halten. Ich habe mir viel Alan Bennett reingezogen, seine "Talking Heads" in Verbindung mit stilistisch ähnlich gelagerten Baseball-Stories von Ring Lardner aus den 1920ern haben wohl mein Gehirn zum Schmelzen gebracht. Das sind ja ähnliche Stilmittel, allerdings muss man das eben übersetzt bekommen ins Deutsche, und auch in das Milieu, in das eigene am besten. Ich bin ja jemand, der daran glaubt, dass jeder Autor einen Erfahrungshorizont hat, eine persönlichen Nahbereich, der es ihm erlaubt, möglichst wahrhaftig und wahr schreiben zu können; das bedeutet nicht, das man nicht auch andere Sujet schreiben kann, aber es wird meiner Meinung nach nie die Tiefe haben, die man in seinem Nahbereich entfalten kann. Ich beschäftige mich seit geraumer Zeit mit Geschehnissen und Personen aus meiner Heimat, baue an einem eigenen, kleinen Mikrokosmos, das ist einfach ergiebig.

Mit dem Schnee habe ich auch so in Erinnerung, aber ich hab mal nachgeguckt bei so einem geologischen Dienst, und da ist es so, dass es gar nicht so dramatisch ist, der Unterschied. Gefühlt ist das aber tatsächlich so ... i dont know. Naja, jedenfalls danke ich dir für deine Zeit und deinen Kommentar, Wortkamera ist eingebucht im persönlichen Inventar!

Gruss, Jimmy

 

Hallo @jimmysalaryman,

ich hoffe du bist mittlerweile wieder gesund bzw. nicht mehr sick as a dog und vielmehr strong as a lion!

Deinen Text habe ich soeben in einem Zug durchgelesen. Am Anfang dachte ich noch: Hmm, das könnte zäh werden, aber bereits nach dem ersten Absatz hattest du mich mit der Erzählerstimme an der Angel. Ich kann dir nicht genau sagen, wie oder warum das funktioniert, aber ja, es funktioniert. Ich finde das echt stark gemacht. Zuerst denkt man ja: Cool, da kann man mal etwas freier schreiben, muss sich weniger um die Form kümmern, das fließt dann bestimmt einfach so aus einem raus … Aber nein, ich bin sicher, dass diese Art zu schreiben ganz, ganz schwer zu bewerkstelligen ist. Das wirkt auf den ersten Blick sehr ungeordnet, aber da steckt ganz bestimmt eine Menge Komposition drin. Wahrscheinlich liegt die große Kunst genau da drin: Das alles absolut natürlich klingen zu lassen, ohne die Technik dahinter hervorblitzen zu lassen. Insofern ein wunderbares Lehrstück, das ich bestimmt noch das eine oder andere Mal lesen werde.

Ich fand das auch echt geschickt gemacht, wie sich das eigentliche Verbrechen (nennen wir es mal so) bzw. die eigentliche Schuld erst nach und nach offenbart. Zu Beginn gehe ich davon aus, dass es die Geschichte eines reumütigen Ehebrechers ist, aber da steckt noch viel mehr drin, und das Verweben der eigentlichen Schuld mit dem Ehebruch … Ja, das hat mir bestens gefallen. Ich hatte bei dem Teil der Geschichte, wo der Prota die Treffen mit Doris beschreibt, das versteckte Zimmer, die Heimlichtuerei, ein Gefühl von Sich-Selbst-Sein, auch ein bisschen 1984-Vibes gespürt, das war so ein bisschen wie da, wo sich Winston und Julia jeweils im Zimmer oberhalb von Mr. Charringtons Laden treffen.

Sehr gut gemacht und auch verständlich (da menschlich) finde ich auch die Teile, wo sich der Prota erklärt und wo er sich vor sich selbst (und auch dem Zuhörer) rechtfertigt. Das nehme ich ihm voll ab und bestimmt würden uns alle ähnliche Gedanken plagen und Entschuldigungen einfallen. Spannend ist ja auch die Frage, wem der Prota seine Geschichte erzählt. Da gibt's so viele Möglichkeiten (Therapeut, Polizist, Pfarrer …), und jede davon funktioniert.

Habe ich auch Kritik im Gepäck? Nun ja, nicht wirklich … Über den Weihnachtsbezug wurde ja schon einiges geschrieben, und klar, der fehlt derzeit noch, aber dafür nimmt der Schnee eine umso prominentere Rolle ein, und der ist in der Challenge-Ausschreibung mindestens genau so wichtig, wie Weihnachten selbst. Da im Nachhinein jetzt noch Weihnachten einzubauen … Ich weiß nicht. Ich finde den Text so absolut passend, mit oder ohne Weihnachten-Tag. Da bleibt mir nur folgender Kritikpunkt: Wo waren die Zigaretten? 😁 Bis zuletzt habe ich gehofft/gedacht, dass da noch Raucherware in irgendeiner Form vorkommt 😉

Hier noch ein bisschen Textkram:

Ich kann mich täuschen, aber müsste es nicht jeweils '71, '68 etc. heißen? Die 19 wird ja jeweils vor den Jahreszahlen abgeschnitten, nicht dahinter.

wir wurd richtig heiß und kalt, und natürlich guckten auch die Kollegen …
mir

… gab da so einen kleinen Pinte auf halbem Weg, direkt an der Sieg, da hatten die Fremdenzimmer, die wurden meistens von Monteuren gemietet …
eine kleine Pinte

Alle redeten sie von Sex und von Freiheit und wasweißichnicht, und wie toll das alles sein kann, nur ich, ich … naja.
na ja

Jetzt lassen Sie mich doch einfach erzählen, ich komm da schon noch drauf, ich, ich muss hier erstmal meine Gedanken sortieren, ist nicht so, dass mir das leicht fällt, das ist … danke, danke, ja, das wäre nett. Wissen Sie, es ist so - ich habe das noch niemandem erzählt, Sie sind ja der Erste, der erste Mensch, der das …
Hat mir gefallen, wie der Erzähler kurz mit der Schilderung stoppt. Der unterschwellige Druck, dem der Erzähler ausgesetzt ist, lässt mich vermuten, dass er die Geschichte wohl am ehesten einem Polizisten erzählt.

Ich hab ihr nix davon erzählt, dass die Gitta schwanger war, das wär nicht gut gewesen, aber ich nehm an, sie hats gemerkt, sie hat immer wieder gesagt, dass ich mich verändert hätt und was denn los ist, das hat sie gefragt, aber ich wollt nicht damit rausrücken, dass hätte sich nicht richtig angefühlt, weil …
das

War ja ein kalter Winter, hatte ich schon gesagt, und an diesem Donnerstag, an diesem Tag, da, da hab ich sie sitzengelassen
sitzenlassen würde mMn noch besser zur Erzählersprache passen.

ich wollte da in der Küche sitzen und alleine sein, einfach nur allein sein, das wollte ich, ich wusste ja, die Gitta, die ist auch da und der ihr Bauch wächst und wächst, das hat man ja gesehen, das hat jeder gesehen,
Vielleicht angleichen? Und das der kann glaube ich weg …

So ist das jetzt, so und nicht anders, und das wird auch so bleiben, das wird so bleiben bist du in der Kiste liegst.
bis

… ich weiß nicht, und manchmal denk ich schon, da denk ich, dasser doch den Mund aufgemacht hat, das er mir was sagen wollte, dass er was rufen wollte, dass er um Hilfe rufen wollte, dasser mich so gesehen hat wie ich ihn gesehen hab, und dass ich vielleicht der letzte Mensch war, den er gesehen hat, ausgerechnet ich!
dass

… ich fahr dran vorbei, und das ists jedesmal wie ein Stich, ja? Ein Stich …
da?

Ein starker Text, der ist beklemmend, düster und wunderschön zugleich.

Grüße
sevas

 

Da ich den Text jetzt ein zweites Mal lese, fallen einem auch ganz andere Dinge auf, weil ich das Ende kenne und es ist schon gut gemacht, wie er sich da windet, nach all den Jahren doch drüber sprechen will/muss, und dann eben irgendwie doch nicht und deshalb von Stöckchen zum Hölzchen kommt - was natürlich auch irgendwie gut ist, für den Spannungsaufbau, dass er sich da erst mal so "warmreden" muss und deshalb lieber über Nebel und dann seine Ehe erzählt, bis er dann später zum eigentlichen Punkt kommt.

Dearest @Fliege,

jetzt komm ich dazu, auf der Maloche ist Jahresende immer die Hölle los, dann war noch krank, ach ja, die Apokalypse naht!

Warmreden ist gut. Das ist ja auch so ein bißchen der Appeal dieser Stilistik, das Mäandernde, sich langsam Herausschälende, das Nebensächliche, was dann gar nicht so nebensächlich ist. Wenn das gut gemacht ist, zieht es einen rein: für mich gibt es da ein Meisterwerk, "Haircut" von Ring Lardner, das ist auf der ersten Ebene ein Gespräch mit einem Kunden beim Friseur, aber WAS erzählt wird, das ist so verdeckt, so vielschichtig und böse, das ist einfach sehr gut gemacht, versteckt hinter Lagen aus Warmreden. Daran habe ich mir ein Beispiel genommen und diesen Text ähnlch versucht aufzubauen.

ber wir sind uns einig, dass das da ein viel besseres äh ist
Die da's werden minimiert!

Irgendwie hat mich das total angefasst. Was für ne Aussicht auf ein Leben mit 25. Da liegen ja noch endlos Jahre vor einem und man weiß, da muss man jetzt durch, weil sich das so gehört. Aber wenn man erst mal auch andere Erfahrungen gemacht hat, weiß, wie es sich auh anfühlen kann, das Leben, die Frauen, ... dann ist das echt bittere Medizin. Wird damals vielen so gegangen sein. Männern und Frauen.
Ich denke, das ist ein wenig der Knackpunkt bei Geschichte A: so ist es heute, denke ich, auch noch oft. Wieviele Paare bekommen Kinder, weil man das so macht, wie viele bleiben zusammen, weil man es so kennt, wie viele kaufen ein Haus etc, weil sie es so erlernt haben, unbewusst? Das ist ein Schema, was unfassbar schwer zu durchbrechen ist, denke ich, weil man da auch Mut für braucht, sich diesen sozialen Konventionen zu widersetzen.

Eigentlich ja total unglaubwürdig sich nach all den Jahren an solche Details zu erinnern, und mal ab davon, dass deine Erzählung diese Details braucht, glaub ich tatsächlich, dass man sich an so was erinnert, wenn man diesen Nachmittag immer und immer wieder in der Erinnerung durchspielt. Vielleicht war das damals so, vielleicht hat sich die Geschichte über die Jahre auch verändert in seinem Kopf, aber er hat diesen Nachmittag im Laufe seines Lebens so oft durchlebt, dass er halt wirklich all die Details (real oder nicht) im Kopf hat.
Das ist ein guter Punkt, da gehe ich nochmal ran, nehme diese totale Präzision raus. Das ist vielleicht einfach auch zu unglaubwürdig, wenn er das so definitiv sagt, das ist natürlich richtig.

Absolut! Das ist wirklich ne krasse Geschichte. V.a. weil man auch ständig versucht, sich in seine Situation zu versetzen und man sich selbst fragt, was hättest Du getan. Und man weiß, was richtig wäre, aber was ich in der Situation wirklich getan hätte - keine Ahnung. Aber die Schuld, die man dann auf Ewig mit sich herumträgt, krass, darauf muss man erst mal klarkommen.
Ja, ich denke, heute, also 2023, da würde ich auch einfach weiterfahren, so krass das klingt. Ich hätte Bedenken, dass das irgendein mieser Trick ist: so suspekt ist einem das geworden, das ist eigentlich undenkbar. Man redet immer so viel über das Menschliche, aber wie viel ist da wirklich von übrig, wie viel ist man bereit, zu geben, zu riskieren? Wie viel ist man schon von den Medien beeinflusst etc? Klar, mit Distanz und ohne diesen direkten Konfrontation, da kann man immer viel sagen, theoretisieren, was man nicht alles tun könnte, würde, hätte. Aber ich denke, die menschliche Schwäche ist eben ein großer Faktor, und den kann man oft nicht beeinflussen, der passiert, und daraus gebieren sich Tragödien. Su isset Levve, wie man im Rheinland sagt.
Ja, sehr, sehr, sehr guter Text für mich. Kriegst ne Empfehlung von mir, wenn die Challenge vorbei ist oder Du den Text doch noch rausnimmst, weil Du da nix Weihnachten drin haben willst. Glaub aber, wenn Du den einfach in die Weihnachtszeit verlegst, tut es dem Text keinen Abruch. Der steht für sich. Der bleibt finster, kannste noch so viele Lichterketten reinpacken, macht dem gar nix.
Ist so ein Text, der mich emotional anfässt. Klar, die Backstory ist auch hart, wer bleibt da cool?, aber in solchen Fällen muss halt auch die Verpackung stimmen und die stimmt für mich.
Freut mich sehr. wenn er dir gefallen hat, der Text. Weihnachten, geb ich zu, da muss man wahrscheinlich beide Augen zudrücken, ich wollte aber bei der Challenge mitmachen und hatte nur diesen Text parat! Das ist meine Ausrede!, und ich gelobe Besserung.

Danke nochmals für Zeit und Kommentar, hat mich sehr gefreut, dich unter dem Text zu lesen.

Gruss, Jimmy

 

Das passiert mir sehr selten bei Storys oder Filmen, muss ich sagen.

Henry! Ich habe dich nicht vergessen. Ja!, so geht es mir auch. Wir sind eben medien-übersättigte Monster, die eigentlich nicht mehr zu schocken sind. Deswegen nehme ich das als Kompliment. In all der Wiederholung, die wir sehen, die wir kennen, was bleibt wirklich erzählenswert? Ich weiß es nicht. Ist es der Big Bang? Geschichten über Kulturen, deren Essenz wir niemals verstehen werden? Oder liegen diese Geschichten im Umkreis von 500 Schritten von unserem Zuhause entfernt? Ich glaube ja an den Realismus, den poetischen, den Neo-Realismus, egal, in all seiner Widersprüchlichkeit.
Ich fand auch die Erzählstimme stimmig in der Redundanz und mit den ganzen abgebrochenen Sätzen.
Ja, ein großes Kompliment, auch hier. Jeder Autor ist eitel, weil er sich selbst in seinen Geschichten lesen will, weil er meistens eine Agenda hat, aber ich versuche tatsächlich, all das zu reduzieren - es ist oft schmerzhaft, diese Charaktere zu schreiben, weil es eben auch ein Teil von mir ist, jedoch nicht in dem Sinne einer Agenda, einer Botschaft, sondern aus einem Erfahrungshorizont heraus. Na ja, was auch immer das bedeutet: Danke für deine Zeit und deinen Kommentar und sorry, dass du solange auf eine Antwort warten musstest.

Gruss, Jimmy

 

Vielleicht ist es gut, ein bisschen auf die Hintergründe einzugehen. Das würde mich, die nicht aus der Münchener Gegend kommt, sehr interessieren. Es könnte aber auch sein, dass viele denken, dass es so wie Du den Plot entwickelt hast, eigentlich am besten ist.

Hallo Frieda und danke dir für deinen Kommentar,

Much liegt aber nicht bei oder in München, sondern im Rhein Sieg Kreis. Ja, ich denke, die Frage ist bei solchen Texten, welche Geschichte will ich eigentlich wie erzählen? Wie es zu dem Verbrechen kam und was das für Hintergründe hat, ist für mich eine andere Geschichte. Ich denke, hier geht es mehr um die Kreuzung dieser beiden Schicksale, was das macht, der Zufall, der eine Moment, der ein Leben dann nachhaltig verändert. Der Weg dahin, wie kommt das alles zusammen?

Und Hallo auch an dich, Sturek, auch dir danke ich für Zeit und Kommentar.

Aber wo ist der Bezug zum Thema? Den kann ich hier beim besten Willen nicht erkennen. Außerdem betonst du an einer Stelle, dass er die Geschichte bisher nicht erzählt hat. Warum gerade jetzt?
Der Bezug zum Thema - Schnee! Weiße Weihnachten in der Ferne, in der Nähe, in Bälde, komm, einfach ein wenig assoziieren, dann passt das schon! Nein, klar, ist dürftig, ich weiß, ich habe es auch von Anfang an gesagt, aber da jetzt einen Satz einbinden: Doris wartet zuhause mit Geschenken unterm Weihnachtsbaum, das wäre doch auch arg konstruiert gewesen, oder? Deswegen lasse ich es einfach mal so. Warum er die Geschichte erst jetzt erzählt - daran habe ich natürlich auch gedacht - denn wie wir lesen, wurde ein Gedenkstein für dieses Verbrechen vor Kurzem (innerhalb der Zeitrechnung dieser Geschichte) aufgestellt, und an dem fährt er jeden Tag dran vorbei. Das hat ihn angerührt und er muss sich jetzt an diese alte Sache erinnern und sich dann wem anvertrauen. Rechtschreibung wird bei der kommenden Überarbeitung berichtigt!

Gruss, Jimmy

wird fortgesetzt!

 

Hallo Jimmy, da sitze ich dem Alten gegenüber und höre ihm, anfangs ein bisschen ungeduldig, aber je länger je interessierter zu. Er sieht schon etwas angeknabbert aus vom Leben, schütteres Haar, Tränensäcke und eine etwas feuchte Aussprache. Schaut einem nicht gerade in die Augen, sondern immer wieder auf seine Hände, die an irgendetwas herumkneten. Dass so eine Phantasie in meinem Kopf allein durch die Wörter dieses Monologs, ohne eine äußerliche Beschreibung der Person oder Umgebung, entsteht, finde ich frapierend.
Mitgenommen hat mich sein Annähern an die eigene Schuld, um sie dann gleich wieder zu relativieren, die Menschheit an sich anzuklagen. Sie/wir sind wohl so (wäre das nicht toll, wenn all der Mist, den wir machen, schlicht in unseren Genen läge und wie uns freisprechen könnten?).

Mir war das nicht klar, mir war das nicht bewusst, was da eigentlich passiert ist, ich meine, wer denkt an sowas? Doch keiner, oder? Grausam, ja, grausam, kann ich da nur sagen … so sind die Menschen wohl
Andererseits aber doch von seinen Gewissensbissen nicht wegzukommen, sie statt dessen ein halbes Jahrhundert mitzuschleppen. Ohne jemanden zu haben, dem er sich anvertrauen kann. Wieso aber jetzt? Vermutlich lässt mit zunehmendem Alter und der Aussicht auf das Ende der eigenen (Lebens-)Geschichte die Energie nach, die er braucht, um alles unter der Decke zu halten.
Eine gute Geschichte, die in mir noch ein bisschen weiter arbeitet.

Grüße Eva

 

Was ja wirklich so tragisch ist, ist, dass sein Fremdgehen mächtig Schuldgefühle auslöst, dass er viel unternimmt und plant, um ein Auffliegen zu vermeiden, es wird so deutlich, dass er da wirklich in einem Konfikt ist, aber der Versuchung eben erliegt. Das zieht sich so lange und erfordert so viel Organisation. Und eigentlich gelingt das auch, Gitta erfährt es vermutlich nicht, Doris zieht sich selbst zurück. Und dann ist es eine Unaufmerksamkeit, eine falsche Einschätzung, die die Katastrophe verursacht.
Hallo Chutney und danke dir sehr für deinen Kommentar,

das ist gut zusammengefasst. Es war so mein Ziel, das nebensächlich zu erzählen, und mein Hauptaugenmerk mehr auf den Weg zu setzen, wie der Protagonist zu diesem tragischen Endergebnis kommt. Da muss alles passen, die Motivation muss stimmen - warum tut er, was er tut? Ein Vorteil dieser Erzählweise ist ja, dass du so mäandernd sein kannst wie im echten Leben, wo man oft desorganisiert ist und eher von seinem Unterbewußtsein geleitet wird, nicht immer rational entscheidet; das spiegelt ja auch diese Art der Narration wieder.

Ich habe das Gefühl, von Anfang an versucht er sich vor sich selbst zu rechtfertigen. Aber hier weiß man noch gar nicht worum es geht.
Ja, das ist so das, was ich Anker nenne; der Text nimmt ja von Anfang an eine große Biegung, einen Umweg, nur durch dieses latente Wissen, das noch etwas anderes passiert sein muss, bleibt man dran - ist natürlich auch gefährlich, weil wenn es zuviel Strecke ist, steigt der Leser aus, das ist eben auch ein Risiko, was man nehmen muss.
Ich kriege das gerade nicht richtig rüberkopiert, aber ich finde es auch interessant, dass du da immer wieder so Absätze drin hast. So, als würde das Gespräch nach einer Unterbrechung fortgesetzt. Oder als wäre das auf Band aufgenommen und nur das Wichtigste transskribiert worden, weil er zwischendurch noch mehr abgeschwiffen ist.
Das ist ein guter Gedanke: man muss nicht notwendigerweise linear erzählen, und hier tut er das auch nicht immer. Diese Absätze sind auch für mich hilfreich, denn sie bilden in meinem inneren Koordinatensystem schon kleine, kompakte Blöcke, die gewissermaßen für sich selbst stehen, die ich manchmal auch später noch verschiebe ... aber das Zerissene, dieser Split, die Unterbrechung der zeitlichen Einheit, das soll auch schon etwas für die tatsächlichen Pausen im Sprechen selbst stehen, wie ein Atemholen, eine kurze Phase des Nachdenkens, des Sortierens.

Immer wieder die Betonung, dass er seine Werte hat, ein Gewissen, ein Selbstbild, wo das Fremdgehen eigentlich nicht reinpasst.
Ja, ich denke, es ist doch oft so, dass man ein Bild übernimmt, von seinen Eltern meistens, wie das Leben zu sein hat, und wenn man davon abweicht, stimmt etwas nicht. Wenn sich so etwas manifestiert, so ein Bild, dann ist das Abweichen oft auch mit Schuld verbunden, weil man denkt, wenn man nicht so ist, wie dieses Bild, dann entspringt das einem eigenen Fehlverhalten; wieviele haben Kinder bekommen, eine Familie gegründet, ein Haus gekauft, alles so gemacht, wie es erwartet wurde, und haben erst spät gemerkt, dass sie das alles gar nicht wollten? Viele Menschen haben keine gute Kenntnis über ihr Selbst, die verlassen sich eben auf die festgelegten Pfade, das wird schon!
Ich habe natürlich auch die ganze Zeit gedacht, dass mit ihr irgendetwas Schlimmes passieren wird und war auf diesen "Spurwechsel" später auch null gefasst.
Das ist für mich beides, Stärke und Schwäche zugleich: es ist ja im Grunde eine Art Twist, und ansonsten mag ich keine Twists. In dem Sinne, dass man sagt: Alle denken, es sei so, aber dann war es nur ein Traum! Hier ist es nochmal anders, er muss diese Vorgeschichte erzählen, um das nachher alles glaubwürdig zu verorten, um zu diesem Punkt zu kommen, denn diese Vorgeschichte gehört zusammen, das ist ein Teil, ein Ganzes. Und, einige Leser gehen da mit, andere nicht, die fühlen sich vielleicht sogar betrogen, das weiß man vorher ja nie. Aber für dich scheint es ja gut geklappt zu haben. Puh

Ja, lieber Jimmy, da hast du mich voll erwischt. Ist vielleicht auch ein Text, der einen ein bisschen demütig werden lässt gegenüber der menschlichen Schwäche im Allgemeinen und der eigenen Schwäche im Besonderen, denn irgendwas übersieht man ja doch mal und man kann nur dankbar sein, wenn es nicht so schlimme Auswirkungen hat, wie in deiner Geschichte.
Ein guter Schlusssatz! Vielen Dank für deinen tollen Kommentar nochmals!

Gruss, Jimmy

 
  • Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:
Zuletzt von einem Teammitglied bearbeitet:

Aber nein, ich bin sicher, dass diese Art zu schreiben ganz, ganz schwer zu bewerkstelligen ist. Das wirkt auf den ersten Blick sehr ungeordnet, aber da steckt ganz bestimmt eine Menge Komposition drin. Wahrscheinlich liegt die große Kunst genau da drin: Das alles absolut natürlich klingen zu lassen, ohne die Technik dahinter hervorblitzen zu lassen.

Moin sevas,

schwer zu sagen. Ich bastel da schon länger dran, aber ich habe das auch geübt und versuche mich seit Jahren an solchen Texten; wenn dann einer mal gut wird, kein Wunder, wie! Ich habe oft das Gefühl, wenn ich solche Texte schreibe, die klingen ähnlich, aber natürlich klingen auch Menschen in ihrem Sound ähnlich, das ist auch bedingt durch Klasse oder regionale Herkunft. Dann, nach einer Zeit, entwickelt der Charakter aber doch ein Eigenleben, das divergiert von denen der anderen, und dann wird es spannend, weil wenn du einmal den Erzähler etabliert hast, kann der dir alles erzählen, du glaubst ihm.

Ich fand das auch echt geschickt gemacht, wie sich das eigentliche Verbrechen (nennen wir es mal so) bzw. die eigentliche Schuld erst nach und nach offenbart. Zu Beginn gehe ich davon aus, dass es die Geschichte eines reumütigen Ehebrechers ist, aber da steckt noch viel mehr drin, und das Verweben der eigentlichen Schuld mit dem Ehebruch
Ja, klassischer Anker setzen und dann geht es los. Das ist natürlich hoch manipulativ, ähnlich wie bei Krimis, wo man kurz vor dem Ende ansetzt und dann rückwärts erzählt und dann erst das eigentliche Ende. Man will von vorneherein nur wissen, wie das ausgeht. Im Grunde eine Technik, die man gut im Genre lernen kann. Jim Thompson hat das auch oft gemacht, vordergründig irgendwo angefangen, mit einem Verbrechen oder einem geplanten Verbrechen, aber dann passiert X und das führt zu Y und schon sind wir woanders. Es liegt ja auch eine gewisse Unberechenbarkeit darin, weil man eben nie genau weiß, was der Erzähler nun erzählt, das kann sich in jedem Satz ändern. Denn so ist das echte Leben. Ich habe damals S-Town gehört, den Podcast, wo es erstmal um Recherchen zu einem Mord geht (das ist ein realistischer Podcast, also das passiert alles tatschlich!) aber dann bringt sich der Protagonist, der die Sache ins Rollen gebracht hat, während der zweiten Folge um. Wenn man das in einer fiktionalisierten Form bringt, dann würde man wahrscheinlich sagen: Das ist aber ein Effekt, das passiert in echt doch nie! Aber so etwas passiert. Also, wenn du den Erzähler einmal als glaubwürdig etabliert hast, dann kannst du, so denke ich, fast alles erzählen, denn schrägsten Haken schlagen.

Da bleibt mir nur folgender Kritikpunkt: Wo waren die Zigaretten? 😁 Bis zuletzt habe ich gehofft/gedacht, dass da noch Raucherware in irgendeiner Form vorkommt 😉
Hahaha, ja, bei mir wird oft geraucht, aber hier passte das irgendwie nicht rein. Würde, ähnlich wie der Weihnachtstag, also das so unbedingt reinbringen. Demnächst rauchen alle Zigarre, mindestens!

Danke dir für deinen Zeit und deinen Kommentar, sevas, auf bald!

Hallo auch an @Isegrims

Warum hast du das bis jetzt für ein fragwürdiges Stilmittel gehalten, die Wiederholungen? Ist auch bezeichnend, dass du wieder mal jeden auch nur leise positiven Kommentar noch vergiften musst: in meinen anderen Texten habe ich damit experimentiert, das war aber ja noch fragwürdig. Und natürlich schwächt sich das im letzten Drittel ab. Aber ansonsten ist das schon ganz manierlich, ne! Kommt man sich fast wie in der Schule vor, haha. Der Rhein-Sieg Kreis liegt nicht im Ruhrgebiet, nur nebenbei, und dialektal passiert hier auch nicht sonderlich viel in dem Text. Ich denke mir oft, wenn ich nichts Selbstloses zu sagen habe, wenn ich mein eigenes Ego nicht zurückschrauben kann oder will, wenn ich mir einen Text ansehen, wenn ich mir die Fragen stelle, was will der Text?, wie und warum ist der so aufgebaut?, dann mache ich mir lieber einen Zigarillo an und halte meine Schnauze. Ich denke aber, du wolltest ganz pedantisch jeden Text der Challenge kommentieren. Sei's drum.

Gruss, Jimmy

 

Dass so eine Phantasie in meinem Kopf allein durch die Wörter dieses Monologs, ohne eine äußerliche Beschreibung der Person oder Umgebung, entsteht, finde ich frapierend.
Hallo Eva, und schön, dich mal wieder zu lesen. Hattest was Pause, oder? Vielen Dank also für Zeit und Kommentar.

Ja, freut mich, wenn dich der Text so reinzieht, dass er auch sofort die Gedanken anregt. So soll es ja sein.

Mitgenommen hat mich sein Annähern an die eigene Schuld, um sie dann gleich wieder zu relativieren, die Menschheit an sich anzuklagen. Sie/wir sind wohl so (wäre das nicht toll, wenn all der Mist, den wir machen, schlicht in unseren Genen läge und wie uns freisprechen könnten?).
Ich denke, niemand kann sich von Schuld freisprechen, jeder kann sich schuldig machen. Gute Menschen erkennen jedoch ihre Schuld und gestehen sie ein.
Wieso aber jetzt? Vermutlich lässt mit zunehmendem Alter und der Aussicht auf das Ende der eigenen (Lebens-)Geschichte die Energie nach, die er braucht, um alles unter der Decke zu halten.
Eine gute Geschichte, die in mir noch ein bisschen weiter arbeitet.
Es gab auch einen konkreten Grund: den Gedenkstein für diesen Mord, an dem er jeden Tag nun vorbeifährt. Ich denke schon, dass man da ans nachdenken kommt, sich befreien will von dieser Last.

Gruss, Jimmy

 

Das ist wieder @jimmysalaryman wie ich ihn kenne: Eine Geschichte voller Details mit Lokalkolorit und einer unerwarteten Wendung. Mittlerweile habe ich mich an die reichlich eingestreuten Namen von Firmen, Lokalen und Biermarken gewöhnt, zumal sie in dieser Geschichte wirklich passen: So reden nun mal Menschen, wenn sie unter sich sind oder das zumindest glauben.

Ein Rentner schaut auf sein trostloses Leben zurück, in dem es 2 Höhepunkte gab: Eine Weile Sex mit einer Minderjährigen und der Schuld, einen Menschen nicht gerettet zu haben. Wie du das bringst, das ist schon meisterhaft – es war mir beim Lesen, als ob ich diesen Menschen erzählen hörte.

Aber ich habe auch 2 Kritikpunkte: Du entsorgst Doris ein wenig zu abrupt und genau zu dem Zeitpunkt, als auch der Erzähler mit ihr Schluss machen will. Das ist ein bisschen viel Zufall. Und dann ist der Grund für dieses Schlussmachen – Schwangerschaft seiner Frau – ein bisschen dünn.

Klar, das alles ist möglich, und der Prot erzählt das auch glaubhaft, aber da kommt bei mir trotzdem das Gefühl hoch, da ist an der Konstruktion der Geschichte geschraubt worden, bis es einigermaßen passte. Doch das ist zu verschmerzen, dies auch, weil der normale Leser sich diese Gedanken kaum macht oder machen wird – Hauptsache, die Geschichte wirkt glaubwürdig. Und das tut sie, kein Zweifel.

 

Eine Geschichte voller Details mit Lokalkolorit und einer unerwarteten Wendung. Mittlerweile habe ich mich an die reichlich eingestreuten Namen von Firmen, Lokalen und Biermarken gewöhnt, zumal sie in dieser Geschichte wirklich passen: So reden nun mal Menschen, wenn sie unter sich sind oder das zumindest glauben.
Danke dir für deine Zeit und deinen Kommentar.

Ja, man nennt mich neuerdings auch Heimatdichter!

Du entsorgst Doris ein wenig zu abrupt und genau zu dem Zeitpunkt, als auch der Erzähler mit ihr Schluss machen will.
Nun, sagen wir, das ist ja der Hauptpunkt der Geschichte, durch diesen Zufall kommt es ja erst zu den Geschehnissen, und die sind nun untrennbar in seiner Erinnerung.
Und dann ist der Grund für dieses Schlussmachen – Schwangerschaft seiner Frau – ein bisschen dünn.
Ich weiß nicht, ob das dünn ist. Ich denke, so ein Leben wurde oft einfach von dir erwartet, das sollte ja auch vorbereitet werden mit dem größeren Auto, dem Familienwagen, eine Ehe ohne Liebe, Kinder kriegen, das ist oft so gewesen, denke ich, das wurde nicht hinterfragt.
Klar, das alles ist möglich, und der Prot erzählt das auch glaubhaft, aber da kommt bei mir trotzdem das Gefühl hoch, da ist an der Konstruktion der Geschichte geschraubt worden, bis es einigermaßen passte
Ich verstehe, aber im Grunde ist das doch bei jeder Geschichte so, oder? Der Autor macht es passend für die Figuren, sonst gäbe es keine Geschichte. Ich meine, wie könnte man es anders machen? Dann hätte man ja nur Nicht-Geschichten, Anekdoten, oder?

Gruss, Jimmy

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom