Was ist neu

Komm runter

Challenge 3. Platz
Challenge 3. Platz
Monster-WG
Seniors
Beitritt
18.06.2015
Beiträge
1.327
Zuletzt bearbeitet:

Komm runter

In Zweierreihe auf dem Kirchplatz, die Knaben vorne beim Eingang, dahinter die Mädchen. Sie warteten, bis sich die Seitentür öffnete, die den Fünft- und Sechstklässlern zugewiesen war. Novemberkälte kroch Tom die Beine hoch. Er musterte die zwei Gesichter aus Sandstein, die über dem Torbogen aus der Wand glotzten. Die sähen furchterregend aus, weil sie dazu da seien, Dämonen abzuschrecken, hatte seine Mutter einmal erklärt. Tom fand sie bloß hässlich, mit abstehenden Ohren und offenem Mund. Dem einen hatte man die Nase abgeschlagen.
Die Tür wurde geöffnet, die ersten Schüler gingen hinein und auf einmal hörte Tom Gelächter aus der Kirche. Draußen Gemurmel. Einzelne lösten sich von ihren Partnern und drängten nach vorne, um zu sehen, was los war. Andere drehten sich um und sagten, vielleicht habe wieder einer gekotzt. Frau Barmettler rief zur Ordnung, doch die Reihe zerfiel. Es formte sich eine Traube aus neugierigen Schülern, die den Eingang blockierte. Eine Weile ging gar nichts. Dann aber schlüpfte einer nach dem anderen hinein. Am Ende stand Tom zusammen mit vierzig Schülern und einer Lehrerin, der es die Sprache verschlagen hatte, in der Kirche. Sie blickten auf ein Christuskreuz, das in einer Seitenkapelle stand.
Die Skulptur war aus Holz und rund zwei Meter groß. Die Hände des Herrn überdimensioniert, die Arme verdreht. Der Brustkorb wirkte nicht sehr gut gearbeitet, die Rippen kaum angedeutet. Ein unscheinbares Kunstwerk, gewiss hatten viele der Schüler die Figur noch nie bewusst wahrgenommen. Doch jetzt starrten alle darauf, denn Jesus war mit Farbe beschmiert und auf der Vorderseite des Sockels, einer Fläche von der Größe eines Kinoplakats, war Komm runter, du Arsch in roten Buchstaben zu lesen.
Frau Barmettler drehte sich um, als wollte sie um Hilfe rufen. Und tatsächlich eilte ein Kirchendiener herbei, nahm ein Tuch, das auf einem Seitenaltar gelegen hatte, hängte es über den Sockel und beschwerte es mit einem Kerzenständer. Man konnte das sch noch immer sehen. Der Küster drehte sich um und hob beide Arme.
„Setzt euch hin“, presste er hervor. Frau Barmettler zuckte zusammen und schob zwei Jungen, die in ihrer unmittelbaren Nähe standen und noch immer kicherten, in Richtung Mittelschiff, während der Küster nach hinten ging und die Hauptpforte öffnete. Die Erst- bis Viertklässler strömten herein und wenig später erklang die Orgel, um den Schulgottesdienst zu eröffnen.

Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Tom saß in der Bank, hatte die Hände im Schoss gefaltet, murmelte Worte, die ihm so vertraut waren, dass sie nichts mehr bedeuteten. Das Entsetzen in Frau Barmettlers Gesicht. Die hektischen Gesten des Kirchendieners. Tom ahnte, was in ihren Köpfen abging. Verbrechen. Schande. Oder: Blasphemie, wie seine Mutter sagen würde. Er schloss die Augen. Sein Vater hätte gelacht, ganz bestimmt. Hätte sich an den Kopf gefasst und Mannomann! gerufen. Jesus, komm runter. Das ist ja mal eine Ansage. Das mit dem Arsch hingegen hätte er nicht gut gefunden. Sowas wäre ihm zu weit gegangen. Aber er hätte es verstanden.

Einmal, da war er vier oder fünf, hatte Tom während der Messe plötzlich zu plappern begonnen, die Worte des Pfarrers mit langgedehnten Lauten nachgesprochen. Toms Mutter legte ihm die Hand auf den Mund und schüttelte den Kopf. Sein Vater jedoch setzte eine ernste Miene auf, sah sie an, zuckte mit den Schultern und flüsterte, der Junge werde offenbar mal Priester. Worauf er den Arm um Toms Schulter legte und ihm mit warmer Hand über die Wange strich.

Tom drehte den Kopf, er hatte das Gefühl, der Vater säße jetzt neben ihm. Doch da war nur Jonas, mit abwesendem Blick und klappernden Zähnen. Vorne hob Pfarrer Gasser den Kelch und brach das Brot. Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach.
Jonas stupste Tom an. „Voll krass!“, sagte er leise. „Das mit dem Jesus.“
Tom drehte sich um, Frau Barmettler war nicht zu sehen. „Ja.“
„Wer hat das gemacht?“
„Weiß ich doch nicht.“ Tom griff nach dem Gesangsbuch, das vor ihm lag. Blauer Einband mit aufgedrucktem Kreuz. Jonas sah ihn fragend an und Tom legte das Buch wieder hin. Dann standen sie auf, traten in den Mittelgang und gingen nach vorne, um die Kommunion zu empfangen. Tom war schwindlig, er hatte nicht gefrühstückt, und als er die Oblate auf die Hand gelegt bekam - der Leib Christi - war ihm, als fiele er gleich in Ohnmacht. Er hatte ein Zirpen im Ohr.

Die Grillen nervten, hatte sein Vater gesagt. Ob man die ausschalten könne? Das war im August und da hatte er schon über zwanzig Kilo abgenommen. Die Haut voller Flecken. Der Atem roch schlecht.
„Wie ist die neue Lehrerin?“, fragte er.
„Frau Barmettler? Sie ist nett.“
„Nett. Aha. Ist sie hübsch?“
„Ähm.“
„Also ja“. Er lachte. Dann nahm er Toms Hand. „Brich ihr nicht das Herz, ja?“ Er musste husten. Toms Mutter kam herein, schloss das Fenster und schob ihn sanft zur Seite.
„Vater braucht Ruhe“, sagte sie.

Gasser sprach den Segen und sie verließen die Kirche. Frau Barmettler hatte sich vor die Seitenkapelle gestellt, wie eine Verkehrspolizistin. Hinter ihr Jesus, mit roten Klecksen auf der Brust.
„Das waren bestimmt Dotta und Döbe“, sagte Jonas, als sie den Weg hinunter zum Schulhaus gingen. Es nieselte und Tom zog sich die Kapuze über den Kopf.
„Kann sein.“
„Die sind ständig betrunken, habe ich gehört.“
„Aha.“ Tom bedauerte, dass er nichts weiter dazu sagte. Jonas war sein Freund. Er war der einzige, der normal geblieben war. Der ihm in die Augen sah, wenn sie sich begegneten. Der genauso von Fürzen sprach und über Mädchen lästerte wie die Wochen zuvor. Jonas brauchte ihn nicht mit leiser Stimme zu fragen, wie es ihm ging, denn sein Vater war ebenfalls gestorben. Nicht langsam, sondern bei einem Unfall. Aber darauf kam es nicht an.
„Bin gespannt, was deine Mutter dazu meint“, sagte Jonas und beschleunigte die Schritte. Tom hielt mit, sein Atem ging schnell, die Luft brannte in der Lunge.

Dieses Jahr hatten sie nach der Messe Religionsunterricht, eine zufällige Laune des Stundenplaners und im Ergebnis eine geballte Ladung Gott, wie Jonas sich ausdrückte. Und dieses Jahr war Toms Mutter die Lehrerin. Katechetin mit Diplom. Sie unterrichtete nur zwei Klassen, aber gerade seine war betroffen. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie so taten, als wären sie nicht miteinander verwandt. Dass er sie Frau Gander nannte. Das sei professionelles Verhalten, hatte sie gesagt.
Die anderen aus Toms Klasse schien nicht zu kümmern, was mit der Christusfigur geschehen war. Während sie ihre Jacken an die Garderobe hängten, sprachen die Jungs über Luzerns vier zu null gegen Basel. Die Mädchen trällerten ein Lied. Als sie aber das Zimmer betraten und Frau Gander sahen, verstummten sie. Sie setzten sich, Tom und Jonas ganz nach hinten, so wie immer. Toms Mutter trat vor das Pult. „Frau Barmettler hat es mir erzählt. Was man getan hat. Was jemand getan hat“, sagte sie und verschränkte die Arme. Die Schüler starrten auf ihre Pulte, als müssten sie ein schlechtes Gewissen haben. Tom sah seiner Mutter in die Augen. Sie war nicht zornig, das wusste er. Ihr Gesicht sah aus, als wäre sie krank, die Wangen ohne Farbe, die Nasenspitze rot. Die Mundwinkel zuckten. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn ihr die Tränen gekommen wären, obwohl er sie noch nie hatte weinen sehen.
„Vor dieser Figur habe ich jeden Tag gekniet, die letzten zwei Jahre.“
Einige drehten den Kopf und Tom rückte seine Brille zurecht. Der Regen war stärker geworden, Tropfen schlugen gegen das Fenster.

Es stimmte. Zwei Jahre. Immer wenn Tom von der Schule kam, nahm sie den Rosenkranz, der auf dem Schlafzimmertisch lag, zog die schönen Schuhe an und sagte, sie gehe zur Kirche. Tom machte Hausaufgaben. Ab und zu schaute er nach seinem Vater, der meistens schlief. Um halb sieben war sie zurück, schob eine Fertigpizza in den Ofen und ging ins Schlafzimmer, wo sie sich für eine halbe Stunde hinsetzte und Blumenmotive auf Kissenüberzüge stickte. Später kam Herr Durrer, der Arzt. Am Anfang einmal die Woche, am Ende fast jeden Tag. Der nette Mann mit Morphium, wie Toms Vater sagte.
Toms Mutter übernahm die Pflege. Er werde zuhause sterben, hatte sie gesagt, nachdem Durrer erklärt hatte, dass ihr Mann den Krebs nicht besiegen werde. Das gebiete die Nächstenliebe und sie alle wollten es so. Tom stand daneben, mit Tränen in den Augen, und nickte. Am selben Abend rief er den Präsidenten des Schachklubs an, wo er zweimal die Woche spielte, und sagte, er komme nicht mehr ins Training. Er erledigte Einkäufe, brachte dem Vater Bücher aus der Bibliothek – ein Buch zu kaufen macht irgendwie keinen Sinn mehr, nicht? – las ihm daraus vor, reichte Säfte und Äpfel, am Ende nur noch Wasser, tat dieses, tat jenes, weil man nichts tun konnte.
Wie stark sein Vater gewesen war! Er hatte ihn den ganzen Weg vom Buochserhorn hinunter ins Dorf getragen, als sie wandern waren und Tom sich den Knöchel verstaucht hatte. Keine Sache, hatte er gesagt und zu singen begonnen, vom Schacherseppli, dem Vaganten. An Weihnachten gingen sie zum See, während Toms Mutter den Baum schmückte, und ließen Steine über die Oberfläche hüpfen. Von ihm hatte Tom gelernt, in welchem Winkel er werfen musste. Bald war wieder Advent.
„Es ist eine Prüfung für uns alle“, hatte die Mutter einmal gesagt, als sie Tom aus dem Schlafzimmer kommen sah. „Auch für dich.“ Sie strich ihm übers Haar. Tom fragte sich, was geschehen würde, wenn er durchfiele, und was er können musste, um zu bestehen. Er traute sich nicht, sie zu fragen. Er hatte gelernt, so zu tun, als verstünde er alles, was sie sagte, als wäre er mit allem einverstanden. Sie sprachen nicht viel. Abends saßen sie vor dem Fernseher, den Ton leise gestellt, damit sie hören konnten, wenn Toms Vater etwas brauchte.
Am Tag nach seinem Tod gingen sie ins Dorf, zur Gemeindeverwaltung. Es war warm, der Sommer hatte noch nicht aufgegeben.
„Dein Vater ist jetzt im Himmel“, sagte sie.
Eine Weile dachte Tom nach, dann sagte er: „Ich bin kein Kind mehr.“
„Doch“, sagte sie. „Das bist du.“

Sie stand noch immer vor dem Pult, ließ den Blick über die Klasse schweifen.
„Entschuldigt bitte“, sagte sie. Sie ging zurück an ihren Platz, setzte sich hin, nahm einige Blätter in die Hand und blickte auf. Nun begann der Unterricht, dachte Tom. Aber sie sagte: „Wie kann man nur so etwas tun?“

Die Woche bevor der Vater starb, hatte ihm Tom ein zweites Kissen unter den Nacken gelegt, ein Glas Wasser gereicht – zwei kleine Schlucke – und ihm ein Buch in die Hand drücken wollen. Sein Vater konnte es nicht festhalten und es fiel auf die Decke.
„Geht nicht“, sagte er.
„Versuch es nochmal.“
„Ich bin zu müde. Ich muss schlafen.“
Tom nahm das Buch, seine Hände zitterten. „Dann schlaf doch!“, schrie er und warf das Buch auf die Kommode, wo es über die Oberfläche rutschte und zu Boden fiel.
„Tom“, sagte der Vater.
Er konnte nicht antworten. Er hatte das Gefühl zu ersticken, als wäre etwas im Hals, presste die Kiefer aufeinander. Tränen traten in seine Augen. Er hob das Buch auf und rannte aus dem Zimmer. Später schämte er sich so sehr, ihn angeschrien zu haben, dass er erst am nächsten Tag wieder zu ihm ging. Der Vater lächelte, als er ihn hereinkommen sah, was Tom erleichterte. Noch lieber hätte er gehabt, wenn er mit ihm geschimpft hätte, wenn er aufgestanden wäre und ihm gesagt hätte, so dürfe man nicht mit seinem Vater reden.
„Er wehrt sich gar nicht“, sagte Tom zur Mutter. Sie saßen auf dem Sofa und sahen sich eine Tierdokumentation an. Ameisen krabbelten einen Baum hoch. Tom hatte vergessen, weshalb sie das taten, obwohl es der Sprecher gerade eben erklärt hatte.
„Das ist nicht fair, Tom. Er kämpft jeden Tag.“
„Stimmt gar nicht!“
Sie legte den Zeigefinger auf den Mund und blickte in Richtung Schlafzimmer. „Du musst es annehmen“, sagte sie leise. „Gott will es so.“ Sie sahen wieder auf den Bildschirm. Drei Ameisen schleppten einen toten Artgenossen mit sich, bis sie ihn irgendwo liegen ließen.

Toms Mutter schüttelte den Kopf. Sie legte die Blätter hin und starrte aus dem Fenster. Graupel hatte sich in den Regen gemischt. Die Klasse blieb still. Jonas drehte den Kopf zu Tom und hob die Augenbrauen. Es war, als würden sie alle auf etwas warten. Toms Puls wurde schneller. Das Zirpen kehrte zurück.
Früher gingen sie jeden Samstag spazieren, zu dritt, den Fluss entlang. Im Winter lieferten sie sich Schneeballschlachten. Toms Vater gegen ihn und seine Mutter, die ihm Deckung gab. Wie hatte ihr Lachen geklungen? Tom konnte sich nicht erinnern.
Vorgestern hatte sie gesagt, dass sie eine Kerze anzünden und beten gehen wolle. In die Kirche, zur Christusfigur. Um zu danken. Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben.
Tom hob die Hand. „Frau Gander.“
Sie sah ihn überrascht an. „Ja?“
„Ich war's.“
Einige wendeten den Kopf und starrten ihn an. Jonas bewegte sich nicht, Tom konnte ihn atmen hören.
„Alter!“, murmelte sein Freund.
„Was hast du gesagt?“, fragte Toms Mutter.
Tom stand auf. „Ich hab das gemacht. Den scheiß Jesus angemalt.“ Er ging nach vorne zur Tür, die Mutter stellte sich ihm in den Weg.
„Du bleibst hier!“ Sie versuchte ihn zu fassen, aber er duckte sich und glitt unter ihrem Arm durch. Er schlug auf die Türklinke, trat auf die Schwelle und drehte sich um. Seine Mutter hatte nicht nachgesetzt, sie stand bloß da, mit schlaffen Armen. Tom drosch mit der Faust gegen den Türrahmen.
„Scheiß auf Gott!“

Der Raum war klein. Holztäfelungen an der Wand. In der Mitte ein quadratischer Tisch, an dem sie saßen. Es war nach sechs, Pfarrer Gasser hatte zuvor keine Zeit gehabt. Er trug eine schwarze Soutane, das Haar nach hinten gekämmt. Die Hände gefaltet, als wollte er beten, saß er Tom gegenüber. Tom fiel auf, wie platt seine Nase war.
„Wie alt bist du?“, fragte Gasser.
„Zwölf.“
„Im Januar“, sagte Toms Mutter. Sie saß links von ihm, ihr gegenüber rutschte Frau Barmettler auf dem Stuhl hin und her. Tom wusste nicht, wen er ansehen sollte und blickte auf das Bild, das hinter Pfarrer Gasser an der Wand hing. Die Mutter Gottes mit dem Christuskind im Arm. Das Gemälde war rund, Marias Kleid leuchtete in kräftigem Blau.
„Aha“, sagte Gasser. „So. Dann erzähl uns, weshalb du das getan hast.“
„Woher hattest du überhaupt die Farbe?“, fragte Frau Barmettler. Der Pfarrer verzog das Gesicht. Aber dann wiederholte er ihre Frage.
„Aus unserer Garage“, sagte Tom.
„Die Kirche war offen?“, fragte Gasser.
„Ja.“
„Gestern Abend?“
Tom nickte.
„Und dann bist du hinein?“
„Ja.“
Die Luft im Raum war trocken und Toms Hals schmerzte. Auf einmal stand seine Mutter auf.
„Sag mir, warum!“, sagte sie. Frau Barmettler erschrak und wich zurück. Tom senkte den Kopf, überlegte, was er antworten sollte. Er zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht“, sagte er.
„Du weißt es nicht.“ Gasser bedeutete der Mutter, sich wieder hinzusetzen. Frau Barmettler nestelte an ihrer Bluse herum, sie hatte eine Brosche angesteckt, die zu schwer für den dünnen Stoff war. Gasser faltete erneut die Hände. Tom wurde übel, er wollte aufstehen und aufs Klo rennen. Warum konnten sie ihn nicht einfach bestrafen?
„Geht es dir gut, mein Junge?“, fragte Gasser. Tom nickte und der Pfarrer räusperte sich.
„Du hast geschrieben, Jesus solle herunterkommen“, sagte er.
„Ja.“
„Findest du das lustig?“, fragte Toms Mutter, aber der Pfarrer hob die Hand. Er rieb sich die Nase, als müsste er nachdenken.
„Gut. Angenommen, er kommt wirklich herunter“, sagte er. Frau Barmettler runzelte die Stirn. Das Bild hinter Gassers Schulter wurde unscharf, Tom sah bloß noch blaue Farbe. Er hatte den Geruch von Weihrauch in der Nase. „Was würdest du tun?“, fragte der Pfarrer.
„Er ist so ein braver Junge!“, rief Frau Barmettler dazwischen. „Ich hätte nie gedacht, dass er …“
„Hat er aber“, sagte Toms Mutter.
Gasser ließ sich nicht beirren. „Also, Tom. Was würdest du tun?“ Er sah Tom an.
„Er soll sagen, weshalb er das wollte. Dass Vater stirbt“, sagte Tom und es gelang ihm, die Tränen zurückzuhalten. Gasser lehnte sich zurück und blickte zu Toms Mutter. Sekunden vergingen. Tom kniff die Augen zusammen, Maria gewann wieder an Kontur. Frau Barmettler beugte sich zu ihm und bewegte lautlos die Lippen, während seine Mutter den Kopf in die Hände legte. Ihr Atem ging schwer. Toms Gesicht war heiß, die Füße fühlten sich an, als steckten sie in Eiswasser.
„Nun gut.“ Gasser räusperte sich wieder. „Was machen wir mit dir?“, fragte er.
„Er hat noch nie etwas Schlimmes getan“, sagte Toms Mutter, den Kopf noch immer zwischen den Händen vergraben. Tom setzte sich gerade hin.
„Das weiß ich.“ Gasser dachte nach. „Selber putzen kann er die Schweinerei nicht. Das ist zu heikel.“
„Ja“, sagte Toms Mutter. Sie hob den Kopf.
„Das wird teuer.“
„Ja.“
„Vielleicht kann er etwas helfen? Gartenarbeit?“, fragte Frau Barmettler.
„Womöglich“, sagte der Pfarrer. „Das ist eine Idee. Wir werden das abklären.“

Es hatte aufgehört zu regnen. Neben dem Pfarrhaus ragte der Kirchturm in die Höhe, dahinter konnte Tom den Mond sehen, verdeckt durch Wolken, schwach schimmernd.
„Gehen wir zum Grab“, sagte seine Mutter.
Es war nur ein kurzer Weg, aber Tom schien es ewig zu dauern. Die Mutter schwieg. Er sah zu ihr hoch. Sie öffneten das Tor und gingen hinein, dorthin, wo sein Vater begraben war. Neben dem Kreuz standen Kränze mit Schleifen in Rot und Gelb. Sie nahm einen Tannzweig, der in einer Steinschale lag, und sprenkelte Weihwasser auf das Immergrün. Als sie Tom den Tannzweig überreichte, berührten sich ihre Hände. Sie sah ihn an und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

 

Hallo peeperkorn,

Worte, die ihm so vertraut waren, dass sie nichts mehr bedeuteten
Da habe ich mit Lesen aufgehört. Bedeuten vertraute Worte einem nichts mehr? Du bringst ja Fremdworte, die der Prot gelernt hat und die ihm anscheinend im Kopf eingebrannt sind und anscheinend auch etwas bedeuten. Ich verstehe deine Aussage so, dass die Routine beim Beten des Vaterunser oder des Ave Maria zu einem automatischen Ablauf ohne Konsequenzen, ohne Nachdenken führt. Das ist schade, denn eigentlich sollten die Wiederholungen ja zu einer meditativen Stimmung helfen.

Es ist eine Prüfung für uns alle
Das ganze Leben ist eine Prüfung - diese Auffassung gibt es immer wieder, schließlich heißt es doch "Und führe uns nicht in Versuchung" - also Bitte prüfe uns nicht. Aber dieser prüfende und strafende Gott ist mir fremd und ich kann den kleinen Prot nur immer mehr bedauern.

Und dann zeigt sich, dass er doch einen recht lebendigen Glauben hat. Und ich wünsche ihm, dass das klappt und er die Anwort hören und begreifen kann auf das warum und vielleicht irgendwann auf das wozu.

Deine Geschichte hat mich sehr berührt.

Jobär

 

Lieber Peeperkorn,

nein, heiter ist auch diese Geschichte nicht, aber ergreifend und schön. Ein Junge verliert mit zwölf Jahren seinen Vater durch Krebs. Wie kann er mit diesem Schicksalsschlag zurechtkommen in einem Milieu, wo demütiges Annehmen im Glauben, hier katholisch geprägt, oberstes Gebot ist?
Die Mutter lebt es ihm vor, aber der Sohn, gerade zu Beginn der Pubertät, stellt die Frage nach dem Warum, die - so sehe ich es hier - auch die Frage nach göttlicher Gerechtigkeit ist.

Komm runter, du Arsch!

Der drastische Aufschrei eines jungen Menschen, der in einer ersten Glaubenskrise steckt. Sehr plakativ und - was die Themenvorgabe betrifft, perfekt gelöst.

Ich brauch dir nicht zu sagen, dass ich nicht auf Fehlersuche bin. Denn es gibt keine.
Du kennst das katholische Umfeld genau, vielleicht aus eigener Lebensgeschichte, bis ins Detail. Du vermeidest Klischees von bigotten Müttern und salbungsvollen Pfarrern. Die Befragung des Jungen und die "Bestrafung" haben geradezu einen pestalozzimäßigen Touch.
Keine billige Religionsschelte.

Mir gefällt auch, wie du relativ breit das Szenario im Gottesdienst gestaltet, wie Kinder sich während der Messe verhalten. Es ist schon bald klar, dass Tom Urheber der "Blasphemie" sein wird. Da hast du mich bis zu seiner Selbstbeschuldigung ganz dicht neben ihm.

Und - Überraschung - ein Lächeln im allerletzten Satz ;) Da ist also Hoffnung für Mutter und Sohn, Verständnis auf neuem Level.

Toller Text, anspruchsvoller Inhalt, subtil gestaltet.
Bin auf die Reaktionen gespannt.

Herzliche Grüße
wieselmaus

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Peeperkorn,
ich habe selten einen Text gelesen, in dem die Theodizeefrage dermaßen klar auf den Punkt gebracht wird, völlig ohne Sentimentalität aber doch mit der genau richtigen Beseelung der Figuren. Und dann aber doch mit der nötigen Unklarheit, die diese grundsätzliche Frage des Hiob nicht mit der Tür ins Haus poltern, sondern langsam in den Text einsickern lässt, dass man unmerklich in die Verstrickung aus Hoffnung, Enttäuschung, Klage und Anklage hineingezogen wird. Ich finde das komplexe Gefühlsgewirr ungemein treffend beschrieben, ohne dass es explizit ausgesprochen wird, einfach auch weil es sprachlich stringent, genau und schlichtweg schön verfasst ist. Die vielen miteinander verwobenen Details habe ich schon in Deinem ersten Text, den ich von Dir las, bewundert. Das ist hier auch so. Die Figur am Anfang mit der abgeschlagenen Nase, der schlecht gearbeitete Korpus, die zu schwere Brosche. Bildreiche Fährten und Details.
Mich hat der Text in der religiösen Thematik und ein wenig auch in der Bildsprache an Hanekes Film "Das weiße Band" erinnert. Dort geht es ja auch um die Unterdrückung kindlicher Impulse und ihre aggressiven Konsequenzen. Allerdings agieren in Deinem Text freie Menschen, die am Ende auch Schlimmes verzeihen können und Menschlichkeit über den Codex stellen. Von daher für mich fast eine moderne Antwort auf den Haneke-Film.
Mann, was für ein Text. Das hat mich ganz schön mitgenommen. Ist aber wohl auch intendiert.
Herzlich
rieger

 

Hallo Peeperkorn,

das ist ein toller Text, der sich so genial in ein Kind hineinfühlt, dass man beim Lesen beinahe wieder zwölf wird. Der Zorn auf das Schicksal, auf die Behauptung 'Gott will es' trifft (ausgerechnet) blutrot das Abbild des Wanderpredigers aus Nazareth. Du fängst das so gut und atmosphärisch dicht ein, zum Beispiel hier

„Es ist eine Prüfung für uns alle“, hatte die Mutter einmal gesagt, als sie Tom aus dem Schlafzimmer kommen sah. „Auch für dich.“ Sie strich ihm übers Haar. Tom fragte sich, was geschehen würde, wenn er durchfiele, und was er können musste, um zu bestehen. Er traute sich nicht, sie zu fragen. Er hatte gelernt, so zu tun, als verstünde er alles, was sie sagte, als wäre er mit allem einverstanden.
dass ich keine Veränderungsvorschläge habe. Ist in meinen Augen eben einfach nur gut.

Grüße,

Eva

 

Hallo Peeperkorn

Andere drehten sich um und behaupteten, einer habe gekotzt, schon beim Betreten der Kirche, ohne den Weihrauch abzuwarten.

Das verstehe ich nicht - muss man in der Kirche den Weihrauch abwarten, um kotzen zu dürfen? :)

Du greifst das nicht mehr auf, ist also vermutlich nur das Gerede der Kinder, aber ein wenig seltsam ist es schon, wie so ein "Gerücht" in dieser Situation entstehen kann.

Dann aber schlüpfte einer nach dem anderen hinein und am Ende stand Tom zusammen mit vierzig Schülern und einer Lehrerin, der es die Sprache verschlagen hatte, in der Kirche vor einer Seitenkapelle gleich neben dem Eingang und blickte auf ein Christuskreuz.

Das kann man eleganter formulieren, ist so ein Schachtelsatz, der hier am falschen Platz steht (wie die meisten Schachtelsätze). Du machst das gut im Einstieg, beginnst langsam und steuerst dann auf den Höhepunkt zu, wenn alle sehen, was die Aufregung verursacht hat. Da würde ich aber versuchen, das Tempo anzuziehen, der Schachtelsatz nimmt es raus, deshalb falscher Platz.

Komm runter, du Arsch

Das ist ja im Grunde ein alter Hut - die Aufforderung, Jesus solle herabsteigen, quasi als Beweis dafür, dass er Gottes Sohn ist, findet sich schon in der Bibel. Ich finde es gut, dass du das Bild hier aufgreifst, und mit dem "du Arsch" in die heutige Zeit verortest und dem ganzen noch eine gehörige Portion Wut mitgibst.

Einmal, da war er vier oder fünf, hatte Tom während der Messe plötzlich zu plappern begonnen, die Worte des Pfarrers mit langgedehnten Lauten nachgesprochen. Toms Mutter legte ihm die Hand auf den Mund und schüttelte den Kopf. Sein Vater jedoch setzte eine ernste Miene auf, sah sie an, zuckte mit den Schultern und flüsterte, der Junge werde offenbar mal Priester. Worauf er den Arm um Toms Schulter legte und ihm mit warmer Hand über die Wange strich.

Finde ich schön, wie du das einstreust. Glaube, das hab ich schon mal in einer deiner Geschichten gelobt - das ist ein tolles Beispiel für show don't tell, weil du hier viel aussagst über das Verhältnis zwischen Tom und seinem Vater. Da gibt es zwar die väterliche Strenge ("Das mit dem Arsch hätte er nicht gut gefunden"), aber der Vater steht trotzdem auf Toms Seite und sieht die Dinge mit einem Augenzwinkern. Eigentlich ein optimales Verhältnis, und die Stelle braucht es hier auch, weil du damit die Fallhöhe festlegst, die es durch die Krankheit und den Tod des Vaters dann nach unten geht. Handwerklich ist das echt top hier.

„Also ja“. Er lachte. Dann nahm er Toms Hand. „Brich ihr nicht das Herz, ja?“ Er musste husten. Toms Mutter kam herein, schloss das Fenster und schob ihn sanft zur Seite.
„Vater braucht Ruhe“, sagte sie.

Die Mutter wirkt sehr distanziert. Du stellst sie als Gegenteil des Vaters dar - er lacht selbst unter Schmerzen, während sie immer sehr ernst ist. Das ist wohl so ein grundlegender Charakterzug von ihr und hängt nicht direkt mit der Krankheit zusammen. Das wird auch dann offensichtlich, wenn Tom sie als "Frau Gander" ansprechen muss (geht das eigentlich wirklich, dass eine Mutter ihren eigenen Sohn unterrichten darf, und sei es "nur" in einem Fach wie Religion?).

Tom tat leid, dass er nichts weiter dazu sagte.

Vielleicht besser "Tom bedauerte, ..." - "Tom tat leid" klingt komisch.

„Vor dieser Figur habe ich jeden Tag gekniet, zwei Jahre lang. Habt ihr das gewusst?“
Ruth schüttelte den Kopf, die anderen starrten auf ihre Pulte, als müssten sie ein schlechtes Gewissen haben. Tom sah seiner Mutter in die Augen. Sie war nicht zornig, das wusste er. Ihr Gesicht sah aus, als wäre sie krank, die Wangen ohne Farbe, die Nasenspitze rot. Die Mundwinkel zuckten. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn ihr die Tränen gekommen wären, obwohl er sie noch nie hatte weinen sehen.
„Ich habe gebetet, dass Toms Vater wieder gesund wird“, sagte sie. Einige drehten den Kopf und Tom rückte seine Brille zurecht. Der Regen war stärker geworden, Tropfen schlugen gegen das Fenster. „Und als wir sahen, dass Gott es anders wollte, habe ich um Trost gebeten. Jeden Tag. So ist das.“

Die Stelle gefällt mir nicht so gut. Vom Gefühl ist das mehr zum Leser gesprochen als zu der Klasse. Warum sollte sie derartige Dinge vor einer Schulklasse sagen (wo sie doch auch grossen Wert auf Professionalität legt)? Es kann ja sein, dass sie emotional extrem aufgewühlt ist, aber auch dann wirkt es komisch. Dann auch die Formulierung "Toms Vater". Warum sagt sie nicht, wenn überhaupt, "mein Mann"? Fände ich, nach allem, was wir bis hier von ihr wissen, naheliegender, da sie ja anscheinend kein besonders inniges Verhältnis zu Tom hat.

Ich finde die Idee schon toll, weil sie zeigt, dass Tom nicht nur den Vater, sondern auch die Mutter verloren hat - den einen durch die Krankheit, die andere durch eine offenbar sehr extreme Hinwendung an die Religion. Er hat also nicht nur einen, sondern zwei Gründe, den Spruch zu schreiben - das fügt sich schön zusammen an der Stelle hier. Aber trotzdem, mir würde es wohl besser gefallen, wenn wir das auch in einer Art Rückblende oder nur in Toms Gedanken erfahren würden. So direkt zur Klasse gesprochen finde ich es etwas unglaubwürdig.

Tom nahm das Buch, seine Hände zitterten. „Dann schlaf doch!“, schrie er und warf das Buch auf die Kommode, wo es über die Oberfläche rutschte und zu Boden fiel.

Das fand ich dann wiederum eine schöne Stelle. Der Wutausbruch kommt sehr authentisch und glaubwürdig rüber.

Er schlug auf die Türfalle, trat auf die Schwelle und drehte sich um.

"Türfalle" ist ein Helvetismus, den ich nicht kannte. Aber ok, ist die Türklinke.

Gasser ließ sich nicht beirren. „Also, Tom. Was würdest du tun?“ Er sah Tom an. Er hatte braune Augen.
„Er soll sagen, weshalb er das wollte. Dass Vater stirbt“, sagte Tom und es gelang ihm, die Tränen zurückzuhalten.

Ich finde das Theodizee-Problem sehr interessant und hab mich auch schon mit den unterschiedlichen Erklärungsversuchen befasst. Deshalb fand ich es etwas schade, dass hier das Gespräch nicht fortgesetzt wird, aber so wirkt es natürlich authentischer. Ein philosophischer Abstecher wäre hier vermutlich fehl am Platz, angesichts der Situation. Ich fand es etwas überraschend, wie sich Toms Mutter bei dem Gespräch verhält. Der Pfarrer und die Lehrerin sind angenehm zurückhaltend, sie kennen ja die Situation auch, die Mutter präsentiert sich da im Gegensatz schon ziemlich engstirnig.

„Sag mir, warum!“, schrie sie.

Ich verstehe, dass sie das schreit, aber der Grund ist ja offensichtlich und sollte auch ihr klar sein. Ich denke, etwas ruhiger würde sie mir hier besser gefallen, so hast du sie ja auch zuletzt im Klassenzimmer gezeigt, da stand sie da mit schlaffen Armen.

Sie sah ihn an und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Ein schönes und versöhnliches Ende. Es gibt Hoffnung, dass sich beide wieder annähern - und nur so können sie die Tragödie auch verarbeiten.

Also Peeperkorn, das ist eine schöne und berührende Geschichte auf gewohnt hohem Niveau von dir. Ich hab sie zweimal gelesen, ich finde da steckt vieles drin, die Figuren sind glaubwürdig und feinfühlig beschrieben. Das Verhältnis von Tom sowohl zu seinem Vater als auch zu seiner Mutter zeigst du anhand vieler Kleinigkeiten und Details, wohlüberlegt, aber auch so, dass der Leser ein recht umfassendes Bild bekommt. Grosses Kompliment daher für diese Leistung!

Grüsse,
Schwups

 

Lieber Peeperkorn,

wenn man etwas später kommt, ist beinahe schon alles gesagt. Ein sehr guter Text, der die Frage, warum lässt Gott in seiner Allmächtigkeit das Leiden der Menschen zu, in einer sehr anschaulichen und berührenden Weise thematisiert.
Mir gefällt eigentlich alles an deiner Geschichte, aber besonders dein typischer Erzählton, die detailreiche Darstellung der Beziehung Toms zu seinem Vater, die Spannung, die du den ganzen Text über aufrechterhältst, und das schöne versöhnliche Ende.

Fazit: Ich bin begeistert.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Lieber Peeperkorn,

so als atheistisches Nordlicht habe ich deinen Text zunächst mit völligem Unverständnis gelesen, ihn erst einmal gedanklich zur Seite gelegt und dann wieder hervor gekramt.
Anders als dein Zwölfjähriger bin ich nicht mit den beschriebenen kirchlichen Ritualen vertraut und Worte wie "Kyrie" (ging noch halbwegs aus Weihnachtsliedern) oder "apotropäische Wesen" musste ich erst einmal nachlesen.

Trotzdem konnte ich mich dann doch noch von der Atmosphäre deines Textes mitnehmen lassen, Verständnis entwickeln für die Frage des Prots an seinen Gott nach dem 'Warum' nach dem Tod des Vaters, den ich mit seiner humorvollen Art sehr sympathisch geschildert fand.

Ebenfalls richtig gut und für mich nachvollziehbar fand ich die Schilderung der inneren Konflikte, in denen dein Prot steckt - Wut auf der anderen Seite, auf der anderen das schlechte Gewissen seiner Mutter gegenüber, der Wunsch nach Trost durch den Glauben und gleichzeitig die Enttäuschung über das, was er bisher gelernt hat, um dann zuletzt doch von der (christlichen) Gemeinschaft aufgefangen zu werden - sehr eindrucksvoll und komplex!
Die ganz große Emotionalität hat es in mir nicht ausgelöst, denn wie geschrieben fehlt mir hier der der religiöse Background. Aber Hut ab vor deinem Talent, in die Menschen hinein zu sehen und äußere wie innere Konflikte in gute Literatur zu verpacken!

Viele Grüße

Willi

 

Liebe alle

Ich bin erst heute morgen dazu gekommen, die bisherigen Kommentare zu lesen. Ich war recht gespannt und freue mich. Vielen Dank für die wohlwollenden Rückmeldungen.

Lieber jobär

Da habe ich mit Lesen aufgehört.

Erster Satz. Ich habe leer geschluckt - bis ich gemerkt habe, dass du ja weitergelesen hast. :)

Ich verstehe deine Aussage so, dass die Routine beim Beten des Vaterunser oder des Ave Maria zu einem automatischen Ablauf ohne Konsequenzen, ohne Nachdenken führt.

Als Kind bin ich einmal im Jahr das Buochserhorn hoch gelaufen. Das war ein offizieller Schulanlass. Wir haben das Ave Maria gebetet. In all den Jahren wusste ich nicht, was "gebenedeit" heisst.

Das ist schade, denn eigentlich sollten die Wiederholungen ja zu einer meditativen Stimmung helfen.

Ja. Ich denke für die meisten Kinder ist es sehr schwierig, sich auf so etwas einzulassen. Ich weiss noch, wie blöd und zappelig ich mich verhalten habe.

Und dann zeigt sich, dass er doch einen recht lebendigen Glauben hat.

Ich wollte das möglichst offen halten, es ist beides denkbar: Dass er sich vom Glauben abwendet, oder dass er (zusammen mit seiner Mutter) eine Form des Glaubens findet, die Nähe und Menschlichkeit ins Zentrum stellt.

Deine Geschichte hat mich sehr berührt.

Das motiviert mich weiterzuschreiben, vielen Dank für deinen Kommentar.


Liebe wieselmaus

Merci auch dir für die Rückmeldung.

Du kennst das katholische Umfeld genau, vielleicht aus eigener Lebensgeschichte, bis ins Detail.

Ja, ich bin katholisch aufgewachsen und habe in den letzten Jahren ein seltsames Interesse für christologische Fragestellungen entwickelt. :)

Keine billige Religionsschelte.

Das freut mich ungemein. Das war eine der Klippen, die es m.E. zu umschiffen galt.

Und - Überraschung - ein Lächeln im allerletzten Satz

Ich habe drei Versionen dieses letzten Abschnitts. ;) Die hier schien mir die stimmigste zu sein.

Da ist also Hoffnung für Mutter und Sohn

Für mich ein zentraler Punkt. Die Botschaft ist ja auch an sie gerichtet.

Toller Text, anspruchsvoller Inhalt, subtil gestaltet.

Das freut mich sehr, liebe wieselmaus.

Lieber Gruss euch beiden
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo rieger

Vielen Dank! Ich bin vorsichtig, wenn es in meinen Texten um philosophsiche Fragen geht - ethische Dilemmata oder eben das Theodizee-Problem - im Bestreben, meine berufliche Tätigkeit (Philosophielehrer) nicht allzu offensichtlich werden zu lassen. Schön, wenn das hier geglückt scheint.
Den Film von Haneke habe ich mir bestellt, ich sehe schon nach einer ersten Lektüre der Kritiken, dass das ein sehr schmeichelhafter Vergleich ist.
Ich lese deine präzisen und fein gearbeiteten Kommentare sehr gerne, habe ich dir schon mal gesagt. Den hier natürlich besonders.

Hallo Eva

Dein Lob hat mich sehr gefreut. Die Perspektive von Heranwachsenden ist m.E. besonders gut geeignet, wenn es z.B. darum geht, zu hinterfragen, was den Erwachsenen selbstverständlich ist. Die vielen Unterrichtsgespräche mit Jugendlichen scheinen sich für mich auch in literarischer Hinsicht auszuzahlen. :)

Hallo Bea

Du betonst vor allem das Rebellische an Tom, den Befreiungsakt, und das gefällt mir. Vielen Dank für deine schöne Rückmeldung.

Die Änderungsvorschläge habe ich weitgehend übernommen, die ersten Schüler, das "auch" gestrichen (ich hatte einen Extra-Überarbeitungsgang zur Elimination von Füllwortern, aber ein paar davon verstecken sich immer), den von dir vorgeschlagenen Absatz eingefügt, die Namen eliminiert, bzw. auf wenige (die bereits bekannt sind) reduziert..

Der Absatz von
... Die Grillen nerven, hatte sein Vater gesagt.
... bis
„Vater braucht Ruhe“, sagte sie.
ist für mich der überflüssigste in der so dicht erzählten Geschichte.

Ja, ich sehe da den Punkt. Auf der anderen Seite funktioniert die spätere Passage mit Jonas ("... denn sein Vater war auch gestorben") ohne diesen Abschnitt nicht. Ich wollte das schrittweise einführen. Zuerst Krankheit, später dann die Gewissheit (für den Leser), dass der Vater gestorben ist. Und ich finde es auch plausibel, dass Tom in dieser Situation, wenn er sich schon an seinen Vater erinnert, auch an die letzten beiden Jahre denkt. Eine einfache Streichung scheint mir insgesamt nicht gut möglich, aber ich werde darüber nachdenken, ob sich da noch was machen lässt.

Ja, die Grenze zwischen Kurzgeschichte und Erzählung ist fliessend und wird hier im Forum auch nicht wirklich gezogen, so weit ich das beurteilen kann. Es kommen bisweilen recht lange Texte (10'000 Wörter und mehr) in der KG-Rubrik unter.

Liebe Bea, deine Anmerkungen waren sehr hilfreich für mich, machen den Text besser, wofür ich mich bedanke.

Lieber Gruss euch allen
Peeperkorn

 

„...
die arme und verlassne lüüt
müends schön im himmel ha“​

Da konnt ich mir nicht verkneifen, dem „Schacherseppli“ einen Besuch abzustatten,(wird der allemannische Dialekt eigentlich noch oft gesprochen? Ruhrlatein – meine eigentliche Muttersprache - ist eben kein Dialekt, sondern aus unterschiedlichsten Soziolekten gebildet, die Elemente all der Einwanderer zur niederrheinischen [eigentlich: Niederfränkisch, dessen größter Block das Niederländische ist] wie der sächsischen („west“fälischen) Dialekte mit Jiddisch, Polnisch bis hin zum Kanakdeutsch vermischt wird („geb/jib mich‘en Motek“ [„gib mir den Hammer“], aber ich schweif ab (Keller und Gott helf!).

Und genau Kellers Grüner Heinrich ist mir eingefallen, wenn dort von der Schulzeit und vom Göttlichen erzählt wird, von dem Moment, da er den Wetterhahn auf dem Kirchturm für „Gott“ hält usw., bis zu dem Augenblick, da das fälische Schwarzbrot und der Name „Pumpernickel“ in sein – ich mein, gerade sechsjähriges – Leben tritt und den Namen Gottes abgibt. Natürlich wird Keller der irreligiöse Mensch, als der er Euer Nationaldichter und höchster Beamter Zürichs (Kanton) wurde, ohne dass ich in dem umfangreichen Werk von ihm und außer der allemannischen Landnahme in der zwoten Fassung des Grünen Heinrich irgend etwas Allemannigliches auftaucht.

Wie bei Dir, ausgenommen des Liedes, dessen letzte Zeilen ich oben zitier.

Wann schreibstu die erste Novelle?
Wann den ersten Roman?

Muss ja nicht der Salander sein … denn was soll unsereins, der die Nacherzählung auf die Schulbank verweist, anderes tun, bei etwas, dass ihm fast perfekt erscheinen will?,

lieber Peeperkorn.

Drei Vorschläge hätt‘ ich, wie hier

... lösten sich von ihren Partnern und drängten nach vorne, um zu sehen, was los war.
(da juckt‘s mich am Ende den Konjunktiv zu wählen – man weiß ja nicht, was einen da erwartet.)

Es formte sich eine Traube aus neugierigen Schülern, die den Eingang blockierten.
(Hier ist es wie beim Paar, das zwar ein Zweiheit ist, aber als Paar singulär (wie beim Duo, Trio, Quartett), und selbst, wenn es eine unbestimmte Mehrzahl von neugierigen Schülern ist, ein Menge) ist wie eine Traube Singular ...)

Und wenn ich schon mal die Schulbank nenne, dann auch die Schulgrammatik, der Du gelegentlich unterliegst (was ja nix Schlimmes, schon gar nix Falsches ist.) notiert hab ich mir

Das war im August gewesen und da hatte er schon über zwanzig Kilo abgenommen.
„War gewesen“ und „hatte abgenommen“, wobei ein Hilfsverb beurlaubt werden kann, hier eben beim gedoppelten „sein“, weil „haben“ dem Leser die Vorzeitigkeit aufs Auge (und Lesung, sofern Zuhörer überhaupt „aufmerken“ und wach- i. S. von hörsam sind).

Genug geplaudert, meint der

Friedel,
der jetzt gleich erst im Grünen Heinrich (beide Fassungen sind auf dem uralt XP) blättern wird.

 
Zuletzt bearbeitet:

Weil es thematisch recht gut unter Friedels Beitrag passt:

Sie hatte nur zwei Klassen, aber gerade seine hatte es getroffen. Sie hatten sich darauf geeinigt, …
Das PQP braucht die Hilfsverben, schon klar. Aber dann solltest du nicht noch zusätzlich im Präteritum „haben“ als Vollverb verwenden. Da gibt‘s nämlich durchaus Alternativen:
z.B. Sie unterrichtete nur (in) zwei Klassen, …

Das war übrigens die einzige Stelle, Peeperkorn, die ich mir als stilistisch fragwürdig markiert habe.
Und jetzt, wo ich's dir gesagt hab, kann ich mich wieder auf den Kommentar zum Inhalt konzentrieren. Den bekommst du vermutlich aber erst am Wochenende.

offshore

 

Lieber Peeperkorn,

ich habe deine Geschichte jetzt mehrfach gelesen und ich bin jedes Mal tief beeindruckt und sehr bewegt, jetzt beim letzten Lesen auch zu Tränen.
Das am Ende die Erwachsenen seinen Protest akzeptieren, ist das Tröstliche. Fast hat man sogar den Eindruck, als ob er mit seiner Aktion auch seine Mutter aus ihrer Starre erlöst.

Sein Vater hätte gelacht, ganz bestimmt. Hätte sich an den Kopf gefasst und Mannomann! gerufen. Jesus, komm runter. Das ist ja mal eine Ansage. Das mit dem Arsch hingegen hätte er nicht gut gefunden. Sowas wäre ihm zu weit gegangen. Aber er hätte es verstanden.

Je stärker die Persönlichkeit des Vaters Konturen annimmt, desto mehr wird auch deutlich, das Tom sich mit dieser Tat als Sohn seines Vaters zeigt. Vielleicht hätte ich als Leserin lieber selbst diesen letzten Gedanken gehabt. "Aber er hätte es verstanden." "
Sowas wäre ihm zu weit gegangen. Vielleicht." Nur so als Idee. Das würde es mehr in einer Spannung lassen.

Ansonsten könnte ich jetzt eigentlich nur jeden Satz deiner Geschichte feiern, ich finde sie grandios, vielen Dank dafür.

Liebe Grüße von Chutney

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Peeperkorn,
Ich fange mal mit meinem einzigen Kritikpunkt an, weil danach nur noch Lob kommt, also zieh dich ganz warm an jetzt ;): Die Mutter finde ich in ihrer berechtigten und ohnmächtigen Trauer einen Tick zu blass, sie fällt neben dem Vater total ab, was aber inhaltlich zu rechtfertigen ist, weil - zumindest auf den ersten Blick - die fehlende Figur ja der Papa ist. Allerdings würde durch eine leichte Nachjustierung der Mutter das Ende noch eine Spur stärker werden. Hier könntest du eventuell ein ganz kleines bisschen nachschärfen...
So mehr Gemecker gibt es nicht, und selbst das war ja nun Geplinse auf allerhöchstem Niveau.

Denn: Die Geschichte ist einfach gut. Ohne wenn und aber. Konventionell erzählt, mit Rückblenden, aber eben in deinem typisch souveränen Erzählstil, sprachlich top und inhaltlich biste sowieso immer ganz nah an deinen Figuren. Ein größeres Lob kann ich dir eigentlich kaum mitgeben, denn das was du schreibst, kommt immer absolut echt rüber. Jede Gefühlsregung, jeder innere Monolog, jeder Dialog.
Ich finde deine Story interessant, aber es ist nicht so, dass sie jetzt rein von der Handlung hammerspannend wäre. Heißt: Ich habe mir nicht die Nägel abgekaut beim Lesen und es wird natürlich relativ schnell klar, wer das Geschmiere zu verantworten hat ;), aber das ist kein Drama, zumal das ja wohl auch nicht anders von dir gewollt war. Nee, nee, ist alles gut so. Die Geschichte fließt total richtig, so wie du sie erzählst, ich schwimme mit deinen Gedanken, deinen Figuren total gern mit, lasse mich mitreißen und genieße einfach - und eigentlich könntest du auch total Banales erzählen und ich wäre immer noch gern dabei.
Um nicht missverstanden zu werden, die Story ist auch inhaltlich gut, ich sehe und lese das Konzept dahinter - und ich will das keinesfalls schmälern. Das ist durchdacht und absolut schlüssig und stellt mich als Leser am Ende mehr als zufrieden.
Ich versuche dir gerade nur etwas umständlich zu sagen: Inzwischen gehörst du hier zu den fünf bis acht Autorinnen und Autoren, bei denen ich mit Sicherheit weiß, dass mich ein absolutes Schmankerl erwartet. Und die mich neben Begeisterung durchaus auch mit Neid erfüllen, weil ich anerkenne, dass sie mir (und ich halte mich nicht für soooo übel ;)) in vielen Dingen einfach überlegen sind.
So genug gelobt.
Ich muss kein Hellseher sein, um zu vorherzusagen, dass das Ding hier in der Endabrechnung zurecht ganz weit oben stehen wird.
Mit Genuss gelesen
LG svg

 

Hallo Schwups

Dein genauer und differenzierter Blick war auch diesmal äusserst hilfreich für mich. Vielen Dank!

Das verstehe ich nicht - muss man in der Kirche den Weihrauch abwarten, um kotzen zu dürfen?

Ein Darling. Ich war kurz davor, ihn vor dem Einstellen zu töten, habe mir aber gedacht, schauste mal. Jetzt ist er weg. Es ist so, dass wir immer mittwochmorgens um acht Schulgottesdienst hatten und da ist regelmässig einer zusammengeklappt oder hat sich übergeben müssen. Oft war Weihrauch der Auslöser. Aber wenn man diesen Zusammenhang nicht kennt, ist die Anspielung nicht zu verstehen, ich seh schon.

Dann aber schlüpfte einer nach dem anderen hinein und am Ende stand Tom zusammen mit vierzig Schülern und einer Lehrerin, der es die Sprache verschlagen hatte, in der Kirche vor einer Seitenkapelle gleich neben dem Eingang und blickte auf ein Christuskreuz.
Das kann man eleganter formulieren, ist so ein Schachtelsatz, der hier am falschen Platz steht (wie die meisten Schachtelsätze).

Jein. Also, du hast schon recht und ich habe es auch geändert. Aber ich wollte das Satzgefüge der Tatsache anpassen, dass die Gruppe jetzt zum Stillstand kommt, den Übergang von der Dynamik des Reinkommens zum Innehalten nachahmen. Sie schlüpfen hinein und dann kommt Ruhe in die Gruppe, einer kommt noch nach und sie schauen sich das an und da ist der Schachtelsatz. Ich habe das aber geändert, das etwas zurückgenommen.

Das wird auch dann offensichtlich, wenn Tom sie als "Frau Gander" ansprechen muss (geht das eigentlich wirklich, dass eine Mutter ihren eigenen Sohn unterrichten darf, und sei es "nur" in einem Fach wie Religion?).

Man versucht das pensentechnisch zu vermeiden, aber rein rechtlich spricht nichts dagegen - soweit ich weiss.

Vielleicht besser "Tom bedauerte, ..." - "Tom tat leid" klingt komisch.

Geändert, merci. Auch Türfalle zu Türklinke.

Die Stelle gefällt mir nicht so gut. Vom Gefühl ist das mehr zum Leser gesprochen als zu der Klasse. Warum sollte sie derartige Dinge vor einer Schulklasse sagen (wo sie doch auch grossen Wert auf Professionalität legt)? Es kann ja sein, dass sie emotional extrem aufgewühlt ist, aber auch dann wirkt es komisch. Dann auch die Formulierung "Toms Vater". Warum sagt sie nicht, wenn überhaupt, "mein Mann"? Fände ich, nach allem, was wir bis hier von ihr wissen, naheliegender, da sie ja anscheinend kein besonders inniges Verhältnis zu Tom hat.

Ein sehr spannender Punkt. Ich habe befürchtet, dass das zur Sprache kommt. Der Nachteil der Rückblende wäre, dass ich die Wut und das Entsetzen, das die Mutter angesichts des blasphemischen Akts empfindet, nicht hätte zeigen können, da brauche ich eine Szene in der Jetztzeit. Und dann wollte ich das Bild der Mutter hier schon ein wenig brechen. Sie bezeichnet sich als professionell, ist es aber nicht. Hier ist das negativ. Aber es zeigt auch, dass sie in der Lage ist, hinter der Fassade hervorzukommen und echte Gefühle zu zeigen. Das macht dann das Ende plausibler. Der Nachteil der Szene liegt auf der Hand. Die Mutter agiert hier an der Grenze der Glaubwürdigkeit und ja, es ist natürlich viel Info für den Leser drin.
Ich werde auf alle Fälle noch über Alternativen nachdenken, zumindest das "mein Mann" habe ich schon mal geändert.

Vielen Dank auch für die abschliessende Gesamteinschätzung, lieber Schwups.


Liebe barnhelm

Mittlerweile kann ich glaub recht gut einschätzen, welche meiner Texte dich ansprechen, welche weniger. Und hier hatte ich den Anspruch, einen Text der zweiten Kategorie verfasst zu haben. Deine Einschätzung bedeutet mir viel. Merci!

Hallo Willi

Vielen Dank für deine Rückmeldung, das hat mich sehr gefreut. Dass man als atheistisches Nordlicht den Text eher mit distanziertem Interesse liest, kann ich gut verstehen. (Man kann übrigens auch Atheist sein und einen solchen Text schreiben - aber ja, wie gesagt, ich bin katholisch aufgewachsen und das ist wohl das Entscheidende.)

Trotzdem konnte ich mich dann doch noch von der Atmosphäre deines Textes mitnehmen lassen,

Das freut mich dann umso mehr, ebenso wie deine Einschätzungen zur Darstellung des Konflikts, zur Komplexität der Geschichte und zur Figurengestaltung. Vielen Dank!

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hallo Peeperkorn,

also, hm, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.
Das ist zweiffellos eine sehr gute Geschichte, toll geschrieben. Ich finde es schön, wie du die vielen Rückblenden eingebaut hast, es ist v.a. spürbar geworden, wie sehr Tom seinen Vater liebt. Auch das Setting - Kirche, christliche Schule, das ist super.
Du merkst schon, da kommt jetzt ein "aber" ;) Mir hat der Schluss irgendwie nicht so gut gefallen - für mich passt dieses Lächeln am Ende nicht, ich weiß nicht. Ich kann die Mutter nicht so richtig "fassen", sie ist für mich widersprüchlich. EInerseits hart und unnachgiebig (strenger als die "fremde" Lehrerin!) und dann plötzlich dieses Lächeln. Heißt sie die Tat doch gut? Oder willst du damit zeigen, dass sie ihrem Sohn verzeiht? Das Lächeln kommt für mich an dieser Stelle so "aus dem Nichts" und irgendwie empfinde ich es als nicht stimmig, ohne dass ich genau sagen kann, woran es liegt. Das ist deswegen jetzt kein "echter" Kritikpunkt, ich stells nur einfach für mich fest und wollte es dir mitteilen.

Sprachlich ist mir natürlich so gut wie gar nichts aufgefallen, das ist alles toll gemacht.

Hier nur noch ein paar Gedanken von mir:

ann aber schlüpfte einer nach dem anderen hinein und am Ende stand Tom zusammen mit vierzig Schülern und einer Lehrerin, der es die Sprache verschlagen hatte, in der Kirche.
Über den Satz bin ich gestolpert. Er klingt etwas umständlich am Ende, find ich.

Tom saß in der Bank, hatte die Hände im Schoss gefaltet, murmelte Worte, die ihm so vertraut waren, dass sie nichts mehr bedeuteten.
Damit implizierst du, dass sie ihm mal was bedeutet haben. Dafür finde ich in dem ganzen Text aber keinen einzigen Anhaltspunkt.

Er hatte ein Zirpen im Ohr. -
Die Grillen nervten, hatte sein Vater gesagt.
schön

Sie unterrrichtete nur zwei Klassen
ein "r" zu viel

„Frau Barmettler hat es mir erzählt. Was man getan hat. Was jemand getan hat“, sagte sie und verschränkte die Arme.
Ich persönlich fänd die Stelle stärker, wenn sie nur den ersten Satz sagt, ist aber nur ein Vorschlag.

Er erledigte Einkäufe, brachte dem Vater Bücher aus der Bibliothek – ein Buch zu kaufen macht irgendwie keinen Sinn mehr, nicht? – las ihm daraus vor, reichte Säfte und Äpfel, am Ende nur noch Wasser, tat dieses, tat jenes, weil man nichts tun konnte.
Traurig und sehr schön

Tom hob die Hand. „Frau Gander.“
Sie sah ihn überrascht an. „Ja?“
„Ich war's.“
Die Stelle fand ich ganz toll. Tom erzählt ihr von seiner Tat während des Unterrichts und nicht zu Hause, er erzählt es also quasi nicht "seiner Mutter", sondern der lehrerin. Das sagt viel aus über die Mutter-Sohn-Beziehung.

„Er ist so ein braver Junge!“, rief Frau Barmettler dazwischen. „Ich hätte nie gedacht, dass er …“
„Hat er aber“, sagte Toms Mutter.
Auch so eine Stelle. Frau Barmettler sagt das, was man normalerweise von einer Mutter in dieser SItuation erwarten würde.

Ich hoff, du kannst mit meinen Anmerkungen etwas anfangen.
Ein schöner Text, den ich sehr gern gelesen hab.

Liebe Grüße,

Tintenfisch

 
Zuletzt bearbeitet:

Ich fang mal von hinten an, Peeperkorn:

… der Pfarrer hob die Hand. Er rieb sich die Nase, als müsste er nachdenken.
„Gut. Angenommen, er kommt wirklich herunter“, sagte er. Frau Barmettler runzelte die Stirn. Das Bild hinter Gassers Schulter wurde unscharf, Tom sah bloß noch blaue Farbe. Er hatte den Geruch von Weihrauch in der Nase. „Was würdest du tun?“, fragte der Pfarrer.
„Er ist so ein braver Junge!“, rief Frau Barmettler dazwischen. „Ich hätte nie gedacht, dass er …“
„Hat er aber“, sagte Toms Mutter.
Gasser ließ sich nicht beirren. „Also, Tom. Was würdest du tun?“ Er sah Tom an. Er hatte braune Augen.
„Er soll sagen, weshalb er das wollte. Dass Vater stirbt“, sagte Tom und es gelang ihm, die Tränen zurückzuhalten. Gasser lehnte sich zurück und blickte zu Toms Mutter. Sekunden vergingen. Tom kniff die Augen zusammen, Maria gewann wieder an Kontur. Frau Barmettler beugte sich zu ihm und bewegte lautlos die Lippen, während seine Mutter den Kopf in die Hände legte. Ihr Atem ging schwer. Toms Gesicht war heiß, die Füße fühlten sich an, als steckten sie in Eiswasser.
„Nun gut.“ Gasser räusperte sich wieder.

Das war die Stelle in der Geschichte, wo ich mir dachte, jetzt kommt gleich so was wie der dramatische Höhepunkt. Keine Ahnung, was ich mir erwartet habe, irgendeinen Versuch des Pfarrers vermutlich, das verlorene Schäfchen Tom wieder in den Schoß des bedingungslosen Glaubens zurückzuführen. Und Toms Aufbegehren dagegen. Einen Showdown der unterschiedlichen Weltanschauungen quasi.
Und war dann fast ein bisschen enttäuscht, als nichts anderes von Pfarrer kommt als das:

„Was machen wir mit dir?“, fragte er.
[…] Gasser dachte nach. „Selber putzen kann er die Schweinerei nicht. Das ist zu heikel.“
Äh, das ist alles, fragte ich mich? Keine Bekehrungsversuche des Gottesmannes? Keine theologischen Spitzfindigkeiten?
Nö, gar nix.
Und dann ist mir schön langsam ein Licht aufgegangen, dass es vermutlich genau diese unspektakuläre Reaktion des Pfarrers war, die deine Geschichte für mich erst so richtig glaubhaft und ja, schmerzhaft gemacht hat, dieses Übergehen zur Tagesordnung gewissermaßen - für den Pfarrer ist das Wichtigste das Säubern der Christus-Statue, das Wiederherstellen seiner vermeintlich heilen Welt, des Sollzustandes sozusagen. Dass er angesichts von Toms Elend mit allem anderen ohnehin scheitern würde, ja, müsste, weiß er vermutlich selber und die Leser wissen es vermutlich auch, und damit wird der Pfarrer auf das reduziert, was er eigentlich ist: in Wahrheit eine tragisch-komische Figur, die genau nichts am Zustand dieses Jammertals, gemeinhin Leben in dieser unserer Welt genannt, ändern kann.

Das sei …
wieselmaus schrieb:
… keine billige Religionsschelte
… lobt wieselmaus und auch ich rechne das deiner Geschichte hoch an. Religionsschelte, so gut sie auch gemeint sei, ist in meinen Augen nämlich immer billig, um nicht zu sagen lächerlich bzw. müßig, weil sie im Grunde nur die Folgen schilt und nicht die wahre Ursache.
Aber bevor ich mich da jetzt auf das dünne Eis eines weltanschaulichen Disputs begebe, bleib ich lieber bei deiner Geschichte. Ja, die ist einfach … schön? Berührend? Nachdenklich machend? Alles gleichzeitig irgendwie, und auf eine gewisse Art auch allgemeingültig (äh … konsenstauglich?), weil es vermutlich kaum Leser gibt, die durch sie nicht an einschlägige Kindheitserlebnisse erinnert werden, an die so eigentümliche Atmosphäre in Kirchen, an diese Kulisse aus Düsternis und Großartigkeit und Weihrauch, an die wie choreografiert klingenden Geräusche während einer Messe, wenn alle aufstanden oder niederknieten, an das Rascheln und Hüsteln, wenn die Gesangsbücher aufgeschlagen wurden, und ja, auch an die ersten Fragen und Zweifel, was es mit all diesem Hokuspokus eigentlich auf sich hätte.
Ja, ist irgendwie schon ein sehr nostalgisches Thema, und mit so was hat man mich alten Hund sowieso immer.

Darüber hinaus ist deine Geschichte, eigentlich brauch ich’s nicht extra sagen, ich sag’s trotzdem, Peeperkorn, gewohnt souverän geschrieben. Auch wenn ich diesmal ein bisschen das stilistisch Außergewöhnliche, das äh … Brillante vermisse, also z.B. so Sätze, die ich gleich fünfmal hintereinander lese, weil sie so irre gut sind.
(Nach wie vor bist du für mich in allererster Linie der Autor, der „Schwarzhorn" geschrieben hat. Und du musst es dir gefallen lassen, dass ich alle deine Texte an diesem messe. Selber schuld, kann ich nur sagen, dass du dir die Latte dermaßen hoch gelegt hast.)

War mir wieder ein großes Vergnügen.

offshore


Halt, doch noch eine Winzigkeit:

Er lachte. Dann nahm er Toms Hand. „Brich ihr nicht das Herz, ja?“ Er musste husten. Toms Mutter kam herein, schloss das Fenster und schob ihn sanft zur Seite.
Nachdem hier dreimal das Personalpronomen für den Vater steht, beziehe ich das vierte erst mal automatisch auch auf den Vater.
Eventuell besser: ... ach was, vergiss es, ist eigentlich nicht so wichtig.

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Friedrichard

Schön, dass du reingeschaut hast.

Da konnt ich mir nicht verkneifen, dem „Schacherseppli“ einen Besuch abzustatten,(wird der allemannische Dialekt eigentlich noch oft gesprochen?

Ja, je nach Region weiss man sofort, wo man ist, wenn man die Leute sprechen hört (v.a. beim Höchstallemannisch, z.B. Wallis und Innerschweiz, u.a. Nidwalden, wo ich herkomme). Ich selber spreche so ein Konglomerat, ähnlich wie du offenbar. Das lässt sich regional nicht mehr zuordnen. Ich könnte aber, wenn es sein müsste, Nidwaldnerdeutsch sprechen.

Wann schreibstu die erste Novelle?
Wann den ersten Roman?

Ich bin dran. Ich leide. Aber ich bin dran.

Von deinen drei Vorschlägen habe ich zwei übernommen, nur zum Konjunktiv konnte ich mich nicht überwinden. Vielen Dank! Und auch ich werde mir mal wieder den Keller vorknöpfen, es ist schon so lange her, dass ich den gelesen habe.

Liebe Chutney

So wie dich der Text, so hat mich deine Rückmeldung berührt. Vielen Dank dafür.

Ja, dieses: er hätte es verstanden. Ich sehe den Punkt, das ist ziemlich Tell. Aber ich wollte hier sichergehen, dass das Verhältnis klar wird, die Fallhöhe, wie Schwups gesagt hat, klar definiert wird. Denn davon hängt anschliessend viel ab. Ich denke aber noch mal darüber nach. Merci für die Anregung.

Hallo svg

Dein Kommentar hat mich sehr gefreut. Zunächst: Ich habe ganz wenig nachgeschärft, habe die Mutter noch eine Schneeballschlacht mitmachen und dabei fröhlich sein lassen, bevor der Vater krank wurde. Dies auch im Hinblick auf Tintenfischs Einwand, das Ende komme etwas plötzlich. Damit verlagert sich Ernsthaftigkeit der Mutter etwas vom Charakter auf die Situation und damit ist ihre Reaktion besser vorbereitet, sie wird jetzt eher wachgerüttelt, als dass sie einen charakterlichen Wandel erfährt. Das war mal so eine erste Nachbesserung. Ich überlege aber auch, ob ich noch eine, zwei weitere Szenen einfügen will, die die Mutter etwas deutlicher zeigen.

Und dann vielen lieben Dank für das Lob. Wegen des Neids musste ich schmunzeln, denn gerade bei deiner letzten Geschichte habe ich mir gedacht, verdammt, so einen (unzuverlässigen) Erzählton kriegst du niemals hin, was für eine Begabung! Und das Gleiche gilt für den Humor in deiner neuen Geschichte.

Lieber Gruss an euch
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Peeperkorn,

ich steig mal gleich mit dem Text ein.

In Zweierreihe auf dem Kirchplatz, die Knaben vorne beim Eingang, dahinter die Mädchen. So hatte es sich eingespielt, das gehörte genauso zum Ritual wie das Kyrie oder die Bereitung der Gaben. Aber Tom kam spät, es hatten sich alle schon gruppiert, und Clivia, die übriggeblieben war, streckte ihm die schlaffe Hand entgegen, den Blick von ihm weg und auf die Friedhofshecken gerichtet.
Anscheinend hat bisher keiner Probleme mit diesem Absatz. Ich schon.
Ich kann mir diese Zweierreihe nicht vorstellen. Vor dem Eingang stehen die Jungs in einer Reihe, also in die Breite, und schauen Richtung Eingang. Die Mädchen dahinter, auch in der Breite, und schauen auch zum Eingang.
Wie können sich dann Jungen und Mädchen die Hände geben? Also die sollen dann gemischt, immer ein Junge hält ein Mädchen an der Hand, in die Kirche hineingehen, oder? Da müssten die Jungs ja die Hände nach hinten strecken und die Mädchen ihre nach vorne. Wahrscheinlich hast du das anders vor Augen, aber ich lese das nicht heraus.
Vor ihnen tuschelten Rita und Marlène, so leise, dass Tom nichts verstehen konnte,
Natürlich kann man Namen schreiben wie man will, aber Marlene mit accent grave habe ich noch nie gesehen.


Novemberkälte kroch ihm die Beine hoch. Er hüpfte auf und ab – was Clivia dazu brachte, den Händedruck zu verstärken – und musterte die zwei Gesichter aus Sandstein, die über dem Torbogen aus der Wand lugten.
lugen ist schon sehr schweizerisch angehaucht, vielleicht ginge auch spähen, glotzen, starren, also das aktive Sehen - oder meinst du, dass sie zu sehen waren, im Sinne von hervorragen?
Das seien apotropäische Wesen, hatte seine Mutter einmal erklärt.
das (Fremd)-Wort ist mir hier etwas zu dick aufgetragen, mir würde die nachfolgende Erklärung reichen.

Der Sigrist drehte sich um und hob beide Arme.
Mit so Kirchendingens bin ich durch meine Kindheit gut bewandert, aber Sigrist habe ich noch nie gehört.

(Auch dieses Wort hatte ihm die Mutter beigebracht.)
braucht es wirklich die Klammern?
Er schloss die Augen. Sein Vater hätte gelacht, ganz bestimmt. Hätte sich an den Kopf gefasst und Mannomann! gerufen. Jesus, komm runter. Das ist ja mal eine Ansage. Das mit dem Arsch hingegen hätte er nicht gut gefunden. Sowas wäre ihm zu weit gegangen. Aber er hätte es verstanden.
Sehr schön und bedeutend.
Sein Vater jedoch setzte eine ernste Miene auf, sah sie an, zuckte mit den Schultern und flüsterte, der Junge werde offenbar mal Priester. Worauf er den Arm um Toms Schulter legte und ihm mit warmer Hand über die Wange strich.
Herrlich.

„Also ja“. Er lachte. Dann nahm er Toms Hand. „Brich ihr nicht das Herz, ja?“ Er musste husten. Toms Mutter kam herein, schloss das Fenster und schob ihn sanft zur Seite.
„Vater braucht Ruhe“, sagte sie.
Das ist so hart, dass die Mutter Tom aus dem Zimmer schickt. Sicher für beide.

„Die sind ständig betrunken. Habe ich gehört.“
Da zwei Sätze draus zu machen fände ich nur sinnvoll, wenn nach dem ersten Satz eine Reaktion von Tom gekommen wäre, aber so würde ich das nur durch ein Komma trennen.

Er war der einzige, der normal geblieben war. Der ihm in die Augen sah, wenn sie sich begegneten. Der genauso von Fürzen sprach und über Mädchen lästerte wie die Wochen zuvor. Jonas brauchte ihn nicht mit leiser Stimme zu fragen, wie es ihm ging, denn sein Vater war ebenfalls gestorben.
Das ist ein sehr gut eingesetzter Nebenschauplatz. Die Leute, die nicht wissen, wie sie mit Trauernden umgehen sollen.
Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie so taten, als wären sie nicht miteinander verwandt. Dass er sie Frau Gander nannte. Das sei professionelles Verhalten, hatte sie gesagt

Jemand hat in einem Kommentar gefragt, ob denn das überhaupt geht, dass ein Kind von seinen Eltern unterrichtet wird. Das war tatsächlich bei uns im Dorf in der Grundschule so, dass die Lehrerin einen Sohn im Unterricht hatte. Witzigerweise nannte er sie dann beim Vornamen, also nicht Mama. Aber gedutzt haben die sich schon, das wäre ja schon sehr skurill gewesen, wenn er sie Siezen hätte müssen.

Als sie aber das Zimmer betraten und Frau Gander sahen, verstummten sie. Sie setzten sich, Tom und Jonas ganz zuhinterst,
zuhinderst scheint mir auch sehr umgangssprachlich, evtl. ganz nach hinten?

„Vor dieser Figur habe ich jeden Tag gekniet, zwei Jahre lang. Habt ihr das gewusst?“
Einige schüttelten den Kopf, die anderen starrten auf ihre Pulte, als müssten sie ein schlechtes Gewissen haben. Tom sah seiner Mutter in die Augen. Sie war nicht zornig, das wusste er. Ihr Gesicht sah aus, als wäre sie krank, die Wangen ohne Farbe, die Nasenspitze rot. Die Mundwinkel zuckten. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn ihr die Tränen gekommen wären, obwohl er sie noch nie hatte weinen sehen.
„Ich habe gebetet, dass mein Mann wieder gesund wird“, sagte sie. Einige drehten den Kopf und Tom rückte seine Brille zurecht. Der Regen war stärker geworden, Tropfen schlugen gegen das Fenster. „Und als wir sahen, dass Gott es anders wollte, habe ich um Trost gebeten. Jeden Tag. So ist das.“
Wie Schwups hat mir diese Offenbarung der Mutter auch nicht so gefallen. Besonders die Frage: Habt ihr das gewusst? finde ich unpassend. Zumindest würde ich es etwas einkürzen. Der erste Satz würde mir dann reichen. Aber sie tritt das auch noch so aus.

brachte dem Vater Bücher aus der Bibliothek – ein Buch zu kaufen macht irgendwie keinen Sinn mehr, nicht?
Das verstehe ich nicht. Die Bücher können dann doch auch andere lesen, wenn sie im Haus bleiben.

„Es ist eine Prüfung für uns alle“, hatte die Mutter einmal gesagt, als sie Tom aus dem Schlafzimmer kommen sah. „Auch für dich.“ Sie strich ihm übers Haar. Tom fragte sich, was geschehen würde, wenn er durchfiele, und was er können musste, um zu bestehen. Er traute sich nicht, sie zu fragen.
So können sich in Kinderköpfen große Mißverständnisse breitmachen.

„Dein Vater ist jetzt im Himmel“, sagte sie.
Eine Weile dachte Tom nach, dann sagte er: „Ich bin kein Kind mehr.“
„Doch“, sagte sie. „Das bist du.“
Ein toller Dialog.
Einerseits wehrt er sich dagegen, dass die Mutter ihn mit dem Ammenmärchen vom Himmel abspeist und andererseits könnte man es auch als Kind Gottes interpretieren. Das ist ein gläubiger Mensch ja auch noch mit 90.

Tom nahm das Buch, seine Hände zitterten. „Dann schlaf doch!“, schrie er und warf das Buch auf die Kommode, wo es über die Oberfläche rutschte und zu Boden fiel.
Da kommt die ganze Hilflosigkeit raus.


„Du musst es annehmen“, sagte sie leise. „Gott will es so.“ Sie sahen wieder auf den Bildschirm. Drei Ameisen schleppten einen toten Artgenossen mit sich, bis sie ihn irgendwo liegen ließen.
Das Bild der scheinbar gleichgültigen Ameisen passt wunderbar hierher.
„Er soll sagen, weshalb er das wollte. Dass Vater stirbt“,

„Nun gut.“ Gasser räusperte sich wieder. „Was machen wir mit dir?“, fragte er.

Ist das traurig, dass keiner der Erwachsenen auf diesen Hilferuf eingeht.


Wieso verstehen die Erwachsenen die Kinder so oft nicht? Da trauert einer so derartig um seinen Vater und auch die endlose Beterei der Mutter vor diesem Kreuz hat nicht geholfen. Die Gartenarbeit hilft da auch nicht weiter.
Der arme Tom.

Ich wünschte mir, die Mutter wäre mit Tom in die Klasse und hätte den Kameraden gesagt, dass Toms Aktion alles andere als toll war, aber das man es verstehen kann, dass man eine Scheißwut auf den da oben bekommen kann, wenn der Vater stirbt.
Aber nein, sie nimmt es ja gottgegeben hin und Tom wird sein Leben lang der Kreuzbeschmierer bleiben.

Peeperkorn, du hast es einfach drauf. Mannohmann. Trotz der Einwände (bei mir geht es ja nie ohne :D) ist das wiederum eine Geschichte, die mich sehr berührt und auch traurig gemacht hat. Chapeau.

Liebe Grüße
bernadette

 

Hallo Peeperkorn,
ich hatte wirklich Tränen in den Augen, als ich deine Geschichte gelesen habe, sie hat mich sehr berührt. Es gibt eigentlich nichts daran auszusetzen - außer den Anfang.Tatsächlich hätte ich fast nach dem ersten Satz aufgehört, weil diese Beschreibung mit den Zweierreihen mich verwirrt hat. Ich habe es dreimal gelesen und konnte mir immer noch nicht vorstellen, wie die Kinder dort stehen, wo der Eingang ist und wie das mit der Anordnung der Jungs und Mädchen ist. Erst dachte ich, die Jungs und Mädchen stehen getrennt, dann nimmt Tom aber die Hand von einem Mädchen.
Der Anfang könnte meiner Meinung nach stark gekürzt werden, eigentlich braucht man diese Beschreibungen ja nicht unbedingt.
Ansonsten kann ich nur sagen: das ist eine der besten Geschichten, die ich hier im Forum gelesen habe. Ein kleiner Junge, den der Tod des Vaters einfach völlig hilflos zurücklässt. Und die Erwachsenen, die eigentlich genauso hilflos sind und ihm daher nicht helfen können. Das Ende finde ich sehr schön. Ich habe das so verstanden, dass die Mutter den Schmerz ihres Sohnes jetzt sehen kann.
Grüße
Steffi

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom