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Ich bin der Käferkönig

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22.10.2011
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Ich bin der Käferkönig

Erst war es nur die Zeichnung auf der Sprühflasche, die mir auffiel: Ein gigantischer, roter Totenkopf fraß ein Käferchen. Ich fand das ungerecht.
Und meine Mutter natürlich, die war eine Schau, wenn sie nach der Flasche griff. Sie verwandelte sich in eine Walze, ja, eine echt gefährliche Mutterwalze, die quer durch das Haus stampfte und Käfer vergaste. Sie merkte nicht einmal, dass ich hinter ihr herschlich. Die ersten Male interessierte mich nur das Gezappel der Käfer, weil sie so lustig mit den Beinchen winkten. Einmal wollte ich sie zu einer Strampelkette binden und die meiner Schwester umhängen. Aber genau da, als ich einen der Käfer hochhob, entdeckte ich seine Augen.
In einem Buch habe ich gelesen, ein Käferauge sehe aus wie Glasbausteine. Das ist Quatsch. Ganz tief drin, man muss nur genau schauen, da ist so ein Punkt. Wie ein winziger Schacht, der immer enger wird, und ins Innere des Käfers führt. Dieser Punkt ist das Käferauge.
Mich erinnerte der Punkt an die Augen von Fred, meinem Bruder. Da mochte ich es nicht mehr, wenn die Käfer auf dem Boden zappelten, bis sie starben.

„Theo!“ Ich drehte mich um. Die Stimme meiner Mutter klang, als hätte ich ihr was Glibbriges in den Kaffee geschüttet. „Lass die Küchenschaben liegen. Das ist widerwärtig.“
„Ich tu sie nur raus, Mama.“ Ich hielt den Käfer hoch und lachte. Ganz laut und prustend, als kitzelte einen jemand wie wild. Halt einfach Freds Lachen. Zum Glück klappte es, Mama haute ab und übersah die Schachtel hinter meinem Rücken. Meinen Käferkrankenwagen. Wenn sie den entdeckt hätte, ohje, das Gekeife wäre endlos, was ich für ein Kind bin, von wem ich sowas hätte, von ihr jedenfalls nicht.
Beim Hinausgehen hörte ich noch: „Und sag nicht immer Mama zu mir, Katharina sollst du sagen. Ist das denn so schwer zu merken?“
Ja, das war es, aber das wiederum konnte Mama sich nicht merken.
Der Käfer in meiner Hand zappelte. Falls Käfer ihre Mütter kennen, dachte ich, dürfen sie bestimmt Mama sagen. Ich ließ die Tür ein bisschen zu fest zufallen und tat, als liefe ich in den Garten. Kurz vor der Haustür huschte ich zweimal nach links, drehte mich um die eigene Achse und murmelte den Findespruch: „Links, links, rundherum.“ Zwei spitze i, zwei runde u. Klare, gute Wörter. Immer, wenn ich das genau so machte, fand ich Freds Zimmer. Diesen Raum verpestete Mama nie. Früher, vor den Käfern, war sie jeden Tag hier gewesen, doch jetzt hatte sie ihn vergessen.
Kein Wunder in einem Haus, das ständig seine Wände verschob. Vor einem Jahr, kurz nachdem Fred gestorben war, hatte ich mir deswegen oft in die Hose gemacht, denn jedes Mal, wenn ich zum Klo wollte, erhob sich vor mir eine neue Mauer. Meine Schwester behauptete, ich würde lügen, und nannte mich Pisshorst. Sogar in der Schule. Aber es war wirklich so. Wie in dem Labyrinth auf dem Jahrmarkt von Mehrendorf, wo ich mit meiner Klasse war. Da mussten mich die Besitzer rausholen, weil ich als einziges Kind nicht hinausfand. Meine Lehrerin schämte sich, weil ich so blöd bin, aber ich kann nichts dafür. Ich kann super Kopfrechnen, aber gegen Wände habe ich keine Chance. Und in die Schule geh ich seit zwei Monaten sowieso nicht mehr.

Das Bett in Freds Zimmer war immer noch bezogen mit Eintrachtbettwäsche. Am Bettgalgen hing Kumpel, das Stoffskelett. So hatte Fred es getauft. Eigentlich sah alles aus wie früher.
Ich setzte mich auf den Boden, breitete ein Tuch über meine Beine und setzte den Käfer darauf. Er sah platt aus, irgendwie gequetscht. Dann öffnete ich die Schachtel. Ich legte die zuckenden Käfer nebeneinander, fuhr mit einem feuchten Taschentuch über die Panzer und entfernte jedes Stäubchen. Das mochten sie. Einmal hatte ich dafür Zeugs aus einer Flasche von meiner Mutter geklaut, Davidoff stand darauf. Eigentlich wollte ich, dass die Käfer meiner Mutter ein bisschen verzeihen, aber den Davidoffkram mochten sie gar nicht.
Die Käfer torkelten über meine Beine, erst langsam, dann wurden sie emsiger und schneller, huschten in dunkle Ecken und verschwanden schließlich unter einer Fußleiste. Nur der flache Käfer blieb liegen.
Manchmal, wenn ich sitzen blieb, als wäre ich tot, kehrten sie zurück. Sie tasteten sich auf meine Beine, wurden mutiger und tanzten hoch zu meinem Gesicht, kitzelten und ziepten; manchmal tat es sogar weh. Aber das machte mir nichts.
Ich holte ein Wurstpäckchen aus der Hosentasche und eine Puppenflasche Bier und verteilte alles in zwei Schälchen. Wenn die Schaben Hunger bekamen, konnten sie essen und Bier beruhigt nach einer Aufregung, das sagte mein Vater auch immer, wenn er nach der Arbeit nach Hause kam. Vielleicht wollten sie auch ein wenig an ihrem toten Schabenbruder naschen.
Dann lehnte ich mich zurück und dachte an die Augen der Käfer - und an Fred. Die Erwachsenen sagen, ich wäre bei ihm gewesen, als er starb, aber so genau weiß ich das nicht mehr. Nur noch, dass ich meine Mutter rief, weil der Fred komisch aussah. Sie führte einen Affentanz auf, dann kam der Krankenwagen. Aber es nützte nichts mehr. Ich hätte ihnen das gleich sagen können, denn in den Augen von Fred lag Schmerz. Schon lang. Ich weiß nicht, was der Fred hatte und warum jeden Tag Pfleger kamen, irgendwas haben sie mir erklärt, aber schlechte Wörter merke ich mir nicht. Und das, was der Fred hatte, war ein sehr schlechtes Wort.
Ich nahm Kumpel auf meine Knie. „L“ sagte ich, „Leuk“, ich drückte Kumpel ganz fest, doch das verfluchte Wort wollte einfach nicht weg von mir. Irgendwann lag auf meinem Schoß eine klumpige Stoffhülle, eklige, gelbe Flocken bedeckten mein Shirt. Ich sprang auf und drosch das Wort gegen die Wände. Mindestens zweimal für jeden Buchstaben, egal, wie weh das tat, und noch einmal dazu. Für Kumpel. So fest ich konnte. Die Schläge klangen satt, dunkel. Nur an der Wand, unter der die Schaben verschwunden waren, mischte sich ein Ping in den Ton, ganz fein, aber ich hörte es. Ping. Ich riss an der Tapete, schabte und kratzte, zum Vorschein kam Holz. Ich holte einen Hammer und eine Lampe, schlug ein Loch und spähte hinein. Vor mir lag ein Hohlraum voller lichttanzender Flusen und huschender Schatten. Und voller Rohre. Bestimmt führten sie durch das Haus, verbanden die Räume, vielleicht die ganze Stadt. Ich erweiterte die Öffnung und schlüpfte vorsichtig an ein paar scharfen Zacken vorbei in das Innere. Ich legte meinen Kopf an eines der Rohre. Gut fühlte sich das an, ganz warm, tausend trippelnde Beinchen knisterten hinter dem Metall. Waren das die Käfer, die ich vor meiner Mutter gerettet hatte? Ich blieb still und lauschte. Und dann erzählten die Käfer. Von damals. Und von Fred.

Später klaute ich eine Decke und befestigte sie vor meiner Haushöhle. „Du bist mein Versteck“, sagte ich. „Nein, du bist unser Versteck. Meins und das von Fred.“

*

Im Garten stand meine Mutter, sie unterhielt sich mit meiner Tante. Ich mochte die Tante, sie trug immer bunte, weite Röcke, in die man sein Gesicht vergraben konnte.
Ich ging zu den beiden hin, um ein wenig Unterhaltung zu haben. Außerdem hatte ich den Namen Fred gehört. Ich zupfte meine Tante am Rock und sagte: „Der ist doch hin, der Fred. Schon lang.“ Die Lippen meiner Tante schürzten sich zu einem erschrockenen, kleinen Zelt, sie fasste nach dem Arm meiner Mutter. Die schloss die Augen, öffnete sie wieder, schlug mir ins Gesicht und rannte weg.
Ich musste lachen, weil mein Kopf so wackelte.
Die Tante fasste nach meiner Hand, setzte sich aufs Gras und zog mich zu sich herunter. Einfach so. „Komm mal“, sagte sie. Ich schmiegte mich mit dem Rücken an ihren warmen Bauch.
„So kannst du das nicht sagen, Theo. Man sagt, er ist tot.“
„Aber ich mag das Wort nicht. Außerdem sagt die Mama auch immer, der ist hin, wenn ein Käfer stirbt, und dann lacht sie sogar, dabei mag ich die Käfer.“
Hinter mir kollerte es wie von einem Vogel, ich drehte mich um, aber es war nur die Tante.
„Glaubst du, ich bin schuld an Freds Tod?“
„Natürlich nicht, wie kommst du denn auf sowas?“
„Die Mama denkt das. Seit der Fred hin ist … “,
„Tot.“
„Jedenfalls guckt sie mich gar nicht mehr lieb an.“
„Das stimmt nicht. Die Mama hat dich sehr lieb. Du erinnerst sie nur an Fred. Und das macht sie traurig. Schuld warst du an gar nichts. Du warst einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Und jetzt kann die Mama das nicht vergessen. Irgendwann wird das wieder.“
„Aber wenn ich zur falschen Zeit am falschen Ort war, dann war ich doch richtig.“
„Kindskopf.“
Sie strich mir über die Haare, mit der anderen Hand zupfte sie am Saum ihres Rocks. „Theo“ sagte sie und noch einmal „Theo“, dann schwieg sie kurz, und setzte erneut an. Wie Erwachsene das tun, wenn sie unbedingt was wissen wollen. Sie pumpen dann; wie meine Käfer. Während die Tante also pumpte, zählte ich die Fleckchen auf ihrem Arm. Als ich bei dreiundzwanzig war, schaffte sie es.
„Warum hast du eigentlich deine Lehrerin gehauen? Du mochtest sie doch.“
„Ja.“
„Warum dann? Du warst doch toll in der Schule. Haben die Kinder dich geärgert?“
„Das ist ein Geheimnis.“
„Oh. Ein Geheimnis. Das kann man natürlich nicht verraten.“
„Nein.“
„Kann man das auch kleinen Katzen nicht verraten?“
„Kleinen Katzen?“
„Ja. Ich hab eine dabei. Die hört gern Geheimnisse. Und sie kann nichts weitererzählen.“

Auf dem Rücksitz stand ein Korb mit einem rotweißkarierten Tuch. Wie ein Picknickkorb, nur steckte darin statt fiesem Krümel-Ei ein Kätzchen. Gerade, als es mich anschaute, fiel ein Lichtstrahl auf sein braun gepunktetes Fell. Es hatte keinen Schwanz, nur einen Stumpf.
„Was hat die Katze gemacht?“
„Sie hatte einen Unfall. Und jetzt hat sie kein Zuhause mehr.“
„Arme Katze, komm her.“ Ich nahm sie auf den Arm, kitzelte sie mit den Fingern unter dem Köpfchen und schnalzte mit der Zunge. Wenn man das ganz zart macht, als wollte man Kekse am Gaumen ankleben, werden die Tiere ruhig. Ich streichelte die Katze, bis ihre Haare knisterten, ihr Köpfchen vor und zurückruckte und sie sich an meine Finger schmiegte.
„Magst du ihr erzählen, wie das in der Schule war?“
„Das ist aber nur für die Katze.“
„Klar.“
„Ich hab keinen Bock auf Müllrechnen.“
„Müllrechnen?“ Die Stimme klang nach Tante, die einen auf Katze machte. Aber egal.
„Ja, Müllrechnen ist scheiße. 94 geteilt durch drei ist 31. Bleibt eins Rest. Reste sind scheiße.“
„Wieso denn?“
„Die werden weggeschüttet.“
„Aber …“
„Wir zum Beispiel sind mit dir fünf, seit der Fred weg ist. Fünf geteilt durch zwei bleibt eins Rest. Das bin ich.“
Meine Tante schwieg. Ich glaube, sie verstand, dass man da nicht mehr in die Schule gehen konnte, auch wenn man vorher das Kopfrechnenkind war.
„Hmm“, die Tante beugte sich zu mir herunter und zog ihre Nase kraus. „Ich glaube“, sagte sie, „deine Lehrerin hat was vergessen. Das Müllrechnen, das heißt eigentlich Division. Und die wichtigste Division ist immer die durch sich selbst. Mach mal.“
„Du meinst bei uns? Fünf durch fünf?“
„Ja.“
„Das gibt eins.“
„Ganz genau. Das gibt immer eins, egal, welche Zahl du nimmst. Eins ist die allerwichtigste Zahl von allen. Eins heißt nämlich eine Portion Glück. Und du bist eine besonders süße Portion Glück.“
Der Katze gefiel das, so sehr schmiegte sie sich an meine Brust.

Über Mutters Augen klaffte eine tiefe, waagrechte Falte. Sie sah mich nicht an, sondern sprach nur zu meiner Tante. „Das war also deine gute Idee? Und was sollen wir jetzt damit?“ Die Katze auf meinem Arm wurde unruhig. Vielleicht wollte sie nicht „Damit“ heißen?
„Lass ihn doch, Liebes. Wenn es nicht klappt, hol ich die Katze wieder. Ich hätte sie sowieso aus dem Tierheim mitgenommen.“
„Aber so ein hässliches Vieh.“
„Mama, sie kann dich doch hören.“ Die Katze miaute und strampelte, hieb ihre Krallen tief in meinen Arm, dass es blutete, sprang auf den Boden und witschte zwischen den Beinen meiner Mutter hindurch.
„Siehst du, da geht es schon los.“ Mutter packte mich an der Hand. „Sie ist viel zu klein, da darf man nicht so zulangen.“
Sie tat, als läge ihr an der Katze, aber ihre Stimme klang scharf, so scharf, als wollte sie damit etwas abschneiden.
„Schon gut Mama, ich kümmere mich um die Katze. Bestimmt.“
Und schon rannte ich der Katze hinterher. Mutter mochte einfach keine hässlichen und kaputten Dinge. Die waren wie Reste. Sogar den Lieblingsbierkrug von meinem Vater hatte sie weggeworfen; bloß wegen ein paar Macken.

Am Nachmittag hatte ich die Katze unter meinem Bett hervorgelockt, sie Rudi getauft, sie gefüttert und mit einem Papierball durch das Haus gelockt. Ganz schön schwer war das, aber irgendwann folgte sie mir überall hin. Sogar in Freds Zimmer.
„Rudi, das darfst du nicht“, sagte ich, als die Katze einen lahmen Käfer quer durch den Raum schleuderte. Lustig sah das aus. Aber ich mochte es trotzdem nicht, denn der Käfer war ja noch krank.
„Nein!“, sagte ich, als die Katze einen Buckel machte. Sie zuckte zusammen. Sanfter fuhr ich fort: „Der Käfer ist doch kein Papierball, der ist dein Bruder. Du musst ihn lieben.“
Ich hob den Käfer auf und setzte ihn neben die Fußleiste, da konnte er sich in das Röhrengewirr retten. Die Katze folgte mir. Sie sah mich an, blickte auf den Boden, und bevor ich reagieren konnte, vergrub sie die Zähne in den reglosen Käfer und schüttelte ihn hin und her.
Ich schnappte die Katze, hielt sie fest, so sehr sie auch kratzte und biss, und hebelte ihr den Käfer aus dem Maul. Endlich ließ sie ihn los, aber ihr Gesicht sah jetzt ein bisschen schief aus. „Das darf man nicht, Rudi“, sagte ich, und fuhr über die blutigen Striemen auf meiner Hand, „das musst du dir merken. Hier wohnen die Käfer.“ Die Katze röchelte, dann wurde sie still. Ich weinte, denn der Käfer würde keinen Mucks mehr tun.

*

Ich hatte mich unter den Tisch im Esszimmer geschlichen. Dort konnte ich bei den anderen sein, ohne dass die mich sahen oder fühlten.
Unter dem Tisch waren die Menschen anders. Manchmal blitzte Haut zwischen den Strümpfen und der Hose. Bei Männern waren Haare dran. Manchmal wollte ich gern in das Hautstückchen beißen und die Haare auf der Zunge spüren.
Wenn Mama das Rasieren vergessen hatte, bedeckte Kükenflaum ihre Beine, das sah hübsch aus.
Die Stimmen der Erwachsenen klangen gedämpft.
„Ich habe die Katze gefunden.“
„Hmmm.“ Das war mein Vater.
„Sie ist tot.“
Ein Zischen, wie wenn jemand scharf einatmete. Ich mochte das nicht, danach geschah immer was Schlimmes.
„Was ist passiert?“
„Theo. Dieses Kind zerstört alles, was es in die Finger kriegt. Er ist krank.“ Ich hörte ein Glucksen, wusste nicht, ob meine Mutter lachte oder weinte.
„Ich habe einen Freak geboren.“
„Freak“, ich dachte das Wort vor mich hin. Es hatte ein i, ein schön langes, rolliges i, trotzdem klang es hässlich.
„Du weißt doch gar nicht, wie das genau war. Und Freds Tod, das muss er auch erst mal verarbeiten.“
„Verarbeiten. Es gruselt mich, wenn ich ihn sehe. Er sieht Fred so ähnlich, er lacht sogar wie er. Und gleichzeitig ist er völlig anders. Alles macht er kaputt mit seinen großen, schweren Händen und seinen Wutanfällen. Wer weiß, was er gemacht hat, als er in Freds Zimmer war.“
„Hör auf. Er ist ein Kind.“
„Ein Kind.“ Sie schnaubte. „Ein Kind, das Katzen das Genick bricht.“
Dann schwiegen sie. Man hörte nichts, noch nicht mal ein Schlürfen oder das Rücken einer Schüssel. Als ob selbst das Essen nachdachte.
„Er muss aus dem Haus. Ich kann ihn nicht mehr ertragen. Oder ich geh. Wenigstens ein paar Tage.“
Mein Vater schwieg. Nach einer schier endlosen Pause sagte er: „Was hast du mit der Katze gemacht?“
„Weggeworfen.“

*

„Was ist ein Freak, Mama?“
Ich fasste meine Mutter an der Hand. Vorsichtig, damit sie sich nicht erschreckte. Sie schüttelte mich ab, dann beugte sie sich zu mir herunter, als wollte sie ihre Reaktion zurücknehmen.
„Was?“
„Ich habe euch gehört, den Papa und dich. Du hast gesagt, ich bin ein Freak.“
Die Augen meiner Mutter irrten zwischen mir und der Wand hin und her. Ein richtiger Augentanz war das, als müsste sie über die Antwort nachdenken, dabei wusste sie bestimmt ganz genau, was ein Freak war.
„Ich will hier bleiben.“ Immer noch irrten die Augen meiner Mutter zwischen mir und dem Bild hin und her. Ich drehte mich um, aber da war nur ein altes, blödes Familienbild.
„Mama, warum willst du mich fort haben?“
„Man überlegt sich mal was unter Erwachsenen. Woher weißt du das überhaupt?“
„Ich kann nicht fort. Wenn ich weg bin, tötest du die Käfer.“
„Mein Gott“, meine Mutter atmet scharf ein, „schon wieder. Das ist Ungeziefer, widerliches Ungeziefer. Du sollst die Viecher nicht anfassen, nicht mit ihnen spielen, gar nichts. Wenn du weg bist, kommt der Kammerjäger, der räuchert sie endlich aus.“
„Warum Mama? Weil sie hässlich sind?“
„Ja, und ungesund.“
„Bin ich auch ungesund?“
„Natürlich nicht.
„Du hast aber gesagt, ich wär krank. Das ist dasselbe wie ungesund.“
„Jetzt hör auf. Dein Vater und ich wollen dir nur helfen.“
„Aber ich will nicht weg.“
„Das sehen wir dann.“
Um uns herum war es ruhig.
„Hast du den Fred auch ausgeräuchert, weil er ungesund war?“ Meine Mama wurde starr. Wieder griff ich nach ihrer Hand. Dieses Mal ließ sie es geschehen. „Mama, du musst sie nur kennen lernen.“
„Was?“
„Komm, sie wissen alles über Fred.“
Ich zog meine Mutter hinter mir her. Zweimal links, einmal rundherum. Ganz leicht ging das. Jemand hatte Stoffbällchen in die Kleider meiner Mutter gesteckt und nun war sie eine Schlenkerpuppe.
Vor der Tür scheute sie zurück, doch dann folgte sie.
„Du weiß doch, dass dieser Raum tabu ist?“
„Aber hier kann man sich an Fred erinnern.“
„Ja. Hier lag er die letzten zwei Jahre.“ Die Stimme meiner Mutter war weich. „Bis dann auf einmal alles vorbei war.“
Sie schaute mich an, Verwunderung lag in ihrem Blick und etwas Komisches, etwas, das ich am liebsten an eine Wand geklopft hätte.
„Hier wohnen jetzt die Käfer“, sagte ich schnell.
„Was redest du? Käfer?“
„Ich zeigs dir Mama, sie sind nicht schlimm, du musst sie nur kennen lernen. Sie wissen alles von Fred.“
Mutter schob mich zur Seite. Dann entdeckte sie den Vorhang. „Was hast du gemacht? Schon wieder so ein Unsinn.“
„Das ist kein Unsinn, das ist ein Versteck. Meines und das von den Käfern. Da drin kann man alles hören, die Geräusche im Haus und das Wasser und Stimmen. Und Fred. Ich muss nur den Käfern sagen, dass sie von ihm erzählen. Das machen sie bestimmt, ich bin nämlich der Käferkönig. Ich kann es ihnen befehlen. Kletter rein, bitte, du wirst merken, wie schön das ist.“
Ich schob sie auf den Vorhang zu, meine Mutter ließ sich von mir nach vorne schieben, sie duckte sich sogar, als sie zu dem Vorhang kam. Ich hob ihn hoch, doch plötzlich, mit einem Ruck, zerrte sie die Decke herunter, dass die Nägel, mit denen sie angebracht war, aus der Wand sprangen.
„Was soll der Mist?“
„Das darf man nicht, es muss dunkel sein.“ Mein Atem tat weh, wie wenn ich ganz schnell renne und mir schwarz vor Augen wird. „Mama, guck doch. Nur einmal!“ Ich stieß sie vorwärts. Wenn sie erst im Versteck war, hörte sie die Käfer, und dann würde alles gut werden. Ich stieß noch einmal. Es knackte. Mama war gegen einen Holzzacken geprallt, dann gegen ein Rohr, noch einmal knackte es, aber ich sah nur ein kleines bisschen Blut.
„Das ist gleich wieder vorbei, Mama, du musst nur singen. Heile, heile Mausespeck, in hundert Jahrn ist alles weg. Dann tut's nicht mehr weh.“
Ich stieß sie vollends hinein in die Höhle. Als ich die Decke wieder anbrachte, regte sie sich und schnaufte, aber dann war sie ruhig. „Mama“, sagte ich, „ich bin froh, dass es dir gefällt. Du musst nur warten. Ekel dich nicht, wenn die Käfer kommen. Du wirst sehen, das kitzelt ganz wunderschön.“

*

Ich saß wieder unter dem Tisch. Die Schuhe meines Vaters waren ungeputzt. Links von ihm flegelten die Flipflops meiner Schwester. Und dann Hosenbeine. Erst verstand ich gar nicht, wer das war, aber dann redeten die Hosenbeine und gehörten meiner Tante. Ihre Stimme klang langsamer als sonst. „Was sagt die Polizei?“
„Sie sagen, sie gehen der Sache nach, zwei Tage ist sie jetzt weg.“
„Vielleicht wollte sie wirklich nur mal raus.“
„Aber sie hat mir nichts hier gelassen, keinen Brief, nichts.“ Die Stimme meines Vaters wurde leise. „Ich habe Angst um sie, sie war so depressiv.“
Depressiv. Zu viele Es. Ich fand, meiner Mutter ging es gut. Vorhin erst hatte ich sie gesehen. Da lag sie in Freds Versteck. Ihr Kopf schmiegte sich an eines der Rohre. Ich schmiegte mich daneben, lauschte und ließ mich trösten durch das Getrippel Tausender kleiner, harter Leiber. An dem Mund meiner Mama saß ein Käfer. Vielleicht schenkte sie ihm ihre Spucke. Oder er erzählte ihr von Fred.

 

Guten Morgen @Novak,

ich habe mich durch die Rubrik "Kurzgeschichten" gestöbert und wollte mir einige "Schwerpunkte" der anderen Mitglieder anschauen, als ich mich, durch Zufall bei deinem Namen verklickt habe und nicht auf deinem Kurzprofil sondern auf dieser Geschichte gelandet bin.

Was soll ich sagen, als bekennender Stephen King Fan und Liebhaber der makaberen düsteren Geschichten, hat mich der Horrortag gleich gefangen, danke an alle Vorkommentatoren, das sie das noch angemerkt haben.

Ich weiß nicht ob ein Kommentar noch Sinn macht, nun ist die Geschichte ja schon fast 2 Jahre unberührt an diesem Ort und unweigerlich Frag ich mich ob die Mutter wohl immer noch bei den Käfern liegt.

Ich habe die Geschichte gelesen, nahe zu verschlungen.
Ich musste zwangsläufig an die Zeit denken, wo auch Green Mile spielt und stellenweise auch Forrest Gump. An die Zeit wo die Mutter mit den Kinder zu Hause ist, in knöchellangen Kleidern und Schürze das Essen zu bereitet, während der Mann auf der Arbeit ist und die Kinder in kurzen Lederhosen draußen spielen, bis sie zum Abendessen rein gerufen wurden. Ohen Frage Film geschädigt, denke ich an den amerikanischen Traum der 30er Jahre wo der Mann später noch auf der Veranda sitzt und ein Bier trinkt, während die Frau die Kinder ins Bett bringt und die Küche aufräumt.
und irgendwo in dem Ganzen Trubel verliert die Mutter die Nerven, als ihr ältester Sohn an Leukämie stirb, während sein kleiner Bruder daneben sitzt und vielleicht nicht rechtzeitig Bescheid gesagt hat, also gibt die Mutter ihm die Schuld und dann sieht er auch noch genauso aus wie sein Bruder. Unverschämtheit seinem Bruder einfach ähnlich zu sehen, wie kann er es nur wagen.
Dieser kleine Theo (übrigens sehr geiler Name :-)) der es eigentlich nur gut meint und nur ganz aus Versehen, die Katze und später seine Mutter umbringt.

Oh man ich überschlage mich gerade mit Sachen die du ja eigentlich kennst, du hast sie immerhin geschrieben, aber von Anfang bis Ende, mit jedem Wort, hast du mich einfach gefangen.

Die Art und Weise wie du die kleinen "Missgeschicke" von Theo einfließen lässt. Wie er so beiläufig zum Mörder wird ist einfach großartig :-)

Danke für diese tolle Geschichte :-)

Späte aber begeisterte Grüße
Shey :-)

 

Oh @Shey, ich habe mich wahnsinnig gefreut, als ich deinen Kommentar las. Der Käferkönig ist die vorletzte Geschichte, die ich geschrieben habe, danach kam nur noch eine. Und das war es dann. Keine Ahnung, warum die Fantasiemaschine nicht mehr anspringt. Aber egal, man kann es nicht ändern. Und vielleicht ist die Einfallslosigkeit nur ein anderer Name für neue Interessen. Trotzdem ist es wunderschön, wenn man merkt, dass man mal eine Geschichte geschrieben hat, die doch so einigen gefiel. Insofern erübrigt sich für mich deine Überlegung, ob ein Kommentar noch Sinn macht.

Ich weiß nicht ob ein Kommentar noch Sinn macht, nun ist die Geschichte ja schon fast 2 Jahre unberührt an diesem Ort und unweigerlich Frag ich mich ob die Mutter wohl immer noch bei den Käfern liegt.
Die Freude des Lesers ist eine ungemein motivierende Angelegenheit für einen Autor. Und zu deiner letzten Frage muss ich wohl zugeben, ich fürchte, die Dame liegt immer noch an derselben Stelle, Vater und Tochter sind inzwischen ausgezogen in ein anderes Haus. Sie haben den Sohn, inzwischen fast erwachsen natürlich mitgenommen. Aber es zieht ihn weiterhin zu seinen Käfern. Und er muss ja jetzt noch viel mehr beschützen. Was mag das wohl für die armen neuen Mieter heißen?

Was soll ich sagen, als bekennender Stephen King Fan und Liebhaber der makaberen düsteren Geschichten, hat mich der Horrortag gleich gefangen, danke an alle Vorkommentatoren, das sie das noch angemerkt haben.
Ist wohl so, dass man mir meine Vorliebe für den alten Meister anmerkt.

Die Art und Weise wie du die kleinen "Missgeschicke" von Theo einfließen lässt. Wie er so beiläufig zum Mörder wird ist einfach großartig :-)
Shey, es freut mich sehr, dass es dir gefallen hat.

Vielen Dank für deinen ungemein freundlichen und motivierenden Kommentar. Ich komm gern mal zu einem Gegenbesuch zu dir zum Lesen.

Viele Grüße von Novak

 

Hallo, lieber @Manlio,
sorry, sorry sorry, ich hab so lange nicht mehr reingeschaut, mir ist dein Kommentar leider entgangen.

Ich dachte jedoch, weil du schon einige Texte von mir kommentiert hast, wäre ich jetzt auch mal an der Reihe.
Nix da, das musst du nicht. Ich sehe das mit dem Geben und Nehmen bei Leuten wie dir, die schon lange da sind, viel geschrieben und viel kommentiert haben, also ihre Stetigkeit und Zuverlässigkeit mehr als bewiesen haben, sehr gelassen. Fühl dich also bitte nicht verpflichtet, wenn ich mal wieder einen Text von dir kommentieren sollte. Und natürlich hab ich mich aber auch unbändig gefreut. Es ist ein komisches und gleichzeitig hocherfreuliches Gefühl, wenn man Feedback zu einem Text erhält, der so lange zurückliegt.

Wodurch der Text, finde ich, heraussticht, das ist die Einfühlsamkeit, mit der du dich Theo näherst. Man ist ganz nah dran an ihm, fühlt mit und das wirklich eine seltene Qualität hier im Forum, wie stark du sein Seelenleben ausleuchtest.
Wow, das tut gut, das zu hören. Ich hab von meiner Art zu schreiben nie viel gehalten, war immer auf das Feedback anderer angewiesen, weil ich nicht wirklich in der Lage war zu beurteilen, ob ein Text nun gelungen ist oder nicht. Vielleicht ist das mit ein Grund, weshalb ich das Schreiben mittlerweile gelassen habe. Wie auch immer, es tut gut zu hören, dass dir die Einfühlsamkeit aufgefallen ist. Ich hab mich eigentlich in allen Texten gemüht, recht dicht an die Personen ranzukommen. Manchmal klappt das, manchmal nicht.
Ein klitzekleiner Wermutstropfen ist, dass Gewalt der einzige Ausweg zu sein scheint, dass hier alles auf eine Lösung mit körperlicher Brutalität zuzusteuern scheint, und zwar ziemlich alternativlos. Aggression ist, da stimme ich zu, ein Katalysator für Frustration, innere Qualen, insofern ist die Lösung valide, aber es geht ein bisschen zu einfach, da scheint mir Theos Charakter etwas zu "vorbestimmt", den Weg der Gewalt zu gehen, wenn du verstehst, was ich meine. Die Mutter, der Vater machen es ihm mit ihrem Desinteresse leider auch leicht, nur hätte ich mir irgendwo einen Moment des Innehaltens gewünscht, der weitere Seiten von Theo aufschließt, die ihn nicht zur Gewalt treiben lassen, sondern Alternativen aufzeigen ...
Ich kann dir das nicht beantworten. Es stimmt schon, was du sagst. Viele meiner Texte laufen auf einen Weg der Gewalt raus. Oder spielen zumindest damit. Es interessiert mich einfach. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Es ist vielleicht gerade diese Vorherbestimmtheit, die mich da fasziniert. Letztendlich kann ich nur sagen, dass mich eben dieser und nur dieser Weg interessiert hatte und aus meiner Sicht so geschreiben werden musste. Vielleicht eine Persönlichkeitsfrage? Oder ein Interesse daran, wie jemand böse wird oder in Schuld gerät?

Meine Schwester behauptete
Warum benutzt er hier nicht den Namen?
Hmm, kann ich dir jetzt gar nicht sagen. Müsste es noch mal lesen. Die Antwort jedoch, die mir spontan in den Sinn kommt, ist, dass er keinen sehr persönlichen Bezug zu seiner Schwester hat.

das sagte mein Vater auch immer
hier auch, evtl. "das sagte Papa auch immer"

Ich gucke mal nach, wo die Stelle ist und schau sie mir nochmal an, genau wie die Stelle mit der Schwester und die Stelle mi den huschenden Schatten. Meine Mutmaßung ist aber auch hier, also beim Vater, dass er keinen sehr persönlichen Bezug zu ihm hat.

Ganz liebe Grüße an dich zurück, ein dickes Dankeschön und meine besten Wünsche für dein weiteres Schreiben.
Novak

 

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