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Änderungsprotokoll
3. Runde
- Text zurück auf überarbeitete Urversion.
- Neuen Schlussabsatz hinzugefügt.
- Titel erneut geändert
- Text sehr stark gekürzt
- Stärker auf einen Aspekt fokussiert
- Erzähler wieder geschwächt
- Figur Doni zu "anderer Albaner" reduziert
- Chronologie geändert
- Titel geändert
- Passagen gestrichen
- Passagen ergänzt (Intro u. a.)
- Erzähler gestärkt (mehr Reflexion, mehr Kommentar)
Aasfresser
Bei Frechen führte die Strecke über einen Hügel und die Autobahn sah aus wie ein rot-weißes Leuchtband. Das aufgepeitschte Moderatorenduo im Radio kündigte den nächsten Popsong an, als wollten sie mir meine Müdigkeit unter die Nase reiben. Ich musste gähnen, was Günther sofort amüsiert kommentierte. „Das kennt der Student nicht, wie? Früh raus und schaffen.“
„Doch, schon“, sagte ich, obwohl er vollkommen recht hatte.
Ich vergrub die Hände in den Taschen meines Kapuzenpullis und schloss die Augen.
Als ich sie wieder öffnete, hatte es im Rückspiegel zu dämmern begonnen. In Aachen war es hell. Wir suchten eine ganze Weile nach der Adresse, denn Günther kannte sich nicht aus. Schließlich fanden wir das Haus, es war bereits Viertel nach acht. Doch auch die Albaner waren noch nicht da.
„Na, gut, gehen wir noch einen Kaffee trinken“, entschied Günther mit Blick auf die Bäckerei direkt gegenüber.
“Da sind sie ja!”
Ein taubenblauer Transporter machte auf der anderen Straßenseite Halt. Der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter und hob den Zeigefinger zum Gruß. Günther erwiderte die Geste und bedeutete ihm, auf den Bürgersteig zu fahren. Ich zog mein Portemonnaie heraus. Günther winkte ab. “Lass stecken, Frühstück zahlt der Chef!”
Irgendwie war mir das nicht recht.
“Morgen!”, rief Günther und überquerte mit rollendem Gang die Straße. Er hatte Probleme mit der Hüfte, was angeblich auch der Grund dafür war, dass er nicht mitarbeiten würde. Angesichts seiner Wampe musste er diese Probleme schon länger haben, spöttelte ich für mich selbst.
“Moargön, Güntöar!”, erwiderte der Mann mit breitem Akzent. Er war klein und kompakt gebaut, was man trotz der Bomberjacke direkt sah. Die nach hinten gegelten Haare waren graumeliert, der löchrige Fünftagebart war noch pechschwarz. Alles in allem sah er wie ein Autobschieber. Er gab erst Günther die Hand, dann mir. Ich drückte fest zu. “Hallo, ich bin Henry!”
“Meda, freut misch!”
Ein zweiter Mann kam um die Fahrerkabine getrottet. Er war genauso breitschultrig wie Meda, aber zwei Köpfe größer und kurzgeschoren. Meda stellte ihn vor, doch Günther verstand seinen Namen nicht.
“Wie war das, Toni?
“Doni!”, riefen Meda und der Mann gleichzeitig. “Doni!”
“Doni? Mit D?”
“Ja, genau. Doni! Alle Deutschen denken ja immer Toni. Aber kommt von Liridon.”
“Doni also”, sagte Günther und Doni nickte lächelnd.
“Das ist so eine niedliche Form, verstehst du?”, sagte Meda. “So wie Günni für Güntöar.”
“Oder Toni für Anton”, sagte ich.
Doni schaute mich fragend an und Meda sagte, “Nisch Toni, Doni!”
Ich bereute, mich eingemischt zu haben.
“Ja, hab ich verstanden. Doni! Hat das eine Bedeutung?”
“Freiheit”, sagte Meda und Doni nickte.
Günther wurde unruhig. “Also, wollen wir mal?”
“Natürlisch”, sagte Meda. “Dafür sind wir ja hier!”
Wir gingen zum Eingang des braungrauen Nachkriegsscheusals. Günther drückte eine Klingel und als kein Summer ertönte, zog er einen Schlüsselbund aus der Tasche.
“Eigentlich wollte Herr Jammerzen schon hier sein. Naja, wir gehen mal hoch.”
Er schloss auf und wir schoben uns einer nach dem anderen ins Treppenhaus. Auf dem schwarz-weiß-gesprenkelten Terrazzoboden vor dem Metallbriefkasten lagen Werbeprospekte und das aus dünnen Stangen zusammengesetzte Treppengeländer hatte einen Handlauf aus PVC.
“Hier müsst ihr ein bisschen aufpassen”, sagte Günther, während wir die Treppe hochstiegen. Er deutete auf die Wände, die etwa bis auf Schulterhöhe mit einer schimmernden Farbe grasgrün und darüber beige gestrichen waren.
“Ist gar keine Problem, ist ja breit genug”, sagte Meda.
“Einfach bisschen aufpassen”, wiederholte Günther und ich nahm mir fest vor, daran zu denken. Nur keine Fehler machen beim ersten Mal!
Im zweiten Stock blieben wir stehen. Günther drückte auch hier auf die Klingel und eine unwirklich laute Schelle drang durch die Wohnungstür.
“Sitzt er vielleicht aufm Pott?”
Wieder verhallte das Klingeln unbeantwortet. Günther schloss auf und knipste das Licht an. Es roch nach Schuhputzmittel, Altfrauenparfüm und Frittierfett. Linker Hand, zwischen zwei Türen stand eine Holzgarderobe mit Unterschrank und Spiegel. An den Haken hingen Jacken und Mäntel, auf der Ablage darüber lagen Strickwaren und ein kugelförmiger Hut. Ein ausgestreckter Läufer mit Orientmuster führte weiter in die Wohnung hinein. Es wirke alles so, als würde gleich jemand in den Flur treten und uns in die Stube bitten.
Günther zeigte auf den Boden. “Das Linoleum hier und in der Küche muss auch raus. Sollte aber kein Problem sein, ist nicht verklebt.”
Wir rückten bis in Wohnzimmer vor. Dafür, dass es in einer Etagenwohnung lag, war es groß. An der Wand stand ein ausladendes Stoffsofa mit tiefen Kissen, auf dessen Rückenlehne ein kleiner Klabautermann thronte. Er schaute mit glotzenden Augen auf eine dackelbraune Schrankwand aus Holz.
“Gelsenkirchner Barock”, sagte Günther und zwinkerte mir zu.
“Ja, genau”, sagte Meda und machte prüfend eine der Türen auf.
“Interesse?”
“Danke, Güntöar, aber das will ja keiner mehr haben.”
“Will keiner mehr haben, oder?”
“Ist ja schade, normalerweise ist das eine schöne Regal. Gut gearbeitet!”
“Der ist massiv!”
“Aber kauft ja keiner mehr so was.”
“Also weg!”
“Aber das ist eine schöne Stück. Sechziger Jahre.”
Meda machte einen Schritt auf ein Sideboard zu. “Diese nehme ich, wenn ich darf.”
“Ja, klar, nimm mit!”
Er sagte etwas auf Albanisch zu Doni, dann zu mir, “Diese bitte lassen!”
Ich fragte mich, ob Günther und Meda die Möbel verrechneten oder ob es ein Geschenk war – und ob ich mir auch einfach Sachen zum Mitnehmen aussuchen durfte?
Über einen alten Bauernschrank und eine Kommode im Schlafzimmer wurde dasselbe Urteil gefällt wie über die Schrankwand im Wohnzimmer:
“Weg!”
„Kann man so was nicht wieder aufarbeiten und verkaufen?“, fragte ich.
„Vergiss es!“, sagte Günther nur und es klang, als hätte er diese gute Idee schon hundert Mal zu hören bekommen. Bei einer Holztruhe, die für mich im Grunde genauso altbacken aussah wie der Schrank und die Kommode, entschied sich Meda nach einigem Zögern dafür, sie mitzunehmen.
“Bleibt!”
Ein höhenverstellbares Einzelbettgestell, so teilte uns Günther mit, würde später abgeholt werden.
“Bleibt auch!”
“Und die Matratze?”
“Weg!”
Im Bad wurde alles zum Abschuss freigegeben, bis auf die alte Waschmaschine. Als Meda sie entdeckte, sagte er nur, “Miele!”, woraufhin Doni anerkennend nickte. Es schien sofort klar zu sein:
„Bleibt!”
Anscheinend handelte es sich hier um echte deutsche Wertarbeit für die Ewigkeit, um ein Produkt aus der guten, alten Zeit. Wir gingen weiter in die Küche, von der noch einmal eine kleine Abstellkammer abging.
“Hier kann alles weg”, sagte Günther.
“Gibt es eine Keller?”, fragte Meda, als wir nach unserem Rundgang wieder im Flur standen.
“Ja. Und auf dem Balkon ist auch noch Krempel.”
Es klingelte. Günther öffnete mit einem Ruck die Wohnungstür. “Herr Jammerzen!” “Guten Morgen!” Ein kleiner Mann in Anorak und Jeans schaute in die Runde. Seine dünnen Haare trug er gescheitelt, am Hals hatte er bei der Rasur nicht sauber gearbeitet. “Sind Sie schon fleißig?”
“Wir haben uns gerade ein Bild gemacht, ja”, sagte Günther mit betonter Ruhe. “Aber es ist ja im Grunde alles besprochen. Das Linoleum kommt raus, das Bettgestell wird später abgeholt …”
“Das Bettgestell wird später abgeholt”, wiederholte Herr Jammerzen. “Und hier habe ich noch ein paar Sachen aussortiert für mich.”
Er machte einen Schritt ins Schlafzimmer und zeigte auf den Boden. Meda sagte etwas auf Albanisch und Doni antwortete breit lächelnd, “Bleibt!”
Wir lachten und Herr Jammerzen warf uns einen irritierten Blick zu. “Genau, die Kartons bitte da lassen.”
“Verstanden”, sagte Meda wieder mit ernster Miene und ich nickte auch, damit er sich keine Sorgen um seine Sachen machte. Ich glaube, wir schüchterten ihn ein und er wusste nicht, was er von der Firma halten sollte, die er hier engagiert hatte. Er bestand darauf, Günther und Meda, den er richtigerweise als Vorarbeiter identifiziert hatte, noch einmal den Keller zu zeigen, obwohl ihm Günther versicherte, dass das nicht nötig sei.
“Güntöar deine Vater?”, fragte Doni, als wir alleine im Flur standen. Ich wusste nicht, wie ich ihm die Verhältnisse erklären sollte, also sagte ich nur, “Nein, ein Freund!”
“Ohhh, Freund!”
Ich fühlte mich verpflichtet, nun auch etwas zu fragen.
“Und Meda?”
“Cousin!”
“Aha! Woher in Albanien kommt ihr denn?”
Er zog die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf.
“Woher?”, sagte ich akzentuiert und setzte meinen Zeigefinger auf einen Punkt in der Luft. “In Albanien?”
“Nicht Albanien, Kosovo!”
“Mhm!” Ich war ehrlich überrascht, denn ich kannte mich mit den Verhältnissen auf dem Balkan überhaupt nicht aus. ”Aber Sprache Albanisch?”
“Ja.”
“Verstehe.”
Eigentlich interessierte es mich, mehr zu erfahren. Leider ging das nicht und ich hielt es simpel.
”Und Deutschland gut?”
Er nickte und hob einen Daumen. “Sehr gut!”
“Schön!”
Wir schwiegen und warteten. Einmal kreuzten sich unsere Blicke und wir nickten uns zu. Es war unangenehm und ich ging mich noch einmal umgucken. Mit den Händen in den Taschen schlenderte ich durch die Räume. Einiges erinnerte mich an die Wohnung meiner Oma, etwa das nicht gerade üppig gefüllte Regalfach mit den Büchern, allesamt Hardcover wie Ziegelsteine: Meyers Konversations-Lexikon, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Es muss nicht immer Kaviar sein. Oder der wuchtige Röhrenfernseher über dem silbernen Stereoanlagenwürfel, Grundig und Loewe, zwei Traditionsmarken eingemauert im Zentrum der Schrankwand, linear, statisch und analog. Ich öffnete eine Klappe und fand die Hausbar und eine vielfältige Auswahl an Gläsern, auch das wie bei meiner Oma. Die Laster und Sünden, sie wurden früher noch versteckt, und wenn es nur pro forma war. Ich beugte mich vor und betrachtete die Fotos im Fach darüber. Eines hatte einen starken Gelbstich und zeigte ein mittelaltes Paar, das vor den Pyramiden in Ägypten posierte. Sieh an, sie sind sogar ein wenig rumgekommen! Bestimmt mit einer Reisegruppe, erst im Flieger nach Kairo, dann im Bus weiter, tagsüber wohl dosiertes Lokalkolorit, abends fettes Buffet nach deutscher Art in der neugebauten Hotelanlage, die Aschenbecher überall ausklappbereit. Ich nahm das Porträt eines Mannes im Rentenalter in die Hand. Er saß in Anzug und Krawatte vor einem hellblauen Hintergrund und lächelte akkurat frisiert und ein wenig gezwungen in die Kamera. Über eine der oberen Ecken war ein schwarzes Band geklebt worden. Wie lange sie wohl allein weiterleben musste? Dem Stil nach zu urteilen, lange. Fotos von Kindern oder anderen Personen gab es keine, Herr Jammerzen war wohl nicht der Sohn. Vielleicht ein Neffe?
Ich hörte, dass Günther und Meda zurück waren.
“Na, haste den Schatz gefunden?”, fragte Günther.
“Nee.”
“Bin ich doch schon alles durch.”
“War was dabei?”
“Eine Silberbrosche und eine schöne Damenglashütte. Sieht echt aus, muss aber gemacht werden. Ansonsten nur Mist.”
Beim Antworten wandte er sich von mir ab und Meda zu. Der nickte, als hätte er das erwartet.
“Was ist eigentlich, wenn ich tatsächlich noch was von Wert finde?", fragte ich.
Günther reckte das Kinn und machte eine raffende Handbewegung. “Her damit!”
Er tauschte einen kurzen Blick mit Meda, den ich nicht deuten konnte. Hatte Günther die Brosche und die Uhr einbehalten, obwohl er sie Herrn Jammerzen hätte geben müssen? Oder war es eine Warnung an Meda? Irgendwas in diese Richtung lief hier ab, was mich nichts anging. Ich bohrte nicht nach und Günther verabschiedete sich kurz darauf.
“Wie trennen wir?”, fragte ich Meda, nachdem er mich eingewiesen hatte. Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf. “Nisch trennen!”
“Alles in dieselben Säcke? Glas, Metall, Lebensmittel?”
Ich dachte an den Aufkleber auf der Seite des Transporters – “Fachgerechte Entsorgung” – und musste schmunzeln. Mir gefiel das.
“Chemikalien kommen extra”, sagte Meda.
„Immerhin“, dachte ich und riss einen Sack ab. Aus dem Kleiderschrank schlug mir der leicht modrige Geruch eines Second-Hand-Ladens entgegen. Ich nahm so viele Blusen und Jacken von der Kleiderstange, wie ich greifen konnte, faltete sie über meinem Arm zusammen und stopfte sie mitsamt der Bügel in den Sack. Es waren schlichte, aber hochwertige Stücke. Ganz am Rand hing ein Pelzmantel. Ich hielt ihn eine Weile hoch, dann schlüpfte ich hinein und trat damit zu Meda und Doni ins Zimmer. “So, ich werde jetzt Zuhälter!”
Die beiden lachten und ich freute mich über den Treffer, den ich gelandet hatte.
“Kann man den nicht noch verkaufen?”
Meda warf kopfschüttelnd einen Blick aufs Innenfutter. “Motten! Siehst du hier?”
Er zeigte mir die Löcher. Es tat mir ein wenig leid um den Mantel, der bestimmt einmal der ganze Stolz der Frau gewesen war.
Nach dem Schrank nahm ich mir die Kommode vor. Es war im ersten Moment seltsam, die Unterwäsche der alten Frau in die Hand zu nehmen, aber ich schob das Gefühl zur Seite und räumte die Kommode in zwei Minuten leer. Meda kam in den Raum. “Wie sieht’s aus hier?”
“Säcke sind gepackt. Hast du einen Hammer?”
“Wofür?”
Ich nickte in Richtung des Schranks.
“Brauchst du keine Hammer!”
Er trat mit Wucht gegen die Rückwand, bis sie heraussprang. Anschließend lehnte er sich mit der Schulter gegen die Seitenwand des Schranks und er fiel krachend in sich zusammen.
“Siehst du? Brauchst du keine Hammer!”
Freude füllte meine Brust. Ich durfte eine Wohnungseinrichtung kurz und klein schlagen wie ein besoffener Rockstar und wurde noch dafür bezahlt! Ich zog eine Schublade aus der Kommode und schmetterte sie auf dem Boden. Beim zweiten Mal zersprang sie. Ich machte auch aus den anderen Schubladen Kleinholz, dann griff ich mir ein dickes Brett und drosch damit auf den Korpus ein, bis er zerbarst. Es war ein herrliches Gefühl, dasselbe Gefühl, das ich als Kind gehabt hatte, wenn ich am Ende eines Strandtages die Sandburg zertreten hatte. Etwas aufbauen ist gut, aber es zu zerstören ist besser, denn es führt die Dinge wieder in ihren Urzustand zurück. Ich hörte, dass sie auch im Wohnzimmer mit dem Zusammenhauen der Möbel begannen und ging direkt hinüber. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen.
“Erst alle Bretter einladen?”, fragte ich Meda, als es vorerst nichts mehr zu zerschlagen gab.
“Ja, machen wir Kette, ist besser.”
“Warum schmeißen wir das Zeug nicht einfach aus dem Fenster? Dann müssen wir viel weniger Treppe laufen.”
Meda lachte. “Sollten wir ja eigentlich machen, nä?”
Er sagte etwas zu Doni und der lachte auch. Aber ich hatte keinen Scherz gemacht.
“Vor dem Haus ist doch genug Platz. Muss nur einer aufpassen, dass keiner kommt. Was soll passieren?”
Meda schaute wieder zu Doni, dann zu mir. Er runzelte die Stirn. “Is vielleicht ja gar nischt so eine schlechte Idee.”
Er ging auf den Balkon und beugte sich über die Brüstung. “Is ja wirklisch nur die Einfahrt da unten.”
“Wir müssen nur im ersten Stock und im Erdgeschoß Bescheid sagen. Nicht, dass sich jemand rausbeugt und dann… ”
Ich schlug mir mit der flachen Hand auf den Kopf. Gackernd lachte Meda das erste Mal an diesem Tag richtig. “Das wär ja schlecht, nä?”
Er sah zu Doni und der zuckte mit den Schultern.
“Also gut!”
Doni stellte sich vor das Haus, Meda kletterte in den Transporter, um dort das Holz zu verteilen. Ich ließ die ersten Bretter fallen. Sie trafen mit einem lauten Knall auf und ich befürchtete, dass gleich ein besorgter Nachbar gucken käme. Ich holte die Matratze und schmiss sie als Dämpfer in die Einfahrt. Jetzt ging es fast geräuschlos und ich war stolz auf meinen Einfallsreichtum. Das beeindruckt sicher auch die Albaner, hoffte ich. Auf einem der letzten Bretter, es war eine der Rückwände von der Wohnzimmerwand, war noch das Preisschild: “7950,–”. Fast achttausend Mark! Einmal halb so teuer wie ein Auto und heute noch in tadellosem Zustand, war dieses perfekt gearbeitete Möbel am Ende nicht mehr wert als das billigste Sperrholzschränkchen.
Das ganze Holz war nun unten und ich sah mich nach anderen Gegenständen um, die ich werfen konnte. Das Bettzeug war noch bezogen und ich wandte den Kopf ab, um nicht daran riechen zu müssen, als ich es zur Brüstung trug. Im Fallen spannte sich die Decke auf und segelte ins Gras neben der Einfahrt. Ein älterer Herr, der mit seinem Hund vorbeispaziert kam, blieb stehen und betrachtete die Szenerie kopfschüttelnd. Plötzlich war es mir peinlich, dass ich die persönlichen Sachen einer Toten so achtlos vors Haus schmiss.
“Das war’s. Mehr hab ich nicht”, rief ich Doni zu und kreuzte dabei mehrmals die Arme. Er gab mir einen Daumen hoch.
Ich lief die Treppe herunter und sah in den Transporter, den die beiden immer “Bus” nannten. Meda stand gebückt darin und schichtete Bretter übereinander. Der Stapel reichte ihm schon bis ans Kinn.
“Noch paar Säcke, dann ist genug. Wird zu schwer sonst!”
“Also fahren wir gleich zur Kippe?”
“Is ja besser, wenn isch mit Doni alleine fahre. Dann kannst du hier schon weitermachen.”
Auch wenn das durchaus sinnig war, fühlte ich mich ausgeschlossen. Was hatte ich mir denn vorgestellt? Ich war für die beiden nur ein Tagestourist, einer, der ausnahmsweise mal den Arbeiter gab. Es war schon komisch – an der Uni fühlte ich mich stets fremd unter all den körperlosen und feingeistigen Akademikern. Doch hier, in der Welt des simplen Physis war es jetzt genauso. Vielleicht hatte nicht jeder einen Platz auf dieser Welt. Solche Dinge gingen mir durch den Kopf, als ich alleine wieder nach oben in die Wohnung stieg.
Doni hatte seine Kippen liegenlassen und ich steckte mir eine an. In der Küche sammelte ich ein paar Kleinigkeiten zusammen, die man noch gebrauchen konnte. Ich verstaute sie in einem Pappkarton und stellte ihn ins Schlafzimmer vors Fenster, damit ihn niemand wegwarf. Mein Magen knurrte. Ich ging zurück in die Küche und öffnete den Eisschrank. Eine Packung mit Minipizzen war schon abgelaufen, sah aber noch gut aus. Ich überlegte, ob ich sie mir aufbacken konnte. War das pietätlos? War es eklig? War es unkollegial? Ich fand keine triftigen Gründe, es nicht zu tun, und schaltete den Backofen auf 220. Als Meda und Doni später davon erfuhren, lachten sie mich aus. Ich öffnete einen der Küchenschränke und holte eine Schachtel Kekse heraus.
“Die wollt ihr dann wohl auch nicht?”
Nach einem kurzen Zögern griffen sie zu. Ich fasste erneut in den Küchenschrank und schwenkte eine Flasche Cognac hin und her. “Und ich hab noch was ganz Feines gefunden!”
“Ohhh!”
“Gibt sogar passende Gläser.”
Ich verteilte drei Schwenker und goss ein. “Auf die alte Frau, die hier gewohnt hat! Möge sie in Frieden ruhen.”
Ich meinte das scherzhaft und Meda lachte, doch Doni blieb ernst, nachdem er erfuhr, was ich gesagt hatte. Darüber dachte ich später lange nach.
Als die Wohnung soweit leer war, gingen wir in den Keller. In zwei morschen Holzregalen standen unzählige leere Einmachgläser und es dauerte ewig, sie alle in irgendwelchen Eimern und Wannen zu zertrümmern, damit sie weniger Raum einnahmen. Danach fand sich dauernd irgendwo noch etwas, das in den Transporter gebracht werden musste, der dieses Mal bis unters Dach gefüllt wurde. Zuletzt schoben wir den Kühlschrank und den Herd hinein, die “weiße Ware”, wie Meda es nannte. Ich stellte mir einen Titel für meine Abschlussarbeit vor: “Weiße Ware. Die Poetik der Haushaltsauflösung.” Ich war jetzt fix und fertig, jeder Schritt schmerzte. Dann war der Keller endlich leer und in mir machte sich ein erlösendes Gefühl breit: geschafft! Aber in der Wohnung mussten noch alle Gardinenstangen, Lampen und Haken abgeschraubt werden.
Ein letztes Mal schritt ich die Wohnung ab. Sie war jetzt ausgeweidet wie der Bauchraum eines Kadavers. In ein paar Tagen wollte die Wohnungsgesellschaft die Handwerker schicken. Sie würden noch die vergilbten Tapeten von den Wänden schaben wie Fleisch von einem Knochen und die Sanitärkeramik herausbrechen wie Zähne aus einem Kiefer.
Vor der Auffahrt zur Kippe war eine Schlange. Zwei Typen mit dunklen Bartschatten saßen am Straßenrand auf Bierkisten. Sie trugen Wollmützen und bunte Skijacken wie aus den Achtzigern.
“Zigeuner”, raunte Meda spöttisch und Doni grinste. Einer der Männer deutete auf unsere Ladung und Meda nickte. Der Mann stand auf und kam an die Fahrertür. “Hast du was, meine Freund?”
“Kühlschrank”, raunte Meda und der Mann winkte seinem Kompagnon. Meda machte sich nicht die Mühe auszusteigen. Ich hörte, wie die Tür zum Laderaum aufgemacht wurde. Es kratzte und schepperte kurz, dann wurde die Tür wieder geschlossen. Die Männer stellten den Kühlschrank neben den Bierkisten ab und setzten sich wieder hin.
“Ist der doch noch was wert?”, fragte ich.
“Die bauen ja nur den Kompressor aus.”
“Verstehe”, sagte ich, obwohl mir nicht klar war, wozu sie ihn brauchten.
Oben bei der Einfahrt mussten wir halten, bis uns jemand einen Platz zuwies. Sie hatten dort alten Plunder aufgestellt wie ein Skelett mit blonder Perücke, das ein Schild hielt: “Im nächsten Leben mach’ ich was ohne Idioten!” Ein Arbeiter in einem orangefarbenen Overall kam mit breitem Gang zum Auto geschlendert. Er hatte einen Pferdeschwanz und trug eine fluoreszierende Sportsonnenbrille. Um seinen Hals hing eine dicke Silberkette, auf dem Unterarm entdeckte ich ein grob gestochenes Tattoo. Meda kurbelte das Fenster runter und reichte ihm die Hand. Ich sah einen zusammengefalteten Zwanziger.
“Hallo, wie geht’s denn heute?”
Der Mann griff kurz zu und ging nicht auf die Floskel ein. “Was haste?”
“Eine Herd, ansonsten nur Sperrmüll.”
“Herd in den Container, Sperrmüll in die zwölf.”
Eingereiht in denselben scheinbar stillstehenden Strom aus Lichtern wie am Morgen fuhren wir auf der Autobahn zurück. Was war geblieben? Eine Brosche, eine Uhr, ein Bettgestell, eine Waschmaschine, ein Kühlschrankkompressor, ein Sideboard, eine Truhe, ein paar Haushaltsgegenstände und die Kleinigkeiten, die Herr Jammerzen mitgenommen hat. Ein Leben, neun Posten.
Meda hielt direkt vor meinem Haus. Er beugte sich vor und reichte mir die Hand. "Henwie!"
Auch Doni gab mir die Hand. Ich stieß die Tür des Transporters auf und setzte den Fuß auf die Stufe.
"Bis du nächste Mal wieder dabei?"
Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Aber es sprach nichts dagegen. Im Gegenteil. Ich fühlte mich nach dem Tag angenehm erschöpft wie selten zuvor, so als hätte ich mir eine große Last vom Hals geschafft.
"Ja, klar, warum nicht?"
"Schön! Starke Jungen können wir ja immer gebrauchen!"
Doni reckte einen Daumen.
"Also dann, bis demnächst!"
Ich warf die Tür zu und holte den Pappkarton aus dem Laderaum - mein Stück vom Aas.