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Blaues Leuchten
„Du kannst es nicht, du kannst es nicht.“
Lachend liefen die Kinder davon und ließen die Kleine zurück. Sie starrte auf die Hüpfkästchen. So groß waren sie. Kästchenriesen! Wenigstens die ersten paar musste sie schaffen, sonst ließen die Kinder sie nie mitspielen. Entschlossen warf sie die Zöpfe zurück, stellte sich knapp vor den ersten Strich und sprang. Geschafft! Der nächste. Und noch einer. Edith sah zum vierten Kästchen. Je länger sie darauf starrte, desto weiter weg war es. Ihr Bein wog schwer, immer schwerer. Schnell jetzt. Edith holte mit den Armen aus, sprang, für einen Moment schwankte sie in der Luft, als könnte ihr Körper sich nicht entscheiden, wo er landen sollte. Und gerade, als sie glaubte, jetzt klappte es, da mogelte sich der Strich doch unter ihren Schuh. Sie stampfte auf: „Böser Fuß!“ Von weitem hörte man Kinder lachen. Hatten sie das etwa beobachtet? „Blöde dicke Bowkes, ich wollte ja sowieso nicht mit euch spielen“, schniefte sie, dann nahm sie die Schürze vor das Gesicht und verbarg ihre Enttäuschung in dem mürben Stoff.
Hinter dem Zaun des nächsten Hauses schrien Gänse und rannten flügelschlagend auf die Straße, ein weißes Geschwader mit Schnäbeln wie hartes Holz. Ängstlich sah das Mädchen sich um, Willumeits Gänse waren gefürchtet in ganz Brösen. Ihr Herz hämmerte. Wo sollte sie hin? Gerade, als sie davonlaufen wollte, hörte sie eine Jungenstimme hinter sich. „Haut ab oder ich zieh euch den Holzschlorren über, ihr weißen Deiwel!“ Das Kreischen der Gänse verebbte. Als sie sich umwandte, watschelten sie zurück in den Hof. Vor ihr stand ein Junge, den sie noch nie gesehen hatte. Er war schmal. Arme und Beine schlotterten an ihm, als gehörten sie zu einem viel größeren Menschen. Irgendwie sah er falsch zusammengesetzt aus. Selbst der blonde Haarwust stand in einem verkehrten Winkel vom Kopf ab. Der Junge blickte auf sie herunter, als wollte er prüfen, wen er da vor sich hatte. Dann lächelte er. Mit einem so schiefen Mund, dass sie laut lachen musste.
„Bist du der schiefe Junge?“, sagte sie.
„Na hör mal, Marjellchen, grad pflück ich dir die Gänse von deinen dicken, kleinen Waden, jetzt wirst du mucksch.“ Während er das sagte, lächelte er weiter. Sogar die Nase krauste sich zu einem drolligen Fächer. „Wie alt bist du?“
„Ich bin schon fünf.“
„Und wie heißt du?“
„Edith.“
„So, Edith, ich bin der Georg, jetzt zeig ich dir mal, wie man hüpft, damit deine Freunde dich nicht mehr auslachen können. Nimm meine Hand und mach einfach mit. Und sprich mir alles nach.“ Er spreizte sein linkes Bein ab wie ein Storch, wartete, bis sie beide ruhig standen, dann hüpfte er los, zog sie mit, und sang im Rhythmus der Sprünge dazu:
Schwarz weiß rot
Der kleine Mann ist tot
Wir wollen ihn begraben
In einem Puppenwagen
Ihr Beinchen hüpfte und balancierte, fing sich und hüpfte weiter, die Zunge klemmte zwischen den Lippen, gleich hatte sie es geschafft. Schon waren sie im Himmelbogen, drehten und sprangen zurück, ein Kästchen, schwarz weiß rot, und noch ein Kästchen, der kleine Mann ist tot. Und da waren sie. Ohne Fehler.
„Ich kann es“, schrie Edith, „ich kann Kästchen hüpfen.“ Und der Junge mit dem schiefen Mund und dem schiefen Körper lachte sein schiefes Lächeln.
„Wohnst du hier?“, fragte Edith.
„Jetzt ja, früher wohnten wir in Kleschkau.“ Georg zupfte an seiner Oberlippe, ein Hautstreifchen löste sich und schwebte zu Boden. Das musste doch weh tun, dachte Edith.
„Du bist lieb, schiefer Junge, aber warum hilfst du mir? Mein Cousin macht das nie und der ist schon groß. So wie du.“
Das Lächeln des Jungen wurde gerade und so glatt, dass Edith sich das schiefe zurückwünschte. „Vielleicht, weil du mich an meine kleine Schwester erinnerst?“
„Wo ist die“, Edith hüpfte aufgeregt auf und ab. „Vielleicht kann ich mit ihr spielen?“
„Das wird nicht gehen“, sagte der Junge leise.
„Warum nicht, ich kann doch jetzt Hüpfkästchen.“
„Es geht wirklich nicht. Sie ist fort.“
„Fort? Ganz allein?“
„Sie ist nicht allein. Sie ist jetzt im Himmel. Die See hat sie geholt."
„Oh“, Edith runzelte die Stirn. „Das glaub ich dir nicht. Da hat dir einer Märchen erzählt. Das tut die nicht, die Ostsee, die ist nicht bös, die hat sogar Osterlämmchen. Die wohnen da. Komm, ich zeig sie dir. Man muss aber früh aufstehen. Genau am Ostersonntag, da kann man sie sehen.“
*
Es war noch dunkel. Aus dem Stall drang warmer, süßer Heugeruch, Kühe brummelten, träumten von einer saftigen Sommerwiese. Edith schlich über den Sandweg, ihr Blick kletterte das Rosenspalier hinauf zu dem Fenster der Mutter. Es war geschlossen. Gut, dachte Edith, ihre Mutter durfte nicht wissen, dass sie dem Jungen die Osterlämmchen zeigen wollte. Es war verboten, allein an die See zu gehen. Aber für Edith war es das Schönste. Wenn noch niemand da war, wenn selbst der Wind noch schlief, konnte man am besten sehen, wie die Sonne rotgoldenes Gefunkel auf das Wasser streute und den Sand versilberte. Zu Staub zerfallene Muscheln, die immer noch glänzen. Und wenn die See darüber hinwegbrandete, nach ihren Füßen leckte und wieder zurückwich, haftete Schaum darauf, der nach Tang roch und nach Salz.
Als sie von der Promenade auf den Strand bog, sah sie schon die Silhouette des Jungen.
„Schiefer Junge“, rief sie, „wir müssen uns beeilen.“ Energisch packte sie seine Hand und zog ihn zum Wasser. Sie stapfte durch den Sand, sank ein bis zu den Knöcheln, ein kühler Strumpf, der zwischen den Zehen rieb.
Dann blickten sie hinaus auf das Meer, bis die Weite sie einsaugte. Dünne Striche vor einem Land voller Wälder und Seen. Das Meer schimmerte grau. Doch der Himmel war schon in rosafarbenes Licht getaucht, Wolken türmten sich zu Bergen, hinter denen man fremde Länder ahnte. Violette Schlieren schoben sich davor, vereinten sich zu immer breiteren, rotglänzenden Flüssen und wurden orange.
„Wer hat dir das erzählt mit den Osterlämmchen?“, fragte Georg.
„Mein Vater. Aber er kann sie mir nicht mehr zeigen. Er ist in Amerika, Geld verdienen, und jetzt kann er nicht mehr zurück.“
Als er ihren Blick sah, sagte er: „Du hast wohl heut dein Sonntagskleid angezogen?“ Er zupfte an ihrem Puffärmelchen und lachte. „Nein, ich glaube, das ist eher ein Himmelskleid für ein Ostermädchen.“ Er deutete auf die blauen Blumen, die sich von dem orangen Stoff abhoben. Als er ihre schmutzigen Füße sah, lachte er noch mehr. „Himmel, Stall und Erde, passend zum Land“, sagte er. „Aber es ist noch kalt, du wirst Schnupfen kriegen.“
„Das ist mein Osterkleid“, sagte Edith stolz und fuhr mit dem Finger die Blüten nach. Blassblaue Vergissmeinnicht, zwischen denen die Tupfen kräftiger Veilchen leuchteten. „An Ostern muss man sein bestes Kleid anziehen für die Osterlämmchen, aber die Schuhe muss ich sparen.“ Vor Verlegenheit blies sie ihren Pony in die Höhe, dass er wie ein waagrechtes kleines Dach von ihrem Kopf abstand. Und dann war es soweit. „Schau! Da sind sie“, schrie sie und deutete hinaus. Als die Sonne sich zur Hälfte aus dem Wasser erhoben hatte, schickte sie ihre Strahlen wie suchende Finger über das Meer, und dort, wo sie die Oberfläche betasteten, brachen sie das Wasser und sprengten silbrige Lichter auf die Wellen. Wie kleine hüpfende Körper, die mutwillig miteinander spielten und rangen und hin und her sprangen, junge Schafe auf einer Weide.
„Siehst du die Osterlämmchen?“
„Ja“, sagte der Junge, „ich sehe sie.“
*
Und dann war Sommer. So schnell war er gekommen mit seinen Sommergästen und den Kornblumen, die das Gold des Roggens sprenkelten, viel zu schnell für ihre Mutter und für die anderen Erwachsenen, die arbeiteten und doch nie genug Geld hatten, um die Hände still zu halten. Die See wurde ruhig und tobte nicht mehr. Und am Abend, wenn man nur weit genug am Wasser entlang lief, bis die Lichter Brösens nur noch Punkte waren, dann glaubte man, das Atmen der Tiere zu hören, so leise berührten die Wellen den Strand.
Und viel zu schnell auch war der Sommer für Georg gekommen. Edith sah ihn nur selten, denn er spielte mit den großen Jungen. Doch manchmal, wenn er aus einem Fußballspiel aufblickte, wenn er sich vielleicht gerade um einen Gegner herumgespielt hatte, sah sie sein schiefes Grinsen, wie es für einen Moment auf ihr ruhte. Und wenn Hans, einer der anderen Jungen, schrie: „Pass doch auf, tu ihn rein, den Dubbas, was will das Madammche hier schon wieder“, senkte er rasch seinen Blick und trat nach dem Ball.
Doch manchmal traf sie ihn am Strand und dann liefen sie am Ufer entlang, kleine Schwester, großer Bruder, vorbei an der Seebrücke und dem Strandhotel, aus dem Jitterbug-Klänge zu ihnen wehten: My Little Bimbo Down On The Bimbo Isle. Und sie zeigten gleichzeitig mit dem Finger auf den anderen, kreischten Bimbo und sangen das Lied, obwohl sie nichts verstanden.
Und eines Tages zeigte er ihr das Leuchten der Ostsee.
„Hier“, sagte er, und deutete auf den Meeresabschnitt weit hinter dem letzten Strandbad, „hier darfst du nie weit reingehen. Siehst du da draußen, wo die See ganz dunkel wird? Wie es hochdampft? So ein ganz blaues Schillern?“
Edith kniff die Augen zusammen. „Es ist überall blau“, sagte sie.
„Ganz weit, bestimmt einen halben Kilometer weg, siehst du? Da steigt es hoch. Blauer Dunst.“
„Oh“, sagte Edith, „jetzt seh ich es auch, komisch. Das Wasser ist wirklich blauer. Wie ein Edelstein. Und der Nebel darüber ist auch blau. Und er wackelt. Was ist das?“
„Nein, er wackelt nicht, das sind Temperaturunterschiede. Mein Vater sagt, es sind gefährliche Gase. Da darfst du nie hinschwimmen. Versprich mir das. Nie!“
„Aber du auch nicht“, sagte Edith.
„Nein, das ist zu gefährlich. Aber hier am Ufer können wir rein. Wer als erster drin ist!“
Sie kreischten, weil die Kälte in ihre Haut schnitt, bespritzten sich und kreiselten wie flinke Fische. Und als er, einen Schwall Wasser vor sich herschiebend, mit verstellter Stimme brummte: „Siehst du die Osterlämmchen, hier kommen die Osterlämmchen, kleiner Bimbo“, da verschluckte sie sich vor Vergnügen. Dann stieg sie auf seine Schultern. Da oben stand sie, in ihrem dunkelblauen Badeanzug, bereit für ihren ersten Kopfsprung.
Als sie auftauchte, sah sie eine Schar Jungen über den Strand kommen. Die Fußballer. Mit Handtüchern um ihre braun gebrannten Jungenkörper und weiß gebleichten Haaren. Allen voran Hans. „Auf! Wir spielen Johnny Weißmüller. Bis zum blauen Leuchten. Wer als erster wieder hier ist. Nu los, Georg!“
„I wo. Mein Vater verbietet es. Da geht nuscht. Ich bin auch schon lang nich mehr so viel geschwommen.“
„Ei Georg, warst du in Kleschkau auch schon son Vaterkind? Was soll mir das?“
„Ne, nich, aber …“, er sah verstohlen zu Edith.
„Was die Ältern reden, das is doch schlimmer als Kleckermussupp. Hätt Kolumbus so rumgemaddert, würden wir heut noch im Poggenteich sitzen. Mein Vater hat im Wanderkino gesehen, dass eine Frau nach England geschwommen is. Eine Frau! Und du traust dich nich! Wer‘s gewinnt, kriegt zehn Dittchen. Wer‘s nich macht, is ein feiger Hund.“ Dann drehte Hans sich zur Seite, legte die Arme um die Schultern der beiden neben ihm stehenden Jungen und redete vertraulich auf sie ein.
„Ich weiß nich.“ Georg kratzte sich am Kopf und sah zu der Jungengruppe hin.
Edith stampfte mit dem Fuß, baute sich vor Hans auf, die Fäuste geballt, und trat mit Wucht gegen sein Schienbein.
„Au“, schrie der, „du verdammte Kreet. Was soll das? Du kannst froh sein, dass du noch so klein bist und Georgs Schwester.“
„Ihr dürft da nicht schwimmen.“
„Das ist nich meine Schwester, nur eine …“
„Was jetzt … dein Puppke vielleicht? Was betudderst du die kleine Kreet. Pomuchelskopp. Weißt du, dass die andern dich Rodolfo Valentino nennen? Ich sag ja immer was dagegen, aber …“
Georg senkte den Kopf. „Ich könnt‘ ja den Startschuss geben, statt Heinrich.“
Hans spuckte auf den Boden. „Du bist nich zu retten. Der hat ein offenes Bein, er würd alles drum geben, mitzumachen. Und du flennst. Willst du einen Lutschpungel? Bleib doch hier, lass dich schützen von einem Suckelkind. Du … Rodolfo.“ Er spie den Namen aus, als wäre er Dreck, der seinen Mund verstopfte.
Georg prallte zurück, als hätte Hans einen Stein geworfen und nicht einen Namen. Er sah zu Edith hin, dann wieder zu Hans, der an ihm vorbeiging, und ihn dann zur Seite stieß, so roh, dass Georg aus dem Kreis der Jungen taumelte.
„Feiglinge können abhauen“, sagte Hans ruhig, dann drehte er sich weg, als wäre da keiner mehr.
Georg vermied Ediths Blick. Er sah aus, als wäre etwas Schlimmes mit ihm geschehen, etwas, das Edith nicht verstand. Er hob den Kopf und schrie: „Komm mir nich so. Oder du kriegst gleich eene inne Fress. Ich mach mit, da gibt’s nuscht. Doch wehe, einer kadreiert das meinem Vater.“
„Ei, was glaubst du!“
Edith fing an zu weinen. „Du hast gesagt, da darf man nicht hinschwimmen, du hast gesagt, das ist gefährlich.“
„Nur für kleine Leute.“
„Du lügst. Du hast es versprochen.“
Doch Georg hatte sich abgewandt und sah zum Meer. Nur einmal noch spürte sie seinen Blick.
Dann hob ein Junge den Arm, schaute auf seine Uhr und gab das Kommando: „Auf die Plätze fertig“, bei „Los“ fiel sein Arm. Die Beine von sieben Jungen trommelten auf den feuchten Strand und wurden langsamer, als das Wasser an ihren Körpern hochstieg, dann tauchten sie ein, in die Wellen, dass man nur noch ihre Köpfe sah. Immer kleiner wurden sie, dann war da nur noch Wasser. Weit draußen wirbelten blaue Schlieren zum Himmel, verloren sich in seiner Weite und wirbelten erneut. Der Junge neben Edith schaute immer wieder auf seine Uhr, jedes Mal, nachdem er sie geprüft hatte, barg er sie umständlich in seinem Handtuch. Und endlich, endlich kletterte der erste erschöpfte Junge aus dem Wasser und ließ sich auf den Strand fallen. Edith stand still, wartete weiter und ließ die Zurückkehrenden an sich vorbeiziehen, Einzelne, einmal eine Traube von drei Jungen. Sie starrte weiter auf das Wasser, als könnte sie das blaue Leuchten mit ihren Blicken bezwingen. Dann kam keiner mehr.
Als sie sich umdrehte und die Jungen anschaute, starrte Hans zurück, blickte zu seinen Freunden und hinaus auf das Meer. Er zählte. Zählte noch einmal. „Einer fehlt.“ Und dann schrien alle durcheinander, sprangen ins Wasser und schwammen los, bis ihre Köpfe von den Wellen verschluckt wurden, trotzdem hörte man ihre Rufe bis an den Strand. Sie verstummten erst, als Hans zurückkam und nach Brösen rannte. Ein Junge nach dem anderen kehrte aus dem Wasser zurück. Aufgereiht standen sie neben ihr, starrten hinaus und warteten auf die Erwachsenen.
Um sie herum war plötzlich Geschrei, Leute rannten herum, von Brösen näherten sich Boote, erst vier, dann sechs oder sieben, sie schwirrten hinaus, hin zu dem blauen Leuchten und wieder zurück, kreuzten auf und ab, als wollten sie das Wasser vermessen. Der Strand war voller Menschen. Edith irrte zwischen ihnen herum, zupfte die Männer am Arm und fragte nach Georg. Doch keiner antwortete ihr, sie redeten und befahlen und redeten wieder. Und dann sah Edith eine blonde Frau. Sie wusste, dass das Georgs Mutter war, denn ihr Lächeln hing schief in ihrem Gesicht. Und als ein Polizist mit dem Kopf schüttelte, fing das schiefe Lächeln an zu zucken. Der große Mann neben ihr nahm sie am Arm und ging mit ihr fort. Weg vom Strand, hin zu den Weizenfeldern. Dort, wo das kleine Haus stand mit der Schaukel unter dem Apfelbaum, mitten in einem Garten voller Ringelblumen.
Als es dämmerte, saß sie immer noch am Ufer und schob den Sand zu kleinen Dämmen auf. Rahmte Kästchen bis zum Wasser und während sie häufelte, sang sie ein Lied: schwarz weiß rot, der kleine Mann ist tot und dann sang sie nicht weiter, sondern wiederholte die Verse, bis ein Nachbar kam und sie nachhause brachte.
*
In der Nacht hatte der erste Sturm das Meer aufgewühlt und das, was es verborgen hielt, dem Ufer zurückgegeben.
Als Edith an den Strand kam, wunderte sie sich; im Osten sah sie eine Menschenmenge. Blaue Uniformen, dazwischen die braunen Oberkörper von Jungen. Alle konzentriert auf einen Punkt. Ihr Herz schlug, endlich hatte man ihn gefunden. Das war ein weiter Weg zurück an den Strand. Da würde er müde sein. Bestimmt war er nur müde. Sonst nichts. Erst würde sie ihn schelten und dann lieb drücken.
Sie zwängte sich durch die Menge, vorbei an den Beinen der Männer, ignorierte ihr Geschimpfe, stieß und schob, bis nur noch ein Mann vor stand. Vor ihm sah sie einen Körper auf dem Boden liegen, bedeckt mit einem Laken. Fror er denn, der Georg? Edith kniff den vor ihr stehenden Mann, so dass er zur Seite zuckte und den Weg freigab.
„Gottverdammich, was …“, fluchte er los, doch als er das kleine, blasse Mädchen sah, das vor dem Laken kniete, verstummte er. Vorsichtig hob Edith das Tuch, ganz leicht, doch kaum hatte sie das getan, glitt ein schwarzer, langer Körper unter dem Laken hervor und schlängelte sich fort, Richtung See. Edith stand auf. Sie öffnete den Mund wie zu einem Schrei, doch nichts war zu hören. Der Schrei gellte zurück. In sie hinein, verbrannte sie. Der Mann packte Edith am Arm und sagte: „Ei Marjellchen, das ist nur ein Aal. Der tut dir nichts. Die Seele des Jungen hat die See geholt, den Körper überlässt sie ihren Totengräbern. Die haben nur getan, was in ihrer Natur liegt.“
Edith machte sich von ihm los und ging zum Wasser. Sie sah hinaus, hin zu dem blauen Leuchten, das wie ein dunkler Edelstein schillerte, und sie fürchtete sich vor der See und hasste sie.
*
Die Nächte wurden länger und die Tage kürzer. Und immer hörte man das Rauschen der See. Irgendwann war es eine Melodie, die den Atem der Menschen umspielt und die Seele gebrannter Kinder heilt. Als Edith im folgenden Jahr Georgs Grab besuchte, wuchsen darauf dunkelblaue Blüten, in deren Mitte kleine Sonnen glühten. Und die Luft summte wie von tausend Bienen.
Am nächsten Morgen ging sie an den Strand. Zusammen mit ihrem Vater, der zurückgekehrt war, um mit ihr die Osterlämmchen zu suchen. Da begrüßte sie den Himmel, der goldene Lichter auf die See zauberte. Und sie fragte sich, ob das alles tote Kinder waren und ob sie eines von ihnen erkennen würde. Das Wasser glitzerte, und sie wusste, dass die See tötete, wenn sie wollte. Aber jetzt machte ihr das nichts mehr aus. Denn die See sprach zu ihr und schenkte ihr Gesichter.