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Yin und Yang
Süßlicher Geruch dringt in meine Nase. Ich gieße Milch in eine Schale, säubere die Leber und lege sie hinein. Vorsichtig presse ich zwei Finger auf die glatte Oberfläche, ein wenig Blut tritt aus, dunkle Schlieren im reinen Weiß der Milch. Yin und Yang, hat Florian einmal gesagt und dabei meinen Nacken gestreichelt. Du und ich, wir ergänzen einander. Die Leber schneide ich in sechs gleich große Stücke und verteile sie auf zwei Tiefkühlbeutel. Ich ziehe die Nitril-Handschuhe aus, werfe sie zusammen mit Messer und Schneidebrett in einen Abfallsack, um den ich mich nach Einbruch der Dunkelheit kümmern werde. Ich schreibe 17. Mai 2020 auf die Beutel und gehe in den Keller, wo ich sie in die Kühltruhe lege. Danach setze ich mich ins Wohnzimmer, rauche eine Zigarette und lese in Kleists Kohlhaas. Welche Kraft steckt in diesem Mann, welch grenzenlose Entschlossenheit! Vieles Gewaltige lebt, aber nichts ist gewaltiger als der Mensch.
Stets in der letzten Reihe saß er, mein Florian. Manchmal kippte er mit dem Stuhl nach hinten gegen die Wand, verschränkte die Arme, stellte sich schlafend, während ich über Kafkas Leben sprach oder über die Unmöglichkeit, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben. Schon bald verlor ich die Geduld, rief laut seinen Namen, worauf er die Augen aufriss, lächelte und meinen Vortrag Wort für Wort wiedergab. Er solle damit aufhören, sagte ich am Abend, wenn wir uns in den Armen lagen. Sein Verhalten errege Verdacht. Ob das wirklich mein Problem sei, fragte er. Ob sein Verhalten nicht vielmehr mich errege, fragte er, schob die Hand unter das Laken und küsste mich auf den Mund.
Sechs Monate sind vergangen. Das Vorhängeschloss liegt schwer in meiner Hand. Ich stemme den Deckel der Gefriertruhe hoch, wische Eiskristalle von der Innenseite und blicke in das neblige Innere. Die Männer, die mit dem Transport beauftragt waren, haben meine Anweisungen missachtet. Kreuz und quer liegen die Frischhaltebeutel in der Truhe. Leise fluchend hebe ich einen nach dem anderen hoch, lese die Beschriftungen, lege die Beutel zurück, schichte sie auf, nach Datum geordnet. Eine halbe Stunde dauert das, meine Hände werden klamm vor Kälte. Zuletzt ziehe ich die beiden Beutel vom 17. Mai aus der Truhe, schiebe die Brille ins Haar, um die Angaben noch einmal zu prüfen. Ich lasse den Deckel zufallen, ziehe einen Filzstift aus der Hosentasche und mache die Daten unkenntlich. Für einen Augenblick lausche ich dem Brummen der Truhe, dann hänge ich das Schloss zurück an seinen Platz, lösche das Licht und gehe nach oben.
Als ich das Fleisch in den Kühlschrank legen will, steht Wolfgang in der Küche, im Morgenmantel, seine Füße stecken in Cordpantoffeln.
«Ich freue mich auf heute Abend», sagt er. «Was gibt es denn?»
Ich hebe die Beutel in die Höhe. «Kalbsleber. In Zwiebelsoße.»
Er faltet die Hände, seine Zungenspitze gleitet über die Unterlippe.
«Nur für uns zwei», sage ich. «Das ist doch okay?»
«Öhm.» Wolfgang reibt sich das Kinn.
«Ich möchte meinen Einzug gerne mit dir allein feiern.»
«Natürlich», sagt er nach einer Weile. «Wir können im Kaminzimmer essen, da sind wir ungestört.»
Am Abend stehe ich in der Küche und bereite die Leber zu. Sie glänzt wie eine feuchte Eichel. Ob ich Florian liebte, weiß ich nicht. Mein Körper war erfüllt von Begehren und das Begehren drang wie ein Pilz in jedes Gefühl, das es sonst noch in mir geben mochte, zersetzte es und verwandelte es zu einem Teil seiner selbst. Es erschöpfte sich nie. Es fraß und verleibte ein. Erfuhr es Widerstand, wurde es kalt und blank und schnitt durch meine Eingeweide. Keine Minute hielt ich das aus.
Die Zwiebeln treiben mir Tränen in die Augen. Ich stelle eine Pfanne auf die Herdplatte, drehe auf mittlere Stufe und lasse ein Stück Butter zergehen. Danach gebe ich die gehackten Zwiebeln in die Pfanne und, als sie glasig werden, auch die Leber. Der Dampfabzug surrt. An der Spüle wasche ich mir die Augen aus.
Florian war ein schwacher Mensch. Stets tat er, als wäre ihm egal, ob wir aufflogen oder nicht. Als aber der Tag kam, gab er uns auf, da hatte er den Brief noch in den Händen. Ich verurteile Sie nicht, stand darin geschrieben, ausgedruckt auf grauem Recyclingpapier. Solang er strebt, irrt der Mensch. Falls Sie aber Ihren Irrtum nicht eingestehen und die Beziehung zu Ihrem Schüler beenden, werde ich die Behörden einschalten.
«Hast du eine Ahnung?», fragte ich.
Florian schüttelte den Kopf. Er legte den Brief auf mein Bett. Er sagte: «Ich kann das nicht.»
Drei Wochen später begegnete ich ihm am Neumarkt. Florian wandte seinen Blick ab, sein neuer Begleiter grüßte freundlich. Betont freundlich, um mich zu verhöhnen.
Wolfgang sitzt im Kaminzimmer, mit durchgestrecktem Rücken, die Lesebrille hat er auf den Tisch gelegt. Er hat ein Hemd angezogen, gar ein Paar blankgeputzte Schuhe. Fein sieht er aus. Ich stelle die Schüssel auf den Tisch und hebe den Deckel. Dampf steigt hoch.
«Wie das riecht!», sagt Wolfgang, während ich Leber und Kartoffeln auf seinen Teller schöpfe, spießt ein Stück Fleisch auf und hält es vor sein Gesicht.
«Warte», sage ich. «Zunächst ein Foto.» Die Kamera habe ich auf meinen Stuhl gelegt. Ich nehme sie in die Hand und trete ein paar Schritte zurück, damit ich etwas Kontext ins Blickfeld bekomme, die Bücherregale, das Fenster im Hintergrund. Ich drücke ab. Dann sage ich zu Wolfgang, er solle sich die Gabel in den Mund stecken, langsam, ohne zu kauen. «Perfekt», sage ich und drücke noch einmal ab. «Absolut perfekt!»
Zwiebelsoße rinnt über sein Kinn, er wischt sie mit dem Handrücken weg und wünscht mir einen guten Appetit. Die ersten Stücke essen wir schweigend, dann blickt er auf einmal an mir vorbei in die Ferne. «Du», sagt er. «Ich will mich entschuldigen, dass ich deine Einladungen ...»
Ich winke ab. «Kein Problem. Du hattest bestimmt einiges um die Ohren.»
Er nickt, findet seine Sprache wieder, sagt, er habe das Haus nach dem Tod seiner Frau kaum verlassen.
«Verstehe», sage ich und setze ein Lächeln auf. Auch ich habe meine Wohnung kaum verlassen, seit Florian weg ist. Er war mein Nord und Ost, mein Süd und West. Ich sehe ihn vor mir, wie er aus der Dusche steigt, das Handtuch um die Hüften geschlungen, und den Kopf an meine Brust legt, das feuchte, duftende Haar. Ich sehe, wie er in Unterhosen auf dem Bett steht. Er ist angetrunken, hat Mühe, das Gleichgewicht zu halten, und zitiert T.S. Eliot aus dem Gedächtnis. Flieder aus der toten Erde, mischt Erinnerung mit Lust. Das Bild verschwimmt. Aus der toten Erde unserer Beziehung ist nichts gewachsen, da steckt bloß eine rostige Schaufel im Schlamm. Er ist mir genommen worden. Alles ist mir genommen worden.
«Wie ist es dir gegangen?», fragt Wolfgang. «Nach deiner Kündigung?»
«Gut. Sehr gut sogar.»
«Du warst im Ausland?»
«Nur kurz.»
«Was hast du gemacht? Geschrieben?»
«Gelesen.»
«Ach so. Was denn?»
«Forensische Linguistik. Sprachprofiling.»
«Interessant.» Wolfgang legt Messer und Gabel weg und zündet sich eine Zigarette an. Seine Hände zittern, alle Farbe ist aus dem Gesicht gewichen.
Ich frage, ob ich auch eine kriege. Dann sage ich: «Kleiner Scherz. Das war nicht nötig. Ich habe auch so herausgefunden, wer den Brief geschrieben hat.»
«Welchen Brief?», fragt er.
«Ach komm, Wolfgang. Ich bitte dich. Es irrt der Mensch, solang er strebt. So lautet der Satz richtig.»
«Ich weiß nicht, wovon du sprichst.»
«Irgendwie war mir, ich hätte das schon mal gelesen, dieses falsche Zitat. Also habe ich Protokolle studiert, Arbeitspapiere, Jahresberichte. Und dann finde ich auf einmal diesen Artikel über ein Theaterprojekt, den du geschrieben hast. Solang er strebt, irrt der Mensch.»
«Ich ...»
«Schon gut.» Ich puste Rauch gegen die Decke. «Ich bin dir nicht böse. Du hast getan, was du tun musstest, nicht?»
«Ich wollte euch schützen», sagt Wolfgang.
«Verstehe. Natürlich.» Wir schweigen und sehen uns in die Augen. Schließlich sage ich: «Schwamm drüber. Ich wollte bloß, dass du weißt, dass ich es weiß. Damit du dir keine Sorgen zu machen brauchst. Im Grunde hast du mir einen Gefallen getan.» Ich beuge mich vor und will meine Hand auf seine legen.
Er zieht die Hand zurück. «Da bin ich froh.»
«Wie geht es ihm?», frage ich.
«Wem?»
«Florian.»
«Gut. Denke ich. Ich habe seine Klasse abgegeben. Manchmal sehe ich ihn auf dem Flur.»
Ich trage das Geschirr in die Küche. Ein kleines Stück Fleisch liegt noch auf dem einen Teller. Mit der Fingerspitze picke ich es auf und stecke es mir in den Mund. Was für ein gelungener Abend! Wie lange es gedauert hat, wie geduldig ich sein musste. Ich denke an den Anfang zurück, an das Wochenende im Mai, an die Hütte am See, in die sich Wolfgangs Frau zurückgezogen hatte. An ihre weiße Haut, Yin und Yang. Wie die Flammen hochstiegen, nachdem ihr Körper mir gegeben hatte, was ich brauchte.
Wolfgang hilft beim Abwasch. Danach rauchen wir noch eine Zigarette. Ich bin zufrieden, dass jetzt alles gut ist zwischen ihm und mir. Dass wir uns ausgesprochen haben. Wir beide haben jemanden verloren, das schweißt zusammen. Später werde ich mich in die Dunkelkammer zurückziehen und die Fotos entwickeln. Das schönste will ich im Kaminzimmer aufhängen.