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- 18.06.2015
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Komm runter
In Zweierreihe auf dem Kirchplatz, die Knaben vorne beim Eingang, dahinter die Mädchen. Sie warteten, bis sich die Seitentür öffnete, die den Fünft- und Sechstklässlern zugewiesen war. Novemberkälte kroch Tom die Beine hoch. Er musterte die zwei Gesichter aus Sandstein, die über dem Torbogen aus der Wand glotzten. Die sähen furchterregend aus, weil sie dazu da seien, Dämonen abzuschrecken, hatte seine Mutter einmal erklärt. Tom fand sie bloß hässlich, mit abstehenden Ohren und offenem Mund. Dem einen hatte man die Nase abgeschlagen.
Die Tür wurde geöffnet, die ersten Schüler gingen hinein und auf einmal hörte Tom Gelächter aus der Kirche. Draußen Gemurmel. Einzelne lösten sich von ihren Partnern und drängten nach vorne, um zu sehen, was los war. Andere drehten sich um und sagten, vielleicht habe wieder einer gekotzt. Frau Barmettler rief zur Ordnung, doch die Reihe zerfiel. Es formte sich eine Traube aus neugierigen Schülern, die den Eingang blockierte. Eine Weile ging gar nichts. Dann aber schlüpfte einer nach dem anderen hinein. Am Ende stand Tom zusammen mit vierzig Schülern und einer Lehrerin, der es die Sprache verschlagen hatte, in der Kirche. Sie blickten auf ein Christuskreuz, das in einer Seitenkapelle stand.
Die Skulptur war aus Holz und rund zwei Meter groß. Die Hände des Herrn überdimensioniert, die Arme verdreht. Der Brustkorb wirkte nicht sehr gut gearbeitet, die Rippen kaum angedeutet. Ein unscheinbares Kunstwerk, gewiss hatten viele der Schüler die Figur noch nie bewusst wahrgenommen. Doch jetzt starrten alle darauf, denn Jesus war mit Farbe beschmiert und auf der Vorderseite des Sockels, einer Fläche von der Größe eines Kinoplakats, war Komm runter, du Arsch in roten Buchstaben zu lesen.
Frau Barmettler drehte sich um, als wollte sie um Hilfe rufen. Und tatsächlich eilte ein Kirchendiener herbei, nahm ein Tuch, das auf einem Seitenaltar gelegen hatte, hängte es über den Sockel und beschwerte es mit einem Kerzenständer. Man konnte das sch noch immer sehen. Der Küster drehte sich um und hob beide Arme.
„Setzt euch hin“, presste er hervor. Frau Barmettler zuckte zusammen und schob zwei Jungen, die in ihrer unmittelbaren Nähe standen und noch immer kicherten, in Richtung Mittelschiff, während der Küster nach hinten ging und die Hauptpforte öffnete. Die Erst- bis Viertklässler strömten herein und wenig später erklang die Orgel, um den Schulgottesdienst zu eröffnen.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Tom saß in der Bank, hatte die Hände im Schoss gefaltet, murmelte Worte, die ihm so vertraut waren, dass sie nichts mehr bedeuteten. Das Entsetzen in Frau Barmettlers Gesicht. Die hektischen Gesten des Kirchendieners. Tom ahnte, was in ihren Köpfen abging. Verbrechen. Schande. Oder: Blasphemie, wie seine Mutter sagen würde. Er schloss die Augen. Sein Vater hätte gelacht, ganz bestimmt. Hätte sich an den Kopf gefasst und Mannomann! gerufen. Jesus, komm runter. Das ist ja mal eine Ansage. Das mit dem Arsch hingegen hätte er nicht gut gefunden. Sowas wäre ihm zu weit gegangen. Aber er hätte es verstanden.
Einmal, da war er vier oder fünf, hatte Tom während der Messe plötzlich zu plappern begonnen, die Worte des Pfarrers mit langgedehnten Lauten nachgesprochen. Toms Mutter legte ihm die Hand auf den Mund und schüttelte den Kopf. Sein Vater jedoch setzte eine ernste Miene auf, sah sie an, zuckte mit den Schultern und flüsterte, der Junge werde offenbar mal Priester. Worauf er den Arm um Toms Schulter legte und ihm mit warmer Hand über die Wange strich.
Tom drehte den Kopf, er hatte das Gefühl, der Vater säße jetzt neben ihm. Doch da war nur Jonas, mit abwesendem Blick und klappernden Zähnen. Vorne hob Pfarrer Gasser den Kelch und brach das Brot. Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach.
Jonas stupste Tom an. „Voll krass!“, sagte er leise. „Das mit dem Jesus.“
Tom drehte sich um, Frau Barmettler war nicht zu sehen. „Ja.“
„Wer hat das gemacht?“
„Weiß ich doch nicht.“ Tom griff nach dem Gesangsbuch, das vor ihm lag. Blauer Einband mit aufgedrucktem Kreuz. Jonas sah ihn fragend an und Tom legte das Buch wieder hin. Dann standen sie auf, traten in den Mittelgang und gingen nach vorne, um die Kommunion zu empfangen. Tom war schwindlig, er hatte nicht gefrühstückt, und als er die Oblate auf die Hand gelegt bekam - der Leib Christi - war ihm, als fiele er gleich in Ohnmacht. Er hatte ein Zirpen im Ohr.
Die Grillen nervten, hatte sein Vater gesagt. Ob man die ausschalten könne? Das war im August und da hatte er schon über zwanzig Kilo abgenommen. Die Haut voller Flecken. Der Atem roch schlecht.
„Wie ist die neue Lehrerin?“, fragte er.
„Frau Barmettler? Sie ist nett.“
„Nett. Aha. Ist sie hübsch?“
„Ähm.“
„Also ja“. Er lachte. Dann nahm er Toms Hand. „Brich ihr nicht das Herz, ja?“ Er musste husten. Toms Mutter kam herein, schloss das Fenster und schob ihn sanft zur Seite.
„Vater braucht Ruhe“, sagte sie.
Gasser sprach den Segen und sie verließen die Kirche. Frau Barmettler hatte sich vor die Seitenkapelle gestellt, wie eine Verkehrspolizistin. Hinter ihr Jesus, mit roten Klecksen auf der Brust.
„Das waren bestimmt Dotta und Döbe“, sagte Jonas, als sie den Weg hinunter zum Schulhaus gingen. Es nieselte und Tom zog sich die Kapuze über den Kopf.
„Kann sein.“
„Die sind ständig betrunken, habe ich gehört.“
„Aha.“ Tom bedauerte, dass er nichts weiter dazu sagte. Jonas war sein Freund. Er war der einzige, der normal geblieben war. Der ihm in die Augen sah, wenn sie sich begegneten. Der genauso von Fürzen sprach und über Mädchen lästerte wie die Wochen zuvor. Jonas brauchte ihn nicht mit leiser Stimme zu fragen, wie es ihm ging, denn sein Vater war ebenfalls gestorben. Nicht langsam, sondern bei einem Unfall. Aber darauf kam es nicht an.
„Bin gespannt, was deine Mutter dazu meint“, sagte Jonas und beschleunigte die Schritte. Tom hielt mit, sein Atem ging schnell, die Luft brannte in der Lunge.
Dieses Jahr hatten sie nach der Messe Religionsunterricht, eine zufällige Laune des Stundenplaners und im Ergebnis eine geballte Ladung Gott, wie Jonas sich ausdrückte. Und dieses Jahr war Toms Mutter die Lehrerin. Katechetin mit Diplom. Sie unterrichtete nur zwei Klassen, aber gerade seine war betroffen. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass sie so taten, als wären sie nicht miteinander verwandt. Dass er sie Frau Gander nannte. Das sei professionelles Verhalten, hatte sie gesagt.
Die anderen aus Toms Klasse schien nicht zu kümmern, was mit der Christusfigur geschehen war. Während sie ihre Jacken an die Garderobe hängten, sprachen die Jungs über Luzerns vier zu null gegen Basel. Die Mädchen trällerten ein Lied. Als sie aber das Zimmer betraten und Frau Gander sahen, verstummten sie. Sie setzten sich, Tom und Jonas ganz nach hinten, so wie immer. Toms Mutter trat vor das Pult. „Frau Barmettler hat es mir erzählt. Was man getan hat. Was jemand getan hat“, sagte sie und verschränkte die Arme. Die Schüler starrten auf ihre Pulte, als müssten sie ein schlechtes Gewissen haben. Tom sah seiner Mutter in die Augen. Sie war nicht zornig, das wusste er. Ihr Gesicht sah aus, als wäre sie krank, die Wangen ohne Farbe, die Nasenspitze rot. Die Mundwinkel zuckten. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn ihr die Tränen gekommen wären, obwohl er sie noch nie hatte weinen sehen.
„Vor dieser Figur habe ich jeden Tag gekniet, die letzten zwei Jahre.“
Einige drehten den Kopf und Tom rückte seine Brille zurecht. Der Regen war stärker geworden, Tropfen schlugen gegen das Fenster.
Es stimmte. Zwei Jahre. Immer wenn Tom von der Schule kam, nahm sie den Rosenkranz, der auf dem Schlafzimmertisch lag, zog die schönen Schuhe an und sagte, sie gehe zur Kirche. Tom machte Hausaufgaben. Ab und zu schaute er nach seinem Vater, der meistens schlief. Um halb sieben war sie zurück, schob eine Fertigpizza in den Ofen und ging ins Schlafzimmer, wo sie sich für eine halbe Stunde hinsetzte und Blumenmotive auf Kissenüberzüge stickte. Später kam Herr Durrer, der Arzt. Am Anfang einmal die Woche, am Ende fast jeden Tag. Der nette Mann mit Morphium, wie Toms Vater sagte.
Toms Mutter übernahm die Pflege. Er werde zuhause sterben, hatte sie gesagt, nachdem Durrer erklärt hatte, dass ihr Mann den Krebs nicht besiegen werde. Das gebiete die Nächstenliebe und sie alle wollten es so. Tom stand daneben, mit Tränen in den Augen, und nickte. Am selben Abend rief er den Präsidenten des Schachklubs an, wo er zweimal die Woche spielte, und sagte, er komme nicht mehr ins Training. Er erledigte Einkäufe, brachte dem Vater Bücher aus der Bibliothek – ein Buch zu kaufen macht irgendwie keinen Sinn mehr, nicht? – las ihm daraus vor, reichte Säfte und Äpfel, am Ende nur noch Wasser, tat dieses, tat jenes, weil man nichts tun konnte.
Wie stark sein Vater gewesen war! Er hatte ihn den ganzen Weg vom Buochserhorn hinunter ins Dorf getragen, als sie wandern waren und Tom sich den Knöchel verstaucht hatte. Keine Sache, hatte er gesagt und zu singen begonnen, vom Schacherseppli, dem Vaganten. An Weihnachten gingen sie zum See, während Toms Mutter den Baum schmückte, und ließen Steine über die Oberfläche hüpfen. Von ihm hatte Tom gelernt, in welchem Winkel er werfen musste. Bald war wieder Advent.
„Es ist eine Prüfung für uns alle“, hatte die Mutter einmal gesagt, als sie Tom aus dem Schlafzimmer kommen sah. „Auch für dich.“ Sie strich ihm übers Haar. Tom fragte sich, was geschehen würde, wenn er durchfiele, und was er können musste, um zu bestehen. Er traute sich nicht, sie zu fragen. Er hatte gelernt, so zu tun, als verstünde er alles, was sie sagte, als wäre er mit allem einverstanden. Sie sprachen nicht viel. Abends saßen sie vor dem Fernseher, den Ton leise gestellt, damit sie hören konnten, wenn Toms Vater etwas brauchte.
Am Tag nach seinem Tod gingen sie ins Dorf, zur Gemeindeverwaltung. Es war warm, der Sommer hatte noch nicht aufgegeben.
„Dein Vater ist jetzt im Himmel“, sagte sie.
Eine Weile dachte Tom nach, dann sagte er: „Ich bin kein Kind mehr.“
„Doch“, sagte sie. „Das bist du.“
Sie stand noch immer vor dem Pult, ließ den Blick über die Klasse schweifen.
„Entschuldigt bitte“, sagte sie. Sie ging zurück an ihren Platz, setzte sich hin, nahm einige Blätter in die Hand und blickte auf. Nun begann der Unterricht, dachte Tom. Aber sie sagte: „Wie kann man nur so etwas tun?“
Die Woche bevor der Vater starb, hatte ihm Tom ein zweites Kissen unter den Nacken gelegt, ein Glas Wasser gereicht – zwei kleine Schlucke – und ihm ein Buch in die Hand drücken wollen. Sein Vater konnte es nicht festhalten und es fiel auf die Decke.
„Geht nicht“, sagte er.
„Versuch es nochmal.“
„Ich bin zu müde. Ich muss schlafen.“
Tom nahm das Buch, seine Hände zitterten. „Dann schlaf doch!“, schrie er und warf das Buch auf die Kommode, wo es über die Oberfläche rutschte und zu Boden fiel.
„Tom“, sagte der Vater.
Er konnte nicht antworten. Er hatte das Gefühl zu ersticken, als wäre etwas im Hals, presste die Kiefer aufeinander. Tränen traten in seine Augen. Er hob das Buch auf und rannte aus dem Zimmer. Später schämte er sich so sehr, ihn angeschrien zu haben, dass er erst am nächsten Tag wieder zu ihm ging. Der Vater lächelte, als er ihn hereinkommen sah, was Tom erleichterte. Noch lieber hätte er gehabt, wenn er mit ihm geschimpft hätte, wenn er aufgestanden wäre und ihm gesagt hätte, so dürfe man nicht mit seinem Vater reden.
„Er wehrt sich gar nicht“, sagte Tom zur Mutter. Sie saßen auf dem Sofa und sahen sich eine Tierdokumentation an. Ameisen krabbelten einen Baum hoch. Tom hatte vergessen, weshalb sie das taten, obwohl es der Sprecher gerade eben erklärt hatte.
„Das ist nicht fair, Tom. Er kämpft jeden Tag.“
„Stimmt gar nicht!“
Sie legte den Zeigefinger auf den Mund und blickte in Richtung Schlafzimmer. „Du musst es annehmen“, sagte sie leise. „Gott will es so.“ Sie sahen wieder auf den Bildschirm. Drei Ameisen schleppten einen toten Artgenossen mit sich, bis sie ihn irgendwo liegen ließen.
Toms Mutter schüttelte den Kopf. Sie legte die Blätter hin und starrte aus dem Fenster. Graupel hatte sich in den Regen gemischt. Die Klasse blieb still. Jonas drehte den Kopf zu Tom und hob die Augenbrauen. Es war, als würden sie alle auf etwas warten. Toms Puls wurde schneller. Das Zirpen kehrte zurück.
Früher gingen sie jeden Samstag spazieren, zu dritt, den Fluss entlang. Im Winter lieferten sie sich Schneeballschlachten. Toms Vater gegen ihn und seine Mutter, die ihm Deckung gab. Wie hatte ihr Lachen geklungen? Tom konnte sich nicht erinnern.
Vorgestern hatte sie gesagt, dass sie eine Kerze anzünden und beten gehen wolle. In die Kirche, zur Christusfigur. Um zu danken. Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben.
Tom hob die Hand. „Frau Gander.“
Sie sah ihn überrascht an. „Ja?“
„Ich war's.“
Einige wendeten den Kopf und starrten ihn an. Jonas bewegte sich nicht, Tom konnte ihn atmen hören.
„Alter!“, murmelte sein Freund.
„Was hast du gesagt?“, fragte Toms Mutter.
Tom stand auf. „Ich hab das gemacht. Den scheiß Jesus angemalt.“ Er ging nach vorne zur Tür, die Mutter stellte sich ihm in den Weg.
„Du bleibst hier!“ Sie versuchte ihn zu fassen, aber er duckte sich und glitt unter ihrem Arm durch. Er schlug auf die Türklinke, trat auf die Schwelle und drehte sich um. Seine Mutter hatte nicht nachgesetzt, sie stand bloß da, mit schlaffen Armen. Tom drosch mit der Faust gegen den Türrahmen.
„Scheiß auf Gott!“
Der Raum war klein. Holztäfelungen an der Wand. In der Mitte ein quadratischer Tisch, an dem sie saßen. Es war nach sechs, Pfarrer Gasser hatte zuvor keine Zeit gehabt. Er trug eine schwarze Soutane, das Haar nach hinten gekämmt. Die Hände gefaltet, als wollte er beten, saß er Tom gegenüber. Tom fiel auf, wie platt seine Nase war.
„Wie alt bist du?“, fragte Gasser.
„Zwölf.“
„Im Januar“, sagte Toms Mutter. Sie saß links von ihm, ihr gegenüber rutschte Frau Barmettler auf dem Stuhl hin und her. Tom wusste nicht, wen er ansehen sollte und blickte auf das Bild, das hinter Pfarrer Gasser an der Wand hing. Die Mutter Gottes mit dem Christuskind im Arm. Das Gemälde war rund, Marias Kleid leuchtete in kräftigem Blau.
„Aha“, sagte Gasser. „So. Dann erzähl uns, weshalb du das getan hast.“
„Woher hattest du überhaupt die Farbe?“, fragte Frau Barmettler. Der Pfarrer verzog das Gesicht. Aber dann wiederholte er ihre Frage.
„Aus unserer Garage“, sagte Tom.
„Die Kirche war offen?“, fragte Gasser.
„Ja.“
„Gestern Abend?“
Tom nickte.
„Und dann bist du hinein?“
„Ja.“
Die Luft im Raum war trocken und Toms Hals schmerzte. Auf einmal stand seine Mutter auf.
„Sag mir, warum!“, sagte sie. Frau Barmettler erschrak und wich zurück. Tom senkte den Kopf, überlegte, was er antworten sollte. Er zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht“, sagte er.
„Du weißt es nicht.“ Gasser bedeutete der Mutter, sich wieder hinzusetzen. Frau Barmettler nestelte an ihrer Bluse herum, sie hatte eine Brosche angesteckt, die zu schwer für den dünnen Stoff war. Gasser faltete erneut die Hände. Tom wurde übel, er wollte aufstehen und aufs Klo rennen. Warum konnten sie ihn nicht einfach bestrafen?
„Geht es dir gut, mein Junge?“, fragte Gasser. Tom nickte und der Pfarrer räusperte sich.
„Du hast geschrieben, Jesus solle herunterkommen“, sagte er.
„Ja.“
„Findest du das lustig?“, fragte Toms Mutter, aber der Pfarrer hob die Hand. Er rieb sich die Nase, als müsste er nachdenken.
„Gut. Angenommen, er kommt wirklich herunter“, sagte er. Frau Barmettler runzelte die Stirn. Das Bild hinter Gassers Schulter wurde unscharf, Tom sah bloß noch blaue Farbe. Er hatte den Geruch von Weihrauch in der Nase. „Was würdest du tun?“, fragte der Pfarrer.
„Er ist so ein braver Junge!“, rief Frau Barmettler dazwischen. „Ich hätte nie gedacht, dass er …“
„Hat er aber“, sagte Toms Mutter.
Gasser ließ sich nicht beirren. „Also, Tom. Was würdest du tun?“ Er sah Tom an.
„Er soll sagen, weshalb er das wollte. Dass Vater stirbt“, sagte Tom und es gelang ihm, die Tränen zurückzuhalten. Gasser lehnte sich zurück und blickte zu Toms Mutter. Sekunden vergingen. Tom kniff die Augen zusammen, Maria gewann wieder an Kontur. Frau Barmettler beugte sich zu ihm und bewegte lautlos die Lippen, während seine Mutter den Kopf in die Hände legte. Ihr Atem ging schwer. Toms Gesicht war heiß, die Füße fühlten sich an, als steckten sie in Eiswasser.
„Nun gut.“ Gasser räusperte sich wieder. „Was machen wir mit dir?“, fragte er.
„Er hat noch nie etwas Schlimmes getan“, sagte Toms Mutter, den Kopf noch immer zwischen den Händen vergraben. Tom setzte sich gerade hin.
„Das weiß ich.“ Gasser dachte nach. „Selber putzen kann er die Schweinerei nicht. Das ist zu heikel.“
„Ja“, sagte Toms Mutter. Sie hob den Kopf.
„Das wird teuer.“
„Ja.“
„Vielleicht kann er etwas helfen? Gartenarbeit?“, fragte Frau Barmettler.
„Womöglich“, sagte der Pfarrer. „Das ist eine Idee. Wir werden das abklären.“
Es hatte aufgehört zu regnen. Neben dem Pfarrhaus ragte der Kirchturm in die Höhe, dahinter konnte Tom den Mond sehen, verdeckt durch Wolken, schwach schimmernd.
„Gehen wir zum Grab“, sagte seine Mutter.
Es war nur ein kurzer Weg, aber Tom schien es ewig zu dauern. Die Mutter schwieg. Er sah zu ihr hoch. Sie öffneten das Tor und gingen hinein, dorthin, wo sein Vater begraben war. Neben dem Kreuz standen Kränze mit Schleifen in Rot und Gelb. Sie nahm einen Tannzweig, der in einer Steinschale lag, und sprenkelte Weihwasser auf das Immergrün. Als sie Tom den Tannzweig überreichte, berührten sich ihre Hände. Sie sah ihn an und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.