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Komm runter

Challenge 3. Platz
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18.06.2015
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Komm runter

In Zweierreihe auf dem Kirchplatz, die Knaben vorne beim Eingang, dahinter die Mädchen. Sie warteten, bis sich die Seitentür öffnete, die den Fünft- und Sechstklässlern zugewiesen war. Novemberkälte kroch Tom die Beine hoch. Er musterte die zwei Gesichter aus Sandstein, die über dem Torbogen aus der Wand glotzten. Die sähen furchterregend aus, weil sie dazu da seien, Dämonen abzuschrecken, hatte seine Mutter einmal erklärt. Tom fand sie bloß hässlich, mit abstehenden Ohren und offenem Mund. Dem einen hatte man die Nase abgeschlagen.
Die Tür wurde geöffnet, die ersten Schüler gingen hinein und auf einmal hörte Tom Gelächter aus der Kirche. Draußen Gemurmel. Einzelne lösten sich von ihren Partnern und drängten nach vorne, um zu sehen, was los war. Andere drehten sich um und sagten, vielleicht habe wieder einer gekotzt. Frau Barmettler rief zur Ordnung, doch die Reihe zerfiel. Es formte sich eine Traube aus neugierigen Schülern, die den Eingang blockierte. Eine Weile ging gar nichts. Dann aber schlüpfte einer nach dem anderen hinein. Am Ende stand Tom zusammen mit vierzig Schülern und einer Lehrerin, der es die Sprache verschlagen hatte, in der Kirche. Sie blickten auf ein Christuskreuz, das in einer Seitenkapelle stand.
Die Skulptur war aus Holz und rund zwei Meter groß. Die Hände des Herrn überdimensioniert, die Arme verdreht. Der Brustkorb wirkte nicht sehr gut gearbeitet, die Rippen kaum angedeutet. Ein unscheinbares Kunstwerk, gewiss hatten viele der Schüler die Figur noch nie bewusst wahrgenommen. Doch jetzt starrten alle darauf, denn Jesus war mit Farbe beschmiert und auf der Vorderseite des Sockels, einer Fläche von der Größe eines Kinoplakats, war Komm runter, du Arsch in roten Buchstaben zu lesen.
Frau Barmettler drehte sich um, als wollte sie um Hilfe rufen. Und tatsächlich eilte ein Kirchendiener herbei, nahm ein Tuch, das auf einem Seitenaltar gelegen hatte, hängte es über den Sockel und beschwerte es mit einem Kerzenständer. Man konnte das sch noch immer sehen. Der Küster drehte sich um und hob beide Arme.
„Setzt euch hin“, presste er hervor. Frau Barmettler zuckte zusammen und schob zwei Jungen, die in ihrer unmittelbaren Nähe standen und noch immer kicherten, in Richtung Mittelschiff, während der Küster nach hinten ging und die Hauptpforte öffnete. Die Erst- bis Viertklässler strömten herein und wenig später erklang die Orgel, um den Schulgottesdienst zu eröffnen.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Tom saß in der Bank, hatte die Hände im Schoss gefaltet, murmelte Worte, die ihm so vertraut waren, dass sie nichts mehr bedeuteten. Das Entsetzen in Frau Barmettlers Gesicht. Die hektischen Gesten des Kirchendieners. Tom ahnte, was in ihren Köpfen abging. Verbrechen. Schande. Oder: Blasphemie, wie seine Mutter sagen würde. Er schloss die Augen. Sein Vater hätte gelacht, ganz bestimmt. Hätte sich an den Kopf gefasst und Mannomann! gerufen. Jesus, komm runter. Das ist ja mal eine Ansage. Das mit dem Arsch hingegen hätte er nicht gut gefunden. Sowas wäre ihm zu weit gegangen. Aber er hätte es verstanden.

Einmal, da war er vier oder fünf, hatte Tom während der Messe plötzlich zu plappern begonnen, die Worte des Pfarrers mit langgedehnten Lauten nachgesprochen. Toms Mutter legte ihm die Hand auf den Mund und schüttelte den Kopf. Sein Vater jedoch setzte eine ernste Miene auf, sah sie an, zuckte mit den Schultern und flüsterte, der Junge werde offenbar mal Priester. Worauf er den Arm um Toms Schulter legte und ihm mit warmer Hand über die Wange strich.

Tom drehte den Kopf, er hatte das Gefühl, der Vater säße jetzt neben ihm. Doch da war nur Jonas, mit abwesendem Blick und klappernden Zähnen. Vorne hob Pfarrer Gasser den Kelch und brach das Brot. Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach.
Jonas stupste Tom an. „Voll krass!“, sagte er leise. „Das mit dem Jesus.“
Tom drehte sich um, Frau Barmettler war nicht zu sehen. „Ja.“
„Wer hat das gemacht?“
„Weiß ich doch nicht.“ Tom griff nach dem Gesangsbuch, das vor ihm lag. Blauer Einband mit aufgedrucktem Kreuz. Jonas sah ihn fragend an und Tom legte das Buch wieder hin. Dann standen sie auf, traten in den Mittelgang und gingen nach vorne, um die Kommunion zu empfangen. Tom war schwindlig, er hatte nicht gefrühstückt, und als er die Oblate auf die Hand gelegt bekam - der Leib Christi - war ihm, als fiele er gleich in Ohnmacht. Er hatte ein Zirpen im Ohr.

Die Grillen nervten, hatte sein Vater gesagt. Ob man die ausschalten könne? Das war im August und da hatte er schon über zwanzig Kilo abgenommen. Die Haut voller Flecken. Der Atem roch schlecht.
„Wie ist die neue Lehrerin?“, fragte er.
„Frau Barmettler? Sie ist nett.“
„Nett. Aha. Ist sie hübsch?“
„Ähm.“
„Also ja“. Er lachte. Dann nahm er Toms Hand. „Brich ihr nicht das Herz, ja?“ Er musste husten. Toms Mutter kam herein, schloss das Fenster und schob ihn sanft zur Seite.
„Vater braucht Ruhe“, sagte sie.

Gasser sprach den Segen und sie verließen die Kirche. Frau Barmettler hatte sich vor die Seitenkapelle gestellt, wie eine Verkehrspolizistin. Hinter ihr Jesus, mit roten Klecksen auf der Brust.
„Das waren bestimmt Dotta und Döbe“, sagte Jonas, als sie den Weg hinunter zum Schulhaus gingen. Es nieselte und Tom zog sich die Kapuze über den Kopf.
„Kann sein.“
„Die sind ständig betrunken, habe ich gehört.“
„Aha.“ Tom bedauerte, dass er nichts weiter dazu sagte. Jonas war sein Freund. Er war der einzige, der normal geblieben war. Der ihm in die Augen sah, wenn sie sich begegneten. Der genauso von Fürzen sprach und über Mädchen lästerte wie die Wochen zuvor. Jonas brauchte ihn nicht mit leiser Stimme zu fragen, wie es ihm ging, denn sein Vater war ebenfalls gestorben. Nicht langsam, sondern bei einem Unfall. Aber darauf kam es nicht an.
„Bin gespannt, was deine Mutter dazu meint“, sagte Jonas und beschleunigte die Schritte. Tom hielt mit, sein Atem ging schnell, die Luft brannte in der Lunge.

Dieses Jahr hatten sie nach der Messe Religionsunterricht, eine zufällige Laune des Stundenplaners und im Ergebnis eine geballte Ladung Gott, wie Jonas sich ausdrückte. Und dieses Jahr war Toms Mutter die Lehrerin. Katechetin mit Diplom. Sie unterrichtete nur zwei Klassen, aber gerade seine war betroffen. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie so taten, als wären sie nicht miteinander verwandt. Dass er sie Frau Gander nannte. Das sei professionelles Verhalten, hatte sie gesagt.
Die anderen aus Toms Klasse schien nicht zu kümmern, was mit der Christusfigur geschehen war. Während sie ihre Jacken an die Garderobe hängten, sprachen die Jungs über Luzerns vier zu null gegen Basel. Die Mädchen trällerten ein Lied. Als sie aber das Zimmer betraten und Frau Gander sahen, verstummten sie. Sie setzten sich, Tom und Jonas ganz nach hinten, so wie immer. Toms Mutter trat vor das Pult. „Frau Barmettler hat es mir erzählt. Was man getan hat. Was jemand getan hat“, sagte sie und verschränkte die Arme. Die Schüler starrten auf ihre Pulte, als müssten sie ein schlechtes Gewissen haben. Tom sah seiner Mutter in die Augen. Sie war nicht zornig, das wusste er. Ihr Gesicht sah aus, als wäre sie krank, die Wangen ohne Farbe, die Nasenspitze rot. Die Mundwinkel zuckten. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn ihr die Tränen gekommen wären, obwohl er sie noch nie hatte weinen sehen.
„Vor dieser Figur habe ich jeden Tag gekniet, die letzten zwei Jahre.“
Einige drehten den Kopf und Tom rückte seine Brille zurecht. Der Regen war stärker geworden, Tropfen schlugen gegen das Fenster.

Es stimmte. Zwei Jahre. Immer wenn Tom von der Schule kam, nahm sie den Rosenkranz, der auf dem Schlafzimmertisch lag, zog die schönen Schuhe an und sagte, sie gehe zur Kirche. Tom machte Hausaufgaben. Ab und zu schaute er nach seinem Vater, der meistens schlief. Um halb sieben war sie zurück, schob eine Fertigpizza in den Ofen und ging ins Schlafzimmer, wo sie sich für eine halbe Stunde hinsetzte und Blumenmotive auf Kissenüberzüge stickte. Später kam Herr Durrer, der Arzt. Am Anfang einmal die Woche, am Ende fast jeden Tag. Der nette Mann mit Morphium, wie Toms Vater sagte.
Toms Mutter übernahm die Pflege. Er werde zuhause sterben, hatte sie gesagt, nachdem Durrer erklärt hatte, dass ihr Mann den Krebs nicht besiegen werde. Das gebiete die Nächstenliebe und sie alle wollten es so. Tom stand daneben, mit Tränen in den Augen, und nickte. Am selben Abend rief er den Präsidenten des Schachklubs an, wo er zweimal die Woche spielte, und sagte, er komme nicht mehr ins Training. Er erledigte Einkäufe, brachte dem Vater Bücher aus der Bibliothek – ein Buch zu kaufen macht irgendwie keinen Sinn mehr, nicht? – las ihm daraus vor, reichte Säfte und Äpfel, am Ende nur noch Wasser, tat dieses, tat jenes, weil man nichts tun konnte.
Wie stark sein Vater gewesen war! Er hatte ihn den ganzen Weg vom Buochserhorn hinunter ins Dorf getragen, als sie wandern waren und Tom sich den Knöchel verstaucht hatte. Keine Sache, hatte er gesagt und zu singen begonnen, vom Schacherseppli, dem Vaganten. An Weihnachten gingen sie zum See, während Toms Mutter den Baum schmückte, und ließen Steine über die Oberfläche hüpfen. Von ihm hatte Tom gelernt, in welchem Winkel er werfen musste. Bald war wieder Advent.
„Es ist eine Prüfung für uns alle“, hatte die Mutter einmal gesagt, als sie Tom aus dem Schlafzimmer kommen sah. „Auch für dich.“ Sie strich ihm übers Haar. Tom fragte sich, was geschehen würde, wenn er durchfiele, und was er können musste, um zu bestehen. Er traute sich nicht, sie zu fragen. Er hatte gelernt, so zu tun, als verstünde er alles, was sie sagte, als wäre er mit allem einverstanden. Sie sprachen nicht viel. Abends saßen sie vor dem Fernseher, den Ton leise gestellt, damit sie hören konnten, wenn Toms Vater etwas brauchte.
Am Tag nach seinem Tod gingen sie ins Dorf, zur Gemeindeverwaltung. Es war warm, der Sommer hatte noch nicht aufgegeben.
„Dein Vater ist jetzt im Himmel“, sagte sie.
Eine Weile dachte Tom nach, dann sagte er: „Ich bin kein Kind mehr.“
„Doch“, sagte sie. „Das bist du.“

Sie stand noch immer vor dem Pult, ließ den Blick über die Klasse schweifen.
„Entschuldigt bitte“, sagte sie. Sie ging zurück an ihren Platz, setzte sich hin, nahm einige Blätter in die Hand und blickte auf. Nun begann der Unterricht, dachte Tom. Aber sie sagte: „Wie kann man nur so etwas tun?“

Die Woche bevor der Vater starb, hatte ihm Tom ein zweites Kissen unter den Nacken gelegt, ein Glas Wasser gereicht – zwei kleine Schlucke – und ihm ein Buch in die Hand drücken wollen. Sein Vater konnte es nicht festhalten und es fiel auf die Decke.
„Geht nicht“, sagte er.
„Versuch es nochmal.“
„Ich bin zu müde. Ich muss schlafen.“
Tom nahm das Buch, seine Hände zitterten. „Dann schlaf doch!“, schrie er und warf das Buch auf die Kommode, wo es über die Oberfläche rutschte und zu Boden fiel.
„Tom“, sagte der Vater.
Er konnte nicht antworten. Er hatte das Gefühl zu ersticken, als wäre etwas im Hals, presste die Kiefer aufeinander. Tränen traten in seine Augen. Er hob das Buch auf und rannte aus dem Zimmer. Später schämte er sich so sehr, ihn angeschrien zu haben, dass er erst am nächsten Tag wieder zu ihm ging. Der Vater lächelte, als er ihn hereinkommen sah, was Tom erleichterte. Noch lieber hätte er gehabt, wenn er mit ihm geschimpft hätte, wenn er aufgestanden wäre und ihm gesagt hätte, so dürfe man nicht mit seinem Vater reden.
„Er wehrt sich gar nicht“, sagte Tom zur Mutter. Sie saßen auf dem Sofa und sahen sich eine Tierdokumentation an. Ameisen krabbelten einen Baum hoch. Tom hatte vergessen, weshalb sie das taten, obwohl es der Sprecher gerade eben erklärt hatte.
„Das ist nicht fair, Tom. Er kämpft jeden Tag.“
„Stimmt gar nicht!“
Sie legte den Zeigefinger auf den Mund und blickte in Richtung Schlafzimmer. „Du musst es annehmen“, sagte sie leise. „Gott will es so.“ Sie sahen wieder auf den Bildschirm. Drei Ameisen schleppten einen toten Artgenossen mit sich, bis sie ihn irgendwo liegen ließen.

Toms Mutter schüttelte den Kopf. Sie legte die Blätter hin und starrte aus dem Fenster. Graupel hatte sich in den Regen gemischt. Die Klasse blieb still. Jonas drehte den Kopf zu Tom und hob die Augenbrauen. Es war, als würden sie alle auf etwas warten. Toms Puls wurde schneller. Das Zirpen kehrte zurück.
Früher gingen sie jeden Samstag spazieren, zu dritt, den Fluss entlang. Im Winter lieferten sie sich Schneeballschlachten. Toms Vater gegen ihn und seine Mutter, die ihm Deckung gab. Wie hatte ihr Lachen geklungen? Tom konnte sich nicht erinnern.
Vorgestern hatte sie gesagt, dass sie eine Kerze anzünden und beten gehen wolle. In die Kirche, zur Christusfigur. Um zu danken. Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben.
Tom hob die Hand. „Frau Gander.“
Sie sah ihn überrascht an. „Ja?“
„Ich war's.“
Einige wendeten den Kopf und starrten ihn an. Jonas bewegte sich nicht, Tom konnte ihn atmen hören.
„Alter!“, murmelte sein Freund.
„Was hast du gesagt?“, fragte Toms Mutter.
Tom stand auf. „Ich hab das gemacht. Den scheiß Jesus angemalt.“ Er ging nach vorne zur Tür, die Mutter stellte sich ihm in den Weg.
„Du bleibst hier!“ Sie versuchte ihn zu fassen, aber er duckte sich und glitt unter ihrem Arm durch. Er schlug auf die Türklinke, trat auf die Schwelle und drehte sich um. Seine Mutter hatte nicht nachgesetzt, sie stand bloß da, mit schlaffen Armen. Tom drosch mit der Faust gegen den Türrahmen.
„Scheiß auf Gott!“

Der Raum war klein. Holztäfelungen an der Wand. In der Mitte ein quadratischer Tisch, an dem sie saßen. Es war nach sechs, Pfarrer Gasser hatte zuvor keine Zeit gehabt. Er trug eine schwarze Soutane, das Haar nach hinten gekämmt. Die Hände gefaltet, als wollte er beten, saß er Tom gegenüber. Tom fiel auf, wie platt seine Nase war.
„Wie alt bist du?“, fragte Gasser.
„Zwölf.“
„Im Januar“, sagte Toms Mutter. Sie saß links von ihm, ihr gegenüber rutschte Frau Barmettler auf dem Stuhl hin und her. Tom wusste nicht, wen er ansehen sollte und blickte auf das Bild, das hinter Pfarrer Gasser an der Wand hing. Die Mutter Gottes mit dem Christuskind im Arm. Das Gemälde war rund, Marias Kleid leuchtete in kräftigem Blau.
„Aha“, sagte Gasser. „So. Dann erzähl uns, weshalb du das getan hast.“
„Woher hattest du überhaupt die Farbe?“, fragte Frau Barmettler. Der Pfarrer verzog das Gesicht. Aber dann wiederholte er ihre Frage.
„Aus unserer Garage“, sagte Tom.
„Die Kirche war offen?“, fragte Gasser.
„Ja.“
„Gestern Abend?“
Tom nickte.
„Und dann bist du hinein?“
„Ja.“
Die Luft im Raum war trocken und Toms Hals schmerzte. Auf einmal stand seine Mutter auf.
„Sag mir, warum!“, sagte sie. Frau Barmettler erschrak und wich zurück. Tom senkte den Kopf, überlegte, was er antworten sollte. Er zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht“, sagte er.
„Du weißt es nicht.“ Gasser bedeutete der Mutter, sich wieder hinzusetzen. Frau Barmettler nestelte an ihrer Bluse herum, sie hatte eine Brosche angesteckt, die zu schwer für den dünnen Stoff war. Gasser faltete erneut die Hände. Tom wurde übel, er wollte aufstehen und aufs Klo rennen. Warum konnten sie ihn nicht einfach bestrafen?
„Geht es dir gut, mein Junge?“, fragte Gasser. Tom nickte und der Pfarrer räusperte sich.
„Du hast geschrieben, Jesus solle herunterkommen“, sagte er.
„Ja.“
„Findest du das lustig?“, fragte Toms Mutter, aber der Pfarrer hob die Hand. Er rieb sich die Nase, als müsste er nachdenken.
„Gut. Angenommen, er kommt wirklich herunter“, sagte er. Frau Barmettler runzelte die Stirn. Das Bild hinter Gassers Schulter wurde unscharf, Tom sah bloß noch blaue Farbe. Er hatte den Geruch von Weihrauch in der Nase. „Was würdest du tun?“, fragte der Pfarrer.
„Er ist so ein braver Junge!“, rief Frau Barmettler dazwischen. „Ich hätte nie gedacht, dass er …“
„Hat er aber“, sagte Toms Mutter.
Gasser ließ sich nicht beirren. „Also, Tom. Was würdest du tun?“ Er sah Tom an.
„Er soll sagen, weshalb er das wollte. Dass Vater stirbt“, sagte Tom und es gelang ihm, die Tränen zurückzuhalten. Gasser lehnte sich zurück und blickte zu Toms Mutter. Sekunden vergingen. Tom kniff die Augen zusammen, Maria gewann wieder an Kontur. Frau Barmettler beugte sich zu ihm und bewegte lautlos die Lippen, während seine Mutter den Kopf in die Hände legte. Ihr Atem ging schwer. Toms Gesicht war heiß, die Füße fühlten sich an, als steckten sie in Eiswasser.
„Nun gut.“ Gasser räusperte sich wieder. „Was machen wir mit dir?“, fragte er.
„Er hat noch nie etwas Schlimmes getan“, sagte Toms Mutter, den Kopf noch immer zwischen den Händen vergraben. Tom setzte sich gerade hin.
„Das weiß ich.“ Gasser dachte nach. „Selber putzen kann er die Schweinerei nicht. Das ist zu heikel.“
„Ja“, sagte Toms Mutter. Sie hob den Kopf.
„Das wird teuer.“
„Ja.“
„Vielleicht kann er etwas helfen? Gartenarbeit?“, fragte Frau Barmettler.
„Womöglich“, sagte der Pfarrer. „Das ist eine Idee. Wir werden das abklären.“

Es hatte aufgehört zu regnen. Neben dem Pfarrhaus ragte der Kirchturm in die Höhe, dahinter konnte Tom den Mond sehen, verdeckt durch Wolken, schwach schimmernd.
„Gehen wir zum Grab“, sagte seine Mutter.
Es war nur ein kurzer Weg, aber Tom schien es ewig zu dauern. Die Mutter schwieg. Er sah zu ihr hoch. Sie öffneten das Tor und gingen hinein, dorthin, wo sein Vater begraben war. Neben dem Kreuz standen Kränze mit Schleifen in Rot und Gelb. Sie nahm einen Tannzweig, der in einer Steinschale lag, und sprenkelte Weihwasser auf das Immergrün. Als sie Tom den Tannzweig überreichte, berührten sich ihre Hände. Sie sah ihn an und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

 

Liebe Novak

Schon wieder Glück gehabt. Schön, dass dein (neuer) Kommentar doch noch seinen Weg gefunden hat. Danke für deine Worte.

Die Konstruktion. Für mich war klar, dass die Botschaft Komm runter relativ früh in der Geschichte auftauchen sollte. Und ich habe mir die Geschichte auch in dieser Reihenfolge ausgedacht. Jemand aus meiner Familie hat mal erzählt, in meinem Heimatdorf sei eine Frau aus dem Altersheim abgehauen, habe sich in der Kirche auf den Boden gelegt und Jesus zugerufen: "Komm runter, ich will vögeln!" Das war mein Ausgangspunkt, dieses "Komm runter" und dann habe ich mir überlegt, wer unter welchen Umständen sowas hinschreiben könnte. Der Text folgt also gewissermassen dem Entstehungsprozess.

Sehr cool, dass dich das überzeugt hat. Ich bin immer etwas skeptisch bezüglich Rückblenden, die erklären sollen, wie der Prot in eine Situation geraten ist. Das fügt sich häufig wenig organisch in den Text ein. Aber ich denke, das Motto, der Wandspruch hat hier geholfen, weil sich der Leser diese Rückblenden wünscht, um seine Neugier zu befriedigen (habe ich zumindest gehofft).

Da muss man dann schon noch mal extra gucken, weil man so gefangen genommen wurde. Von Figuren, Atmosphäre und Erinnerung an eigene Erlebnisse.

Ein sehr schönes Kompliment, denn für mich ist ein Text dann gelungen, wenn man nicht mehr darüber nachdenkt, nachdenken will, wie er gemacht wurde.

Definitiv eine meiner allerallerliebsten Geschichten.

Vielen Dank, liebe Novak, das freut mich riesig.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hej Peeperkorn,

nach mehrmaligem Anlesen deiner Geschichte, habe ich mich schlussendlich doch durchgerungen, und mich deinen Themen genähert. Ich bin mit der Kirche nicht vertraut, schon gar nicht mit der katholischen, und mich hier erneut dem Sterben mit all seinen Verlusten auszusetzen, ist viel verlangt.
Aber darum geht es natürlich nicht.

Sowohl Deinen genauen Ton, als auch die bildlichen Beschreibungen bilde ich mir ein, zu erkennen. Ich weiß diese Qualität zu schätzen.

Das ganze kirchliche Gebilde und die Gepflogenheiten habe ich mir erlaubt, schnell hinter mich zu lassen und mich den Personen genähert, der Mutter und ihrem Sohn und immer wieder steht eine Figur der Bibel zwischen ihnen. Nur der Lebendikeit des Jungen ist es zu verdanken, dass er sich nicht zufrieden gibt mit Abstraktem, nach dem all dem, was er durchleben musste.

Er wird wohl zeitlebens viele Fragen stellen, aber zu seiner Mutter hat er einen Weg gefunden.

Ich freue mich auf weitere Geschichten von dir. Freundlicher Gruß, Kanji

 

Hallo Peeperkorn,

Deine Geschichte hatte ich schon vor längerem gelesen und nun, nachdem sie wieder oben auftauchte, wollte ich endlich mal einen kleinen Kommentar schreiben.

Auch mir hat sie sehr gut gefallen. Die Atmosphäre, die Figuren, das Umfeld konnte ich mir alles sehr gut und stimmig vorstellen und die Geschichte berührt. Armer Junge.

Aber einen kleinen Kritikpunkt habe ich dann doch noch (vielleicht kam der auch schon einmal - ich muss gestehen, alle Kommentare habe ich nicht gelesen): Dass Toms Mutter auch noch seine Religionslehrerin ist, war mir dann doch ein wenig zu viel und ist, denke ich, auch eher unwahrscheinlich. Schulen achten normalerweise darauf, dass Lehrer nicht die eigenen Kinder unterrichten. Aber natürlich ist so eine Konstellation nicht ausgeschlossen.

Und dann spielt die Mutter auch noch das Theater, dass sie nicht mit dem Sohn verwandt ist. Puh, ich muss sagen, da war ich etwas "sauer". Erst auf die Mutter und dann auf den Autor, was aber immerhin die richtige Reihenfolge ist. Du merkst hoffentlich an dem Tonfall, dass das nur ein sehr kleiner Kritikpunkt ist. Mir ist schon klar, dass Du damit die schlechte Beziehung zum Sohn charakterisierst. Trotzdem "fremdel" ich damit ein wenig.

Gruß

Geschichtenwerker

 

Liebe Kanji

Danke fürs Reinschauen. Mich überrascht die Tatsache irgendwie doch, dass man sich durch die Thematik abgeschreckt fühlt, weil man mit Religion nichts am Hut hat. Habe ich ja selbst nicht. Aber das ist doch einfach eine der vielen sozialen Realitäten, nicht? Aber wie ich schon in einer anderen Antwort geschrieben habe, besitze ich selbst Aversionen gegenüber bestimmten Thematiken, da kann man ja auch nicht für oder gegen argumentieren.

Schön, dass du dich dennoch auf die Sache eingelassen hast, auf die Figuren und ihre Beziehungen, wo ich ja auch den Fokus setzen wollte. Vielen Dank für die Rückmeldung!

Hallo Geschichtenwerker

Merci auch dir für den Kommentar. Es freut mich, dass dir der Text gefallen hat. Ja, die Konstruktion Mutter = Lehrerin brauche ich halt, das ist meines Erachtens essentiell. Und eine meiner Mitschülerinnen hatte auch mal ihren Vater als Religionsslehrer. Aber ich kann deine Bedenken schon nachvollziehen. Nicht jeder Leser glaubt jede Lüge. :)

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
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Hey Peeperkorn,

das ist ein spannendes Thema: Religiosität versus Realität des Leidens. Die Frömmigkeit der Mutter beantwortet Toms Fragen nach dem Sinn des Todes seines Vaters nicht. Sie hat keine Antworten außer „Gott will es so.“ Klasse. Damit ist ja alles geklärt. Insgesamt sind mir die Kirchenvertreter ein wenig zu hilf- und sprachlos, wenn es darum geht, Tom die Position der Religion zu den Ungerechtigkeiten des Lebens zu erklären. Denn das ist ja ein Standardargument der Atheisten (Wenn es Gott gibt, weshalb lässt er so schreckliche Dinge zu?), und deshalb haben auch die Kirchenleute rhetorisch aufgerüstet und wissen dazu meist etwas halbwegs Schlaues zu sagen.

Ich weiß, es ging Dir nicht um eine religionsphilosophische Diskussion, aber von einer Religionslehrerin erwarte ich selbst in einer kleinen Geschichte ein bisschen mehr. Es sei denn, Du willst zeigen, dass sie ebenfalls in ihrem Glauben erschüttert wurde.

Die Geschichte hat einen interessanten Subtext, aber irgendwie verstehe ich nicht ganz, wie sich daraus eine konsistente Aussage ableiten ließe. Die Mutter ist schockiert wegen der Schmähung des Kruzifix und dass ihr Sohn der Übeltäter war. Tom steht dem Glauben seiner Mutter ratlos gegenüber, er bedeutet ihm offenbar nicht viel und besudelt die Devotionalie, die seiner Mutter so viel bedeutet und auch ihr Objekt des Trostes war. Okay. Das zeigt das Versagen der Religion im Falle von Tom. Aber was sonst noch? Hm, bin nicht ganz sicher.

Ein paar Kleinigkeiten:

In Zweierreihe auf dem Kirchplatz, die Knaben vorne beim Eingang, dahinter die Mädchen. So hatte es sich eingespielt, das gehörte genauso zum Ritual wie das Kyrie oder die Bereitung der Gaben.

Entweder, Du setzt voraus, dass Deine Leser wissen was das Kyrie ist oder Du erwartest, dass sie es nachschlagen oder einfach drüber hinweglesen. Gerade am Anfang eines Textes finde ich das nicht optimal. Ich bin kein Kirchgänger, und mir sagte der Begriff nichts. Also Googeln und das heißt, ich war gleich raus aus dem Text.

Clivia streckte ihm die schlaffe Hand entgegen, den Blick von ihm weg und auf die Friedhofshecken gerichtet.
Sie warteten, bis sich die Seitentür öffnete, die den Fünft- und Sechstklässlern zugewiesen war. Vor ihnen tuschelten Rita und Marlène, so leise, dass Tom nichts verstehen konnte, aber laut genug, um von Frau Barmettler, die zuhinterst stand, zurechtgewiesen zu werden. Novemberkälte kroch ihm die Beine hoch. Er hüpfte auf und ab – was Clivia dazu brachte, den Händedruck zu verstärken – und musterte die zwei Gesichter aus Sandstein, die über dem Torbogen aus der Wand glotzten.

In dem Abschnitt haben mich ein paar Kleinigkeiten irritiert. Zwischen Clivias Handentgegenstrecken und dem Punkt, wo sie den Händedruck verstärkt, passiert so viel, dass ich mich gewundert habe, dass die immer noch beim Händeschütteln sind. Außerdem finde ich es merkwürdig, dass ausgerechnet sie den Händedruck verstärkt, und damit Aufmerksamkeit von Tom einfordert, obwohl sie es doch war, die ihrem Gegenüber die Hand gibt ohne hinzuschauen. Alles nur Kleinigkeiten wie gesagt, aber das störte mich im Lesefluss.

Im Nachhinein frage ich mich, welche Rolle diese Clivia überhaupt spielt. Sie wird später im Text nicht mehr erwähnt. Weshalb hast Du sie eingebaut?

Nächstes unbekanntes Wort: Sigrist. Noch nie gehört. Also wieder googeln. Hm.

Das Szenario scheint mir ein wenig unglaubwürdig: Würde man eine Kirche für die Messe öffnen, wenn da die heiligste Stelle geschändet wurde? Ich kann mir das nicht vorstellen. Das sollte doch dem Pfarrer oder einem Kirchdiener vorher auffallen.

Er hatte ein Zirpen im Ohr ... Die Grillen nervten, hatte sein Vater gesagt. Ob man die ausschalten könne?

Hier verstehe ich nicht, weshalb Tom ein Zirpen hört, das dem Vater in seiner Krankheit zu schaffen machte. Ist das eine Form von Übertragung?

Fazit: Ich habe die Geschichte gern gelesen. Ein paar Zusammenhänge sind mir nicht klar, aber der letzte Absatz zeigt, dass Mutter und Sohn wahrscheinlich wieder zu einander finden. Das ist schön, wenn auch ein bisschen lauwarm, für meinen Geschmack. Mir fehlt bei der Geschichte das Substanzielle, das Nachdenken und Reden über den Tod den Vaters. Die Erzählung umschifft die für mich interessanteste Frage, wie Tom nun eigentlich mit dem Tod des Vaters umgehen sollte oder könnte. Er begehrt auf, rebelliert, und dann geht alles wieder seinen braven Gang, das reicht mir nicht so ganz. Andererseits ist bald Weihnachten, und da sind versöhnliche Stories nicht verkehrt.

Vom Schreibstil her gefällt mir es mir sehr gut. Ein paar Konstruktionsschwächen (meiner Empfindung nach) habe ich Dir aufgezeigt, vielleicht findest Du es nützlich. Ich freue mich jedenfalls auf Deine nächste KG.

Gruß Achillus

PS: Sorry, wenn ich was geschrieben habe, das andere Kommentare schon gezeigt haben. Ich schaue mir die anderen Kommentare jetzt erst an.

 
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Hallo Achillus

Ich mag den analytischen Blick auf Texte, lese deine Kommentare jeweils sehr gerne und freue mich, dass du meinen Text unter die Lupe genommen hast.

Zunächst zu den Details: Ich habe den Einstieg stark verkürzt, Clivia ganz aus der Geschichte rausgenommen. Da war ich eh gerade dran. Damit fällt auch das Kyrie weg. Den Sigrist hab ich zum Küster gemacht. Das versteht man wiederum in der Schweiz nicht unbedingt, aber ich habe das mal der Mehrheit der Leser hier angepasst.

Dass niemand den Vandalismus bemerkt hat, halte ich nicht für unwahrscheinlich, der Gottesdienst findet offensichlich früh am Morgen statt, die Statue steht in einer Seitenkapelle. Und nachdem der Schriftzug abgedeckt ist, kann man auch die Messe durchführen - ist ja kein Bombenalarm oder so.

Bleiben noch die grossen Fragen:

Ich weiß, es ging Dir nicht um eine religionsphilosophische Diskussion, aber von einer Religionslehrerin erwarte ich selbst in einer kleinen Geschichte ein bisschen mehr. Es sei denn, Du willst zeigen, dass sie ebenfalls in ihrem Glauben erschüttert wurde.

Ja. Ich habe selbst mal in der Katechetikausbildung mitgearbeitet (als atheistischer Philosophiedozent :) ). Mir schien damals nicht, dass den Leuten im Kurs die Spitzfindigkeiten der Theodizee-Problematik auch nur ansatzweise vertraut gewesen wären.
Und ich wollte die eigentliche Thematik auch nicht allzu sehr durch diesen abstrakten Diskurs belasten. Womit wir beim nächsten Punkt wären.

Die Geschichte hat einen interessanten Subtext, aber irgendwie verstehe ich nicht ganz, wie sich daraus eine konsistente Aussage ableiten ließe. Die Mutter ist schockiert wegen der Schmähung des Kruzifix und dass ihr Sohn der Übeltäter war. Tom steht dem Glauben seiner Mutter ratlos gegenüber, er bedeutet ihm offenbar nicht viel und besudelt die Devotionalie, die seiner Mutter so viel bedeutet und auch ihr Objekt des Trostes war. Okay. Das zeigt das Versagen der Religion im Falle von Tom. Aber was sonst noch? Hm, bin nicht ganz sicher.

Ich wollte das eigentlich so verstanden wissen, dass gerade in diesem Subtext die eigentliche Prämisse des Textes verhandelt wird: abstrakte Religiösität entfremdet von der Realität des Leidens, wie du das ja eingangs deines Kommentars geschrieben hat. Im Zentrum steht für mich die Nichtanerkennung von Toms Leid durch seine Mutter. Natürlich ist da die Theodizee-Frage, die ist schon auch wichtig, aber mich interessiert eher die Beziehung von Mutter und Sohn.

Mir fehlt bei der Geschichte das Substanzielle, das Nachdenken und Reden über den Tod den Vaters. Die Erzählung umschifft die für mich interessanteste Frage, wie Tom nun eigentlich mit dem Tod des Vaters umgehen sollte oder könnte.

Ja, das kann ich verstehen. Aber ich wollte das nicht zerreden (lassen). Ich denke, wenn man das adäquat und nicht mit ein paar gestelzen Dialogen zeigen möchte, dann verdreifacht sich der Umfang der Geschichte schnell mal. (Also, die Geschichte wäre dann vielleicht tatsächlich besser, aber dann würde ich wahrscheinlich noch immer dran sitzen). Aber ich behalte das im Auge und evtl. werde ich das angehen.

Und das versöhnliche Ende. Ja, ich habe da noch eine pessimistische Variante geschrieben. Die schalte ich dann vielleicht nach Weihnachten auf. :D Ich seh auch hier deinen Punkt.

Das war echt hilfreich, Achillus, du hast einen sehr guten Blick einerseits für Plot, andererseits für das Essentielle eines Textes. Cool, davon profitieren zu können.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Ja, die Geschichte ist schon sehr gut. Weil sie einen wunderbar subtil in eine Welt eintauchen lässt, die manchen noch unbekannt, vielen aber allzu bekannt sein dürfte. Ich zumindest habe einiges wiedererkannt, weil ähnlich streng katholisch erzogen wie dieser Thomas in der Geschichte.

In dieser katholischen Welt können absurderweise sogar Kinder sündigen - und müssen beichten. Als Bestrafung gibt es dann Gebete ohne Ende, obwohl die Gebete eigentlich eine Freude sein sollten. Was für verquere Logik ist das? Ich meine: Wie kann man etwas, das der Strafe dient, täglich freiwillig und gern tun?

Die Geschichte hat Hand und Fuß, lediglich das Verhalten des Pfarrers entspricht nicht meinen Erfahrungen: Mein damaliger hätte ganz sicher die Standardantwort gegeben: Wie kannst du es wagen, an der Weisheit Gottes zu zweifeln! Und: Die Wege des Herrn sind unergründlich!

Dabei unterstellt schon das Vaterunser Gott Einiges: "... und führe uns nicht in Versuchung" sagt ganz klar: Wir halten Gott für fähig, uns absichtlich in die "Sünde" zu führen. Dabei wird ständig gesagt, der Teufel sei derjenige, der die Menschen in Versuchung führt.

Insofern ist deine Kritik, Peeperkorn, an dieser katholischen Welt eine sehr verhaltene, um es milde auszudrücken. Deutlicher Ross und Reiter zu nennen wäre keineswegs ein Kirchenbashing, wie die Anhänger dieser Religion gern sagen, wenn sie sich berechtigter Kritik gegenüber sehen, sondern ein Gebot der Nächstenliebe - wie sonst könnten sie erkennen, was bei ihnen falsch läuft.

Ich hätte hier auf jeden Fall härter argumentiert - und mich mit den Verteidigern des Glaubens auseinander setzen müssen, wie vor Jahren bei meiner Geschichte "Das weiße Kleid". Das bleibt dir glücklicherweise erspart.

Die Empfehlung hat die Geschichte schon, und ich hoffe, sie gewinnt auch den Wettbewerb. Einfach weil sie klug komponiert und gut geschrieben ist. Kompliment.

 

Hallo Peeperkorn,

ich habe den Text drei, viermal gelesen. Ich stamme aus einer atheistischen Familie, keiner von uns ist in der Kirche, alle längst ausgetreten, ich war auch nie im Religionsunterricht und hatte mit Konfirmation oder Kommunion nie etwas zu tun. Ich kenne mich da also null aus, das vorweg.

Bei dir habe ich, wie andere wahrscheinlich bei mir ebenfalls, eine gewisse Erwartungshaltung, was neue Texte angeht. Du hast dir mittlerweile ein eigenes Peeperkorn-Universum erschlossen, du kennst die Welt, deine Figuren, das beherrschst du, und die Leute mögen es ja, fast jede deiner Geschichten wird empfohlen, du schreibst sehr oft aus der Perspektive eines Jungen, eines Jüngeren, Heranwachsenden, das ist eine sehr dankbare Perspektive, die viel Identifikation anbietet - versteh mich nicht falsch, ich mag und mache das ja selber gerne, das ist vollkommen in Ordnung.

Hier habe ich aber einige Probleme. Achillus hat vieles in seinem Kommentar vorweggenommen. Mir kommt dein Text wie eine lange Strecke, eine Vorbereitung auf die grand emotion vor, und dann passiert diese aber nicht. Das geht so etwas betulich aus, und das nehme ich dem Jungen nicht ab. Er beschmiert ja Jesus, komm runter, ich finde das großartig, er meint ja: komm runter, verantworte dich, ich habe Fragen, was soll das? Diesen Konflikt, diesen Ausbruch, denn verweigerst du aber. Du argumentierst, dann müsste die Geschichte dreimal länger sein - ja, das ist wahrscheinlich richtig. Aber, ganz im Ernst, ich erwarte das dann auch.

Mir ist auch der Prot zu unentschlossen, bzw machst du ihn so. Er sagt, er weiß nicht, warum er das gemacht hat. Nein, er weiß a sehr genau, warum er das gemacht hat. Hier machst du einen Rückzieher, weil du weißt, als Autor, ja, jetzt würde es ans Eingemachte gehen. Wie sagt er dem Pfaffe denn, dass er Gott ungerecht findet, oder einfach nur diese Frage formuliert: Was ist denn das für eine Scheiße jetzt genau? Warum tut Gott das? Warum nimmt er mir meinen Vater? Das ist eine Rebellion, in ihm, gegen das System, gegen etwas Übergeordnetes, und er hat schon das Sakrileg begangen und diese Statue beschmiert - das erfordert Mut, es ist eine Transgression, er und auch seine Familie könnten dadurch ihr Gesicht verlieren, das ist drastisch, und deswegen weiß er ja, was er getan hat. Er kann das vielleicht nicht so klug formulieren, aber er würde sich sicherlich anders verhalten - kratzbürstiger, verschlossener, vielleicht würde er wegrennen.

Und mir fehlt die Beziehung zum Vater. Der Vater wird immer nur als krank und fast hilflos gezeigt. Um aber diese Auszehrung, diese Ungerechtigkeit des Todes zu zeigen, verstehbar zu machen, müsstest du ein Gegengewicht haben: Der Vater, vor einem halben Jahr, in Saft und Kraft, spielt mit ihm Fussball, haut Bäume um, sägt Holz, prügelt wen aus der Kneipe. Er ist ja ein Sohn, da sind bestimmte Eigenschaften eines Vaters, die man mit Virilität und Männlichkeit verbindet, doch total wichtig. Die Frage lautet ja - wie kann es Gott zulassen, dass dieser Mann aus dem Leben gerissen wird. Vorzeitig. Du zeigst ihn aber immer nur als krank, als ohnehin schon fällig sozusagen. Deswegen umweht diese Geschichte, meiner Meinung nach, auch etwas diese Allgefälligkeit, eine Gleichgültigkeit, eine liebevolle Lebensmüdigkeit. Mir fehlt der Kontrast zum Lebendigen, der eben diese Frage, dieses Aufbegehren in ih überhaupt erst schürt.

Was mir noch aufgefallen ist: Du hast hier sehr viel Personal, also sehr viele Namen, gerade am Anfang, das würde ich nochmals überdenken. Und dann, ich weiß nicht, was da passiert ist: Knaben. Ich weiß nicht, ob man das in der Schweiz so sagt, aber wenn ich das lese, dann habe das Gefühl, ich lese eine Geschichte aus den 50ern. Überhaupt habe ich hier so ein ambivalentes Gefühl, weil du einerseits von ATP und Federer schreibst, um das zu verorten, und ich fürchte, du hast diese Info ganz bewusst gesetzt, andererseits ist diese Vintage feeling in dieser Geschichte überwältigend. Nicht, dass es nicht zeitgemäß wäre, dieser Konflikt, sicher, der ist zeitlos, aber ich habe beim Lesen das Gefühl, eine Nachkriegsgeschichte zu lesen, oder in den 60ern, 70ern. Ich weiß nicht genau, woran das liegt, und vielleicht würdest es der Geschichte gut tun, wenn du sie zeitlich auch in diesen Dekaden verankerst. Was nämlich gar nicht vorkommt, ist die digitale Revolution - kein Internet, keine Vernetzung, keine schnelle Informationsbeschaffung. Würde er sich nicht mit solchen Fragen auch mal an das Internet wenden? Es gibt diese Seiten, gute-frage.de, und so weiter, da sind diese Fragen alltäglich - gibt es Gott, warum lässt er das zu, wieso gerade meine Mutter/Vater/Bruder. Das ist ja auch eine Menge Potential, welches man verarbeiten kann, was Rohstoff ist.

Gruss, Jimmy

 

Hallo Dion

Ja, die Beichte. Die hat mich als Kind ziemlich traumatisiert. Einmal im Semester, Mittwochnachmittag. Schon Wochen vorher hab ich mir Gedanken und Sorgen gemacht, was ich dem erzählen soll, und was sicher nicht.

Die Kritik am Christentum könnte vehementer sein, das hast du recht. Aber darauf sollte der Fokus nicht unbedingt liegen. Klar, da gibt es viel Text dazu, aber mich haben vor allem die familiären Beziehungen interessiert und ich wollte das nicht verdecken.

Würde ich einen Essay über Religion schreiben, sähe das wahrscheinlich anders aus.

Ich hätte hier auf jeden Fall härter argumentiert - und mich mit den Verteidigern des Glaubens auseinander setzen müssen, wie vor Jahren bei meiner Geschichte "Das weiße Kleid". Das bleibt dir glücklicherweise erspart.

Ich habe mir das angeschaut, da gibt's einige Parallelen in unseren Texten, fand ich spannend. Die Diskussion schien mir aber auf den Text bezogen und wohlwollend. Aber vielleicht sind die Beiträge weg, auf die du dich beziehst.

Einfach weil sie klug komponiert und gut geschrieben ist. Kompliment.

Das freut mich sehr, vielen Dank fürs Reinschauen.

Hallo Jimmy

Was mir noch aufgefallen ist: Du hast hier sehr viel Personal, also sehr viele Namen, gerade am Anfang, das würde ich nochmals überdenken.

Ja, das habe ich im Anschluss an Achillus' Kommentar rausgenommen, Clivia vollständig, und auch die anderen Mitschüler nicht mehr bei Namen genannt.

Und dann, ich weiß nicht, was da passiert ist: Knaben. Ich weiß nicht, ob man das in der Schweiz so sagt, aber wenn ich das lese, dann habe das Gefühl, ich lese eine Geschichte aus den 50ern. Überhaupt habe ich hier so ein ambivalentes Gefühl, weil du einerseits von ATP und Federer schreibst, um das zu verorten, und ich fürchte, du hast diese Info ganz bewusst gesetzt, andererseits ist diese Vintage feeling in dieser Geschichte überwältigend. Nicht, dass es nicht zeitgemäß wäre, dieser Konflikt, sicher, der ist zeitlos, aber ich habe beim Lesen das Gefühl, eine Nachkriegsgeschichte zu lesen, oder in den 60ern, 70ern. Ich weiß nicht genau, woran das liegt, und vielleicht würdest es der Geschichte gut tun, wenn du sie zeitlich auch in diesen Dekaden verankerst.

Ich hatte dasselbe Gefühl, was die zeitliche Verortung betrifft und den Federer habe ich immer als Fremdkörper empfunden. Ich wollte offensichtlich etwas erzwingen, die Geschichte im Jetzt verorten. Also entweder müsste man das breiter anlegen, Internet etc., wie du sagst, oder eben zulassen, dass man das als 70er-Geschichte liest. Ich habe den Federer also entfernt.

Und mir fehlt die Beziehung zum Vater. Der Vater wird immer nur als krank und fast hilflos gezeigt. Um aber diese Auszehrung, diese Ungerechtigkeit des Todes zu zeigen, verstehbar zu machen, müsstest du ein Gegengewicht haben: Der Vater, vor einem halben Jahr, in Saft und Kraft, spielt mit ihm Fussball, haut Bäume um, sägt Holz, prügelt wen aus der Kneipe.

Das habe ich drin. Wie der Vater Tom den Berg runter trägt. ("Wie stark er gewesen ist!"). Auch das gemeinsame Steinewerfen am See und die Schneeballschlacht. Und ich hab das aus genau den Gründen drin, die du nennst.
Aber klar, das liesse sich ausbauen, verstärken, auf alle Fälle.

Womit wir beim Hauptpunkt wären:

Du argumentierst, dann müsste die Geschichte dreimal länger sein - ja, das ist wahrscheinlich richtig. Aber, ganz im Ernst, ich erwarte das dann auch.

Diese Tritte in den Arsch. Deswegen sind wir hier, nicht? Zusammen mit Achillus zeigst du, wohin die Reise gehen sollte.

Mir kommt dein Text wie eine lange Strecke, eine Vorbereitung auf die grand emotion vor, und dann passiert diese aber nicht. Das geht so etwas betulich aus, und das nehme ich dem Jungen nicht ab.

Das ist Aufgabe 1.

Mir ist auch der Prot zu unentschlossen, bzw machst du ihn so. Er sagt, er weiß nicht, warum er das gemacht hat. Nein, er weiß a sehr genau, warum er das gemacht hat. Hier machst du einen Rückzieher, weil du weißt, als Autor, ja, jetzt würde es ans Eingemachte gehen.

Das ist Aufgabe 2.

Ich hab ja jetzt so ein Coaching und mein Mentor hat gefragt, woran ich arbeiten möchte, konkrete Textarbeit oder so? Und ich habe geantwortet, nein, ich versuche rauszufinden, wie ich mich erzählerisch weiterentwickeln kann. Mal so eine Standortbestimmung anhand von ein paar Texten (auch diesem hier) und dann schauen, bei welchen davon es sich lohnt, dass man sie ausbaut, auserzählt.

Das ist jetzt alles ganz offen, ich habe auch mein Romanprojekt unterbrochen, evtl. abgebrochen, muss da noch mal schauen.

Auf jeden Fall werde ich deinen Kommentar an die erste Coaching-Sitzung mitbringen. Du bringst die Leute echt voran mit deinen Rückmeldungen. Merci.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
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Liebe Maria

Merci für deinen Kommentar, hat mich sehr gefreut, dass du reingeschaut hast.

Irgendwie hast du das in diese Richtung hin gebaut und als der Moment kam, war das nicht gerade explosiv, sondern irgendwie zu ruhig. Keine Ahnung, was ich erwartet habe, aber dass da halt beim Höhepunkt mehr passiert.

Vielleicht helfen dir die Kommentare von Achillus und Jimmysalaryman weiter. :D

Ich finds gut, dass du mehr erwartest, von mir und von der Geschichte. Ich weiss nicht, ich hatte die Geschichte so aufziehen wollen, dass der eigentliche Ausbruch, der Höhepunkt, der Vandalenakt am Anfang steht. Aber natürlich geht die Geschichte ja weiter und steuert einem neuen Höhepunkt zu, der Aussprache beim Pfarrer. Und stimmt schon, hier explodiert nichts, das bleibt etwas lau. Das muss ja nicht damit enden, dass Tom oder sonstwer die Nerven verliert, aber hier könnte die inhaltliche Intensität schon höher sein.

Aber ich habe an anderer Stelle geschrieben, dass ich eigentlich recht stolz bin auf diese Aussprache-Szene, da sitzen vier Leute am Tisch und alle sprechen und machen Gesten. Ich habe mich bisher noch nicht getraut, so was zu gestalten. Ich hab in vielen Dingen noch nicht so viel Erfahrung.

Da hast du es. Nach dem du so viel vorher aufgebaut hast, waren einfach meine Erwartungen deutlich groß und in der Szene, wo er zur Rede gestellt wurde, habe ich erwartet, dass alles aufeinander folgt und auf den Leser zusammen stürzt und der sich nur schwer von der Geschichte erholen kann. [...] Ich hätte mehr erwartet und diese Enttäuschung sorgt halt dafür, dass ich diese zwei Wörter (gern gelesen) nicht ohne weiteres schreiben kann.

Kein Problem, mir ist ein ehrliches Urteil lieber. Und ich kann das auch gut nachvollziehen. Wie schon in den vorhergehenden Antworten geschrieben, muss ich das mal sacken lassen und dann schauen, ob ich mich nochmal an diese Geschichte setze. Es gibt mittlerweile drei bis vier Texte, wo die Leute sagen, mach doch mehr draus, und ich muss schauen, was wann wie.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Peeperkorn

Was ich noch sagen wollte: Der Titel ist einfach nur geil. Also diese Idee, die dahinter steckt, die ist wirklich gut, komm runter, sag was, das ist echt toll.

 

Hej nochmals Peeperkorn,

du hast schon recht. Ich lese ja auch Mordgeschichten und andere Dinge, die mir unbehaglich sind. :hmm

Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich mich - ähnlich wie Thomas in deiner Geschichte - argumentatorisch machtlos fühle. Egal, welche Bedenken auftreten: isso!
Bei einem Mörder kann ich mutmaßen, urteilen, beim Opfer mitfühlen (manchmal auch beim Täter :hmm:). Im Glauben gibt es Totschlagargumente, wie in einer schlechten Erziehung übrigens auch, wo ich mir dann keine Gedanken mehr mache und mich schnell langweile. Ich würde niemandem vorwerfen zu glauben und deswegen muss ich still sein und dulde. Es gibt kein 'Aber' und 'was wäre wenn'.

Vielleicht meide ich kirchliche Themen aus diesen Gründen.

Das musste ich noch loswerden, weil du mich inspiriert hast, nachzudenken. Danke dafür und freundlicher Gruß, Kanji

 
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Hey Jimmy

Danke. Ich hab's irgendwo in den Kommentaren mal erwähnt: Es gab eine Frau in unserem Dorf, die aus dem Heim ausgebüxt ist und einer Christusfigur in der Kirche zugerufen hat, er solle runterkommen, sie wolle vögeln. Das war mein Ausgangspunkt und dann hab' ich das uminterpretiert zu: Stell dich deiner Verantwortung.

Hey Kanji

Und du hast mich wiederum zum Nachdenken angeregt. Finde ich sehr spannend und wenn ich's mir recht überlege, ist das vielleicht auch mein Kriterium: Wenn etwas so fern ist, dass ich keine Stellung beziehen kann. Oder so eindeutig.
Vielen Dank für die weitere Klärung. Man spricht hier immer davon, wie viel man über das Schreiben lernen kann. Dabei geht manchmal vergessen, wie sehr sich auch das Lesen, das Denken über Texte insgesamt entwickelt. Zumindest mir geht es so.

Lieber Gruss euch beiden
Peeperkorn

 

Hey Peeperkorn!

Ich finde, das wäre eine perfekte Geschichte für ein Schullesebuch.

Das ist alles so nachvollziehbar und verständlich, sehr schlüssig. Es gibt keine negative Figur in der Geschichte, nur Gott ist böse, weil er den Tod des Vaters zugelassen hat. Zweimal macht Tom sich schuldig, einmal in seinem Verhalten gegenüber dem Vater, als dieser vor Schwäche nicht mehr lesen kann. Und dann, als er die Jesusfigur beschmiert. Es sind seine Reaktionen auf das Böse, das Gott zulässt, er wird auch böse sozusagen. Aber das Urvertrauen, das durch den Tod des Vaters gestört ist, wird wieder hergestellt, weil Tom von allen richtig aufgefangen wird, niemand reagiert falsch auf sein Fehlverhalten. Das ist Konfliktlösung wie aus dem Lehrbuch, vielleicht könnte man das der Geschichte ein bisschen ankreiden.

Empfehlung ist aber natürlich voll gerechtfertigt, gute Geschichte!

Gruß
Andrea

 

Hey Andrea

Schön von dir zu lesen, habe mich echt gefreut.

Schullesebuch. Grosses Kompliment und heftige Kritik in einem Wort. Ja, ich habe die Figuren am Rande der Negativität, die Mutter, den Pfarrer, die Lehrerin, aber keine reagiert am Ende wirklich falsch, das kann ich nicht bestreiten, auch wenn ich die Mutter doch problematischer skizzieren wollte, und das einige auch so gelesen haben. Ich find's gut, dass du mich darauf hinweist, vielleicht kann ich die letzten Kommentare so zusammenfassen, dass der Text insgesamt doch (zu) wenig weh tut, das ich nicht ganz in den Konlikt reingehe. Ich denke, es gäbe andere, denen das dann wiederum zu viel wäre, das ist irgendwie nicht perfekt auszutarieren.

Für mich der grosse Vorteil und der Hauptgrund, an der Challenge mitzumachen: Man kriegt eine echt grosse Bandbreite von Rückmeldungen, da kann man sehr gut schauen, wie ein Text wirkt.

Merci fürs Reinschauen, liebe Andrea, und viel Spass mit den anderen Texten!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Servus Pepperkorn,

Also, ich finde es schön, dass dein Text keine offene Eskalation hat. Genau so ist es nämlich auf dem Land: Alles sieht auf den ersten Blick schön ruhig und idyllisch aus. Die Konflikte sind hier versteckter.
Außerdem finde ich deine Beschreibung vom religiösen Einfluss auf dem Land realistisch.

Kommen wir nun zum kritischen Teil:

1.
Aus dem Text schließe ich mal, dass deine Hauptfigur noch zur Grundschule geht?
Wenn ja, dann finde ich es ein wenig unrealistisch, dass er schon so rebellische Tendenzen hat. So kritisch über Religion denkt man doch erst ab der Pubertät - vor allem bei einer so religiösen Mutter, oder?
Außerdem sollte doch in dem Alter irgendjemand ständig auf ihn aufpassen. Er kann doch nicht einfach in eine Kirche gehen, ohne dass es der Mutter/ den Lehrern auffallen würde, denke ich mal.
Die KG hätte mir besser mit einem Teenager als Prot gefallen, vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich selber Teenager bin :3
2.

Als sie Tom den Tannzweig überreichte, berührten sich ihre Hände. Sie sah ihn an und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.
Dieses Happy-End finde ich dann doch zu klischeehaft. Erinnerst du dich noch, wo ich gesagt habe, dass am Land die Konflikte versteckter sind? Das wäre deine Chance gewesen! Hättest du statt dem Lächeln ein kühles Schweigen oder so genannt, dann wäre das ein wirklich schönes Ende gewesen.
Es gäbe dann auch eine hübsche Symmetrie: die physische Trennung zwischen Vater und Sohn(durch den Tot) führt zur emotionalen Trennung (also zu einer Entfremdung) zwischen Mutter und Sohn.

Aber vielleicht sind dass auch nur die Gedanken eines verrückten Jungen vom bayerischen Land.

Habedere,
alexei

 

Hallo alexei

Aus dem Text schließe ich mal, dass deine Hauptfigur noch zur Grundschule geht?
Wenn ja, dann finde ich es ein wenig unrealistisch, dass er schon so rebellische Tendenzen hat. So kritisch über Religion denkt man doch erst ab der Pubertät - vor allem bei einer so religiösen Mutter, oder?

Tom ist fast dreizehn, wird im Text mal erwähnt. Also ein Teenager, wie du es vorschlägst. Das passt so knapp zur sechsten Klasse (zumindest damals, heute müsste er eine Klasse wiederholt haben oder so).

Dieses Happy-End finde ich dann doch zu klischeehaft. Erinnerst du dich noch, wo ich gesagt habe, dass am Land die Konflikte versteckter sind? Das wäre deine Chance gewesen! Hättest du statt dem Lächeln ein kühles Schweigen oder so genannt, dann wäre das ein wirklich schönes Ende gewesen.

Ja, damit habe ich gespielt, habe auch eine entsprechende Version verfasst. Ich fand die hier stimmiger. Ist interessant, wie bei Geschichten, die ein ernstes Thema verhandeln, ein hoffnungsvolles Ende schon beinahe nicht mehr geduldet wird - ganz anders bei Texten, die von Beginn weg heiter-flockig daherkommen. Also, diese Wendung zum Guten, die hier ja nur angedeutet ist, die scheint für einige Leser problematisch zu sein. Ich bin aber sicher, dass die andere Version entsprechende Rückmeldung bekommen hätte - keine Entwicklung der Mutter, wozu das Ganze, wozu die Geschichte, weshalb dieser Pessimismus? :)

Vielen lieben Dank, alexei, für diese Auseinandersetzung mit dem Text, hat mich sehr gefreut.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo @ Peeperkorn,

ja, diese Geschichte gehört eindeutig in die Abteilung der empfohlenen Geschichten, weil sie verdammt gut geworden ist.
Auch bei dir fange ich mit dem Titel an, der absolut gut zum Plot passt und im Grunde genommen eine Überraschung darstellt, denn man erwartet, dass jemand aufgefordert wird, aus dem Haus und auf die Straße zu kommen, vom Baum geholt zu werden, in den Keller getrieben wird etc., aber Jesus vom Kreuz runter, das ist mal neu. Klasse!
Das Challengethema ist fraglos perfekt eingefangen worden von dir.

Ich mag deine Geschichte sehr, weil mir der Plot liegt. Die Aufmüpfigkeit des Kindes und seine Gedankenwelt entspricht genau den Fragen, die ich auch gerne stellen würde, würde ich noch glauben (können). Da ist so unendlich viel Unlogik im christlichen Glauben vergraben und so viele Menschen hinterfragen nicht diese Ungereimtheiten.

Dass es ein Kind tut, ist eine gelungene Verpackung, dass Tom elegant auf diese Weise die hochgläubige Mutter vorführt, gibt mir fast so eine Art diebische Freude.
Und genau an dieser Stelle setzt meine Kritik an.

Wäre es nicht noch gelungener, wenn man eine Entwicklung bei der Mutter feststellen könnte? Ich hätte so gern ein Happyend, in welchem die Mutter sich ein wenig schämt, dass sie so vorbehaltlos gläubig ist und scheinbar nichts hinterfragt und sie ungeprüft vom Kind dasselbe verlangt.

Das Ende ist daher nicht eines, das mich wirklich beglückt. Ich finde es eher viel zu vieldeutig, dieses Lächeln, dass du über ihr Gesicht huschen lässt. Lächelt sie, weil sich ihr Sohn brav mit ihr zum Grab mitbegibt und keine Widersprüche mehr hat, wenn es darum geht, einen Tannenzweig mit Weihwasser zu besprenkeln? Ist er in den Schoß der Kirche zurückgekehrt, der Lütte? Oder findet sie ihr ganzes Getue mittlerweile ein bisschen lächerlich und muss deswegen lächeln?
Mir ist also zuviel an Deutungsmöglichkeiten offen geblieben am Ende.

Wohlgemerkt, ich kritisiere eine Geschichte, die sich auf hohem Niveau befindet. Sie funktioniert absolut so wie sie jetzt dasteht und ist keineswegs mit Abstrichen versehen.

Aber wir sind ja bei den Wortkriegern und hier darfst du sicherlich erwarten, dass immer noch eine kleine oder größere Verbesserung vorgeschlagen wird. Und es geht auch um die Vielfalt all der Meinungen, die es zu den Geschichten gibt.
Ich könnte also mit deiner Geschichte leben, so wie sie jetzt dasteht.
Ich könnte aber auch noch ein besseres Ende verkraften. :D

An einer Stelle, an welcher die Barmettler, Herr Gasser, die Mutter und der Prota miteinander reden, ist mir noch aufgefallen, dass ich das Verhalten der Mutter bereits da nicht einzuordnen weiß. Und zwar geht es um diesen Satz:

„Er hat noch nie etwas Schlimmes getan“, sagte Toms Mutter,
Die Mutter, die ja bislang nicht auf der Seite ihres Sohnes gestanden hat, hat sie nun eine Kehrtwende gemacht? Was hat sie dazu veranlasst, frage ich mich dann? Ich glaube, ich würde sie hier einfach konsequenter ablehnend sein lassen.

In Verlaufe dieses Gesprächs hat mich noch ein bisschen gestört, dass die Mutter ihren Kopf in ihre Hände gelegt hat. Wie muss ich mir das vorstellen? Ich sehe vor mir immer eine Szene, in welcher die Mutter die Hände vor dem Gesicht haltend, Hände und Kopf auf den Tisch abgelegt hat. Das empfinde ich als untypische Geste. Sicherlich wolltest du aus dem ausleierten Begriff des sich die Hände vor das Gesicht schlagen, aussteigen und etwas Neues erschaffen. Aber bei mir zündet die Körperhaltung der Mutter nicht. Sie soll ja ihre Gedanken und Gefühle unterstreichen und genau das schaffst du an dieser Stelle nicht bei mir.

Aber ansonsten habe ich echt nichts zu meckern. Eine sehr spannende Geschichte ist dir da gelungen. Ich habe zwar recht früh geahnt, dass Tom der Übeltäter ist, aber das tat der Spannung keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Ich freue mich sehr, dass dies eine Geschichte mit der gehörigen Portion Tiefe gemischt mit guter Portion fesselnder Unterhaltung ist. Sehr fein gemacht!

Lieben Gruß

lakita

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe lakita

Du gehst auch in inhaltlicher Hinsicht systematisch durch die Challenge-Texte, sagst meist was zum Titel und vor allem auch zur Art und Weise, wie das Challenge-Thema umgesetzt worden ist. Beides geht ja im Eifer des Kommentar-Gefechts oft vergessen - zumindest in meinen Rückmeldungen zu den anderen Texten. Es freut mich, dass mein Text in diesen beiden Sparten gut wegkommt, denn mir war es wichtig, die Challenge-Vorgabe als Ausgangspunkt zu nehmen und die nicht bloss en passant zu erfüllen. Und bei der Titelgebung tue ich mich meistens ziemlich schwer.

Wäre es nicht noch gelungener, wenn man eine Entwicklung bei der Mutter feststellen könnte? Ich hätte so gern ein Happyend, in welchem die Mutter sich ein wenig schämt, dass sie so vorbehaltlos gläubig ist und scheinbar nichts hinterfragt und sie ungeprüft vom Kind dasselbe verlangt.

Hast du nicht grad an anderer Stelle geschrieben, du hättest eine deiner Geschichten komplett löschen müssen, wenn du alle Ratschläge befolgt hättest? In diesem Fall hier wäre es nur das Ende. :D

Aber ich nehm das natürlich ernst. Einige fanden den angedeuteten Lichtblick grade richtig, andere fanden es zu versöhnlich, zu sehr Happy-End. Und du möchtest das Happy-End, die Wandlung der Mutter, noch stärker ausgearbeitet. Ich nehm's einfach als Anlass, noch mal darüber nachzudenken, wie wichtig das Ende einer Geschichte ist und wie schwierig auszutarieren. Häufig kommt hier der Wille des Autors am stärksten zum Tragen und durchkreuzt am ehesten die Erwartungen der Leser.

Ja, vielleicht ist dieses Ende insgesamt zu lau, zu unentschlossen. Vielleicht sollte man den Mut haben, radikaler in die eine oder die andere Richtung zu gehen, optimistisch oder pessimistisch, egal, Hauptsache konsequent. Auf der anderen Seite habe ich es halt gerne mit den Grau- und Zwischentönen. Es ist eine Krux und an den vielen "vielleicht" kannst du ablesen, dass ich nicht durch bin mit meinen Gedanken. Ich kann mich jetzt auch nicht zu einer Änderung durchringen, ich denke, da brauche ich noch mehr Distanz.

An einer Stelle, an welcher die Barmettler, Herr Gasser, die Mutter und der Prota miteinander reden, ist mir noch aufgefallen, dass ich das Verhalten der Mutter bereits da nicht einzuordnen weiß. Und zwar geht es um diesen Satz:
„Er hat noch nie etwas Schlimmes getan“, sagte Toms Mutter,
Die Mutter, die ja bislang nicht auf der Seite ihres Sohnes gestanden hat, hat sie nun eine Kehrtwende gemacht? Was hat sie dazu veranlasst, frage ich mich dann? Ich glaube, ich würde sie hier einfach konsequenter ablehnend sein lassen.

Gerade hier wollte ich aber eine Entwicklung der Mutter ansprechen. Tom hat gerade vorher das Motiv seiner Tat erklärt und sein Leid zum Ausdruck gebracht. Erst jetzt wird der Mutter klar, dass Toms Aktion (auch) eine Verzweiflungstat gewesen ist, dass sich Tom nicht (nur) gegen sie gerichtet hat, und erkennt den Schmerz ihres Sohnes. Und ab hier beginnt sie, auf Tom zuzugehen, ihn in Schutz zu nehmen. Dazu passt - so dachte ich zumindest - dass sie den Kopf eine Weile in den Händen vergräbt. Könnte das nicht genau das Zeichen der Scham sein, das du vermisst hast?

Ich freue mich sehr, dass dies eine Geschichte mit der gehörigen Portion Tiefe gemischt mit guter Portion fesselnder Unterhaltung ist.

Das wiederum freut mich riesig, denn das entspricht dem, was ich selbst gerne lese und ja, auch dem, was ich gerne schreiben möchte.

Vielen, vielen Dank, lakita, dass du reingeschaut und dich so wohlwollend zum Text geäussert hast.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo Peeperkorn,

auch die leisen Töne machen Melodien, daran habe ich als erstes Gedacht, nachdem ich mit Lesen fertig war, und ich habe mich sehr gefreut über dieses Lächeln, das der Mutter über ihr Gesicht huschte.

Mir gefällt die Linie der deine Geschichte folgt und mir gefallen die Bilder die du erzeugst. Es gibt Kleinigkeiten die meiner Meinung nach der Spannung gut getan hätten, die ich hier kurz aufzählen möchte:

Es könnte noch ein bisschen deutlicher herausgestellt werden wie "verdammt" gläubig die Mutter ist, um einen größeren Gegenpol zum Vater zu bilden, der ja mit festen Beinen auf dem Boden stand, während sich die Mutter so sehr dem Himmel zuwendet.

Das Geständnis passt wunderbar in die Unterrichtsstunde bei der Mutter, aber es wäre denke ich gut, wenn du das noch größer machen könntest, z.B. indem Tom seine Mutter unterbricht, während sie davon redet, was man dem Jesus Christus alles zu verdanken hat, und was für ein schrecklicher Frevel es doch ist, dass man sein Abbild derart geschändet hat - wie böse doch jemand sein muss, der soetwas tut. Der Schock säße noch tiefer.

Der Pfarrer scheint ein guter zu sein. Die Frage die er stellt, finde ich äußerst gelungen, allerdings habe ich diesen Mann garnicht richtig auf dem Schirm. Es wäre toll, wenn du ein Bild von einem respekteinflößendem Alten zeichnen würdest, einem vor dem man zitternd stehenbleibt, und ein Gott zum Gruße rauspresst, in der Hoffnung das er weitergeht, weil man sich seiner Nähe einfach nicht gewachsen sieht (besonders nicht als Kind).

Wie gesagt, Kleinigkeiten, nichts weiter. Ich habe die Geschichte gern gelesen und bin vollauf mit dem Ende zufrieden. :)

Liebe Grüße
Lem Pala

 

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