"Blanker Valentin", dachte ich stellenweise beim Lesen der Atemschaukel. Der
hatte seinerzeit in einer Annonce vor dem ehrlichen Finder seines verlorengegangenen Klappmessers gewarnt. Darum ist Herta Müller auch zugleich legitimer Erbe Karl Valentins:
„An einem Tag kam Emma [die Leo nach der Heimkehr kennengelernt hatte] mit einem Strohhut nach Hause. Sie stieg aus dem Bus. Nahe der Bushaltestelle an dem kleinen Hotel … stand ein Mann unter der Markise. Als Emma vorbeiging, fragte er, ob er ein Stück unter ihrem Schirm gehen darf bis an die Ecke zur anderen Bushaltestelle. Er trug einen Strohhut. Er war um einen Kopf größer als Emma und noch mit Strohhut, Emma musste den Schirm hochstrecken. Statt den Schirm zu tragen, drängte er sie halb in den Regen und steckte die Hand in die Tasche. Er sagte, wenn das Wasser Blasen macht, regnet es tagelang. Als seine Frau eingeschlafen ist, habe es auch so geregnet … und brabbelte etwas, was mit dem Satz aufhörte: Meine Frau hat einen Sarg geheiratet. // Als Emma sagte, Heiraten sei doch etwas anderes als Sterben, meinte er, vor beiden müsse man Angst haben. Als Emma fragte wieso Angst, forderte er ihre Brieftasche. Sonst muss ich im Bus eine stehlen, sagte er, von einer gebrechlichen Vorkriegsdame. Und dort ist außer einem Bild von ihrem toten Mann nichts drin. Als er weglief, flog sein Strohhut in eine Pfütze. Emma hatte dem Mann ihre Brieftasche gegeben. Er hatte gesagt: Schrei nicht, sonst springt es. In seiner Hand war ein Messer.“
Herta Müller, Atemschaukel
Da ist das Messer, vor dem Valentin gewarnt hat! Und wenn wir bedenken, dass die Heimat des Dichters weder Sibiu (Hermannstadt), Friedland oder Berlin, weder 1950, 1968 oder 2009, sondern die ganze Welt und alle Zeit ist, so ist das eine moderne Geschichte wie sie aktueller heutzutage gar nicht sein kann.