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Wolfstage
Als das Schloss klickt, sehe ich Vanessa durch die Glasscheibe am Empfang gestikulieren. „Der Chef will dich sprechen."
„Hat er gesagt, worum es geht?", frage ich atemlos und winde mich aus meinem Poncho.
Sie schüttelt ihre blonde Mähne und wendet sich wieder dem Poststapel zu. Ich habe weiche Knie, meine Probezeit ist noch nicht um.
Ulf kommt um die Ecke und beugt sich zu Vanessa. „Hab gehört, die holen Wolf aus München zurück."
„Oh Mann", höre ich sie murmeln. „Als ob wir den Irren hier bräuchten."
Meine Hände zittern.
Zum Chef.
Ich biege kurz ab, beuge mich übers Waschbecken und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Vielleicht habe ich es in Ulfs Projekt übertrieben, meine Kompetenzen überschritten. In der Hektik der letzten Wochen habe ich einen Plan aufgestellt und koordiniere seitdem den Softwaretest. Sie lassen es zu - er und das gesamte Team. Ich glaube, dass es am besten funktioniert, wenn ich die wichtigsten Module persönlich prüfe.
Ich klopfe an Carls Tür und trete ein. Er steht mit durchgedrücktem Rücken am Fenster, dreht sich um. So leise wie möglich schließe ich die Tür.
„Morgen."
„Den Leon bring ich um", donnert er los. „Hat sich beim Skifahren verletzt, der Idiot!"
Ich nehme den Stapel Computerzeitschriften vom Stuhl und setze mich.
„Du übernimmst bei Prisma II den Test."
„Gern", sage ich. „Die Testleitung macht ... wer nochmal?"
„Hab ich doch eben gesagt: Du! Das Konzept muss übrigens angepasst werden."
Ich hole tief Luft, Prisma II ist unser größtes Projekt.
„Wolf springt als Projektleiter ein. Um elf ist Telefonkonferenz. Ich mail euch die Sachen." Als Carl ein paar Schritte auf mich zuläuft, weht sein Altherren-Irisch-Moos-Geruch rüber. Mit Mühe widerstehe ich dem Impuls, Richtung Tür auszuweichen.
„Jetzt lächle mal. Damit siehst du schöner aus."
Ich versuche es, fühle eine Art Krampf im Gesicht.
„Na also. Bis elf."
Draußen erwartet mich Vanessa. „Und?"
"Ich brauch erst mal einen Kaffee", murmle ich und schiebe mich an ihr vorbei.
Sie läuft mir hinterher, ich stecke die Kapsel in den Automaten.
„Jetzt sag schon."
„Es ging um Prisma II. Ich soll testen."
„Ach so. Das." Vanessa sieht enttäuscht aus.
Ulf rührt in seinem Kaffeebecher. „Habt ihr das von Wolf gehört?"
„Was ist mit dem?", sagt Bernd. „Ich dachte, der wär jetzt fest in München."
„So wie es aussieht, kommt der zurück." Ulf nimmt einen Schluck. „Ich schätz mal, wegen Prisma II." Er fixiert mich mit zu Schlitzen verengten Augen.
„Wie ist der denn so, der Wolf?", frage ich wie beiläufig. „Ist der nett?"
Für einen Moment wird es still. Vanessa zerknüllt eine Serviette.
„Yoaah ...", sagt Bernd und geht.
Das Material, das Carl gemailt hat, liegt ausgedruckt neben mir, als ich mich einwähle.
„Hallo, hier ist Anouk", sage ich und bemühe mich, so professionell wie möglich zu klingen.
Zwischen Papiergeraschel brummt eine Stimme: „Carl, los, komm. Wähl dich ein."
Dann wird es still. Anscheinend hat er das Mikro stummgeschaltet.
Als ich den zweiten Zettel mit Blümchen bekritzelt habe, klickt es und ich höre Carls Stimme. „So, Leute. Los gehts.“
„Ich glaub, Bernd und Ulf sind noch nicht eingewählt“, werfe ich ein.
„Die können nicht“, sagt Carl. „Also, Wolf, nächsten Donnerstag kommst du zum Meeting. Anouk wird auch da sein. Sie leitet ab jetzt das Testteam."
„Testteam, meine Fresse. Ich brauche mehr Entwickler, das weißt du ganz genau. Und nicht diese Idioten, die ..."
„Ich will, dass du eng mit Anouk zusammenarbeitest. Ist das klar?“
„Auf Deutsch: Die hat erst angefangen und ich muss ihr alles erklären.“
„Sie hat Potential“, sagt Carl. „Ich schick die Einladung rum. Bis dann."
Zweimal macht es Klick.
„Sie sind der einzige Teilnehmer im Konferenzraum“, sagt die Computerstimme.
Kurz vor zehn - Vanessa ist gerade dabei, Milch und Zucker neben dem Kaffeeautomaten zu arrangieren - betrete ich den Meetingraum. Ich wähle einen Platz mit dem Rücken zum Fenster. Aus dem Flur dringen Männerstimmen, kurz darauf kommen sie zu viert in den Raum. Bernd, der Charmeur mit dem kratzigen Dreitagebart, umarmt mich wie immer. Meiner Theorie zufolge ist er bi. Ich mag ihn.
Ulf zwinkert mir zu und lässt sich auf den Platz gegenüber fallen. „Moin."
„Anouk, das ist Wolf", sagt Carl und gestikuliert zu einem Mann in Jeans und dunklem Rollkragenpullover, der im Türrahmen steht.
Sein Haar ist militärisch kurz geschnitten, der dünne Vollbart kann die Aknenarben nicht kaschieren. Er hebt die Augenbrauen und lässt seinen Blick unruhig durch den Raum wandern. Etwas stimmt nicht mit ihm, denke ich. Ungelenk umrundet er den Tisch und setzt sich neben mich. Zu dicht.
Carl stellt Leons Projekt vor, ab und zu unterbrochen durch unsere Fragen. Ich versuche, die wichtigen Informationen mitzuschreiben. Alles ist im Verzug, auch die Hardware aus China.
„Kina“, sagt Wolf und verzieht dabei den Mund.
Die Besprechung verläuft konstruktiv. Was er sagt, hat für mich Hand und Fuß, anscheinend hat er schon Projekte dieser Größenordnung geleitet. Das beruhigt mich.
Die Tür öffnet sich einen Spalt und Vanessa winkt Ulf und Bernd zu sich heraus. Als Carl auf den Balkon geht, um eine zu rauchen, wirbelt eine Windböe Staub durch den Raum. Mein Auge sticht, ich kann nicht aufhören, zu blinzeln. Während ich halbblind in meiner Handtasche wühle, streicht etwas meinen Oberschenkel entlang. Falls die Tränen den Fremdkörper nicht wegspülen, muss ich die Kontaktlinsen rausnehmen. Mit zittrigen Händen öffne ich die Dose und das Fläschchen mit der Desinfektionslösung. Wolfs schlanke Finger ruhen auf meinem Bein. Als ich seinen Atem auf mir spüre, steigt Wärme in mir auf. Mein Auge brennt wie die Hölle.
„Nimm die Hand da weg!", sage ich leise, während ich an Wolf vorbei Richtung Balkon blinzele.
Tränen strömen über meine Wange. Carl hat uns den Rücken zugewandt, schaut runter zum Park und bläst Rauchringe in die Luft.
„Ich zeig dich an.“
„Das wirst du nicht tun“, entgegnet Wolf ruhig.
Meine Ohren rauschen, während ich nach Worten suche und keine finde. Sein Blick brennt tief.
Als Ulf und Bernd zurückkommen, rückt Wolf von mir ab und nimmt einen Schluck Kaffee. Carl schließt die Balkontür und stellt das nächste Programmpaket vor. Alles in mir kribbelt, ich höre nur noch mit halbem Ohr zu.
In der Nacht liege ich mit trockenem Mund im Bett und lausche dem Ehestreit meiner Nachbarn. Ich erfahre, dass er überall in der Wohnung seine Kleidung rumliegen lässt und dass sie ein Flittchen ist. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus und fahre mein Notebook hoch. Während der Minztee zieht, durchforste ich Stellenanzeigen und formuliere erste Anschreiben. Der abgewetzte Teddy auf meinem Bett schaut stumm vor sich hin. Vielleicht melde ich mich morgen krank, rede ich mir zu, während ich auf das Waschbecken starre und mich frage, worauf ich eigentlich warte. Weder kann ich seine Berührung abspülen noch erbrechen. Ich lege eine alte Sting-CD auf, stürze den kalten Tee hinunter und verschicke fünf Bewerbungen - mehr kann ich nicht tun.
Laut Office-Kalender ist Wolf heute in München, stelle ich erleichtert fest, und in nächster Zeit mehrmals pro Woche. Wenn er hier im Haus ist, geistert er meistens bei den Entwicklungsteams im Stockwerk unter uns rum. Gestern um 21:49 Uhr hat er mir mein Testkonzept zurückgemailt. Er hat es umgeschrieben und mit detaillierten Erklärungen am Rand versehen.
In der Mittagspause surfe ich auf dem Smartphone, beginne eine E-Mail an Henning vom Betriebsrat und lösche sie wieder.
Je mehr ich mich in Prisma II vertiefe, desto weniger traue ich meiner Erinnerung. Ich werde die Sache auf sich beruhen lassen und nicht mehr daran denken. Womöglich habe ich überreagiert. Hoffentlich vergisst er es auch.
„Berufsanfänger ... packt die nicht“, höre ich, als ich um die Ecke biege. Das Grüppchen am Kaffeeautomaten verstummt und sieht mich an. Ich öffne den Kühlschrank, um die Milchpackung zu holen. Bernd kommt gutgelaunt mit großen Schritten angefegt, angelt eine Flasche aus dem Wasserkasten und flüstert Jamil etwas ins Ohr. Der verzieht keine Miene. Manchmal frage ich mich, was in diesem dunkelhäutigen, feingliedrigen Mann vorgeht, der auf mich wie ein halbes Kind wirkt.
„Na, Anouk, alles klar? Wie läufts?“, sagt Ulf.
„Bis jetzt gut“, murmle ich und stelle mich neben Vanessa, die für mich ein Stück zur Seite rückt. Zumindest hoffe ich das, eine Rückmeldung habe ich nicht. Wolf ist ständig unterwegs, wir kommunizieren nur per E-Mail und Telefon.
Korsika. Obwohl es kühl ist, liegen wir am Kieselstrand. Wir kuscheln eng aneinander, seine Hände sind überall auf mir. Er bedeckt mich mit Küssen, ich spüre seinen kratzigen Bart, bade in seinem intensiven Blick. Ich sehe, wie seine Lippen sich bewegen, aber es kommt kein Ton - seltsam. Mit einer linkischen Handbewegung streicht er mir eine Strähne aus der Stirn. Darüber legt sich der Klang von Mülltonnen, die gerade entleert werden. Heute ist Mittwoch. Als ich aus dem Bett springe, sacken mir beinahe die Knie weg. Mein Puls rast und eine Welle von Übelkeit überrollt mich. Ich muss duschen.
„Schön, dass du da bist“, empfängt mich Vanessa auf dem Sommerfest und drückt mir ein Glas Sekt in die Hand. Ich sehe mich auf der Dachterrasse um. Ein paar aus meinem Team sind auch da, Gott sei Dank. Ganz hinten sehe ich Bernd, der zum Gruß die Bierflasche hebt. Wie immer steht er dicht neben Jamil, unserem jüngsten Entwickler. Ich habe vergessen, wo der herkommt, aus Aserbaidschan, glaube ich. Bernd zauselt ihm durchs Haar.
„Anouk, Schätzchen!“, reißt mich Carl aus meinen Gedanken. „Jetzt erzähl mal. Wie läuft Prisma II?“
Achtung, Fangfrage.
Ich nippe am Sekt und streiche eine imaginäre Fluse von meiner Jeans. „Was willst du wissen?“
„Ob ihr die Timelines haltet.“
„Also, das fragst du besser Wolf“, sage ich schnell.
„Okay. Dann formulier ich es anders: Was ihr zum Testen bekommt, taugt das was?“
Zögernd nehme ich einen Schluck. Wolf macht das Beste aus dem unterbesetzten Projekt und nimmt sich im größten Stress die Zeit, mir alles zu erklären: Wie er plant und wie er Prioritäten setzt. Die Fehlerraten im Test sind hoch, aber ich will ihn nicht reinreiten.
Wenn man vom Teufel spricht.
„Hi!“ Wolf erscheint im Türrahmen. „Gibts auch Hefeweizen?“
Er sieht müde aus, hat Ringe unter den Augen. Vanessa reicht ihm ein Erdinger und er stellt sich dicht neben mich. Ich trete zwei Schritte zur Seite.
„Ist was?“, sagt er und blickt in die Runde.
Bernd kommt angeschlendert, er ist schon angeschickert und legt den Arm um meine Schulter. „Und, wie gefällts dir bei uns, Anouk?“
Ich winde mich aus seinem Griff und stelle mein Glas etwas fester als beabsichtigt auf dem Tisch ab.
„Du bist Jungfrau, oder?“, sagt Bernd zu mir.
Wolf verschluckt sich und beginnt, zu husten.
„Das Sternzeichen, mein ich“, sagt Bernd. „Jungfrauen sind die perfekten Softwaretester, wusstest du das?“
„Sorry, aber ich glaub nicht an Horoskope“, murmle ich und rücke näher an Wolf heran.
Carl erzählt von dem neuen Projekt namens Lava, das er an Land gezogen hat. Aus dem Augenwinkel beobachte ich Wolf, der am Etikett seiner Bierflasche pult und etwas vor sich hinmurmelt, das wie „Streichkonzert“ klingt.
Ich zwänge mich an ihm vorbei und laufe zur Treppe. In der Toilette grimassiert Bea vorm Spiegel und zieht Make-up nach. Ich verschließe meine Kabine und checke E-Mails. Bisher haben zwei Firmen den Eingang meiner Bewerbung bestätigt. Ich setze mich auf den WC-Deckel, surfe im Internet. Meine Probezeit ging gestern zu Ende. Vielleicht sollte ich mich in anderen Branchen umsehen? Oder umschulen auf ... was weiß ich ... Töpferin? Schäferin auf Korsika?
Die Tür geht.
„Warst du schon bei Henning?“, höre ich Beas Stimme.
Jemand schnäuzt die Nase.
„Wieso nicht?“, fragt Bea.
Ich schließe die Augen, wünschte, ich wäre ganz weit weg.
„Da ist jemand“, flüstert eine Stimme.
Als ich die Kabine verlasse, läuft Bea auf den Flur.
Die Tür zu Carls Zimmer ist geschlossen, als ich auf dem Weg zum Kaffeeautomaten bin. Zum ersten Mal höre ich Wolfs Stimme in Maximallautstärke.
„Ist mir scheißegal, deine Lavascheiße, ehrlich gesagt.“
Was Carl antwortet, kann ich nicht verstehen. Die Tür wird aufgerissen und plötzlich steht Wolf mit finsterer Miene vor mir.
„Anouk, kommst du mal bitte zu mir“, ruft Carl.
Ich betrete sein Zimmer und schließe die Tür.
„Hast du Lust, den Test bei Lava zu übernehmen?“, fragt er und lümmelt sich auf seinem Ledersessel mit der hohen Lehne nach hinten.
„Geht das denn? Eigentlich bin ich mit Prisma II voll ausgelastet.“
„Dafür würden wir eine Lösung finden“, sagt Carl mit einem Sphinxlächeln. „Ich mail dir die Infos über Lava und du schaust es dir an.“
Er beugt sich über seine Tastatur und ich verlasse den Raum. In meinem Kopf dreht sich ein Karussell. Prisma II ist auf einem guten Weg. Ich gebe alles für Wolfs Projekt. Er gibt alles.
Irgendwann einmal werde ich Schafe hüten auf Korsika. Aber bis dahin teste ich Software. Witzig eigentlich, das ist wie ein Lauf gegen die Uhr, wenn die Überstunden wie im Flug vergehen, bis die verdammte Software endlich funktioniert.
Bin ich nun aus Prisma II abgezogen oder nicht?
In der Ecke mit der Riesenpalme, hinter der Säule vorm Abstellraum hat er auf mich gewartet. Wolf stützt sich mit der Hand an der Wand ab, dass ich eingekesselt bin. Während er sich über mich beugt, rieche ich seinen Zwiebelminzeatem, sehe direkt in seine funkelnden Augen.
„Was hast du Carl erzählt?“, fragt er heiser.
„Lass mich vorbei.“
Ich wünschte, meine Stimme klänge anders. Nicht so piepsig.
„Erst beantwortest du meine Frage.“
Wolfs Blick ist nicht zu ertragen, ich will zu Boden sinken. Oder zur Seite schauen. Er nimmt seine Finger und hebt mein Kinn, zwingt mich, ihm in die Augen zu sehen. In meinem Kopf dröhnt es, als schlügen unentwegt Stahlplatten aufeinander. Ich gebe einen Angstlaut von mir und verachte mich selbst dafür. Es war falsch, sich nicht an Henning zu wenden. So falsch.
„Du miese, kleine ...“, fängt Wolf an. Abrupt dreht er sich um und lässt mich stehen.
Ich sitze mit Kaja im Straßencafé und löffele die Crema von meinem Cappuccino. Es war ein Fehler, meiner Schwester davon zu erzählen.
„Du kannst ihn immer noch anzeigen“, sagt sie mit Bestimmtheit. „Das solltest du sogar tun.“
„Morgen hab ich ein Vorstellungsgespräch bei der IT-Leiterin einer Umweltorganisation, vielleicht wird das was.“
Dass es unterirdisch bezahlt ist und auf ein halbes Jahr befristet, unterschlage ich.
„Der Täter muss weg, nicht du.“ Sie beugt sich nach vorne. „Wegen Frauen wie dir machen diese Typen immer weiter. Du musst jetzt handeln.“
„Jetzt lass doch mal die Kirche im Dorf, er hat mich ja nicht ..., nicht vergewaltigt.“
Kaja schnappt nach Luft. „Was du mir erzählst, reicht locker für eine Anzeige. Schon ein anzüglicher Witz würde genügen.“
„Weißt du ... das war irgendwie komisch, ich hatte was im Auge und war abgelenkt.“
„Siehst du!“, sagt sie. „Der hat das ausgenutzt. Statistisch gesehen trifft es meist die Schwächsten: Leute in der Probezeit, Ausländer und Behinderte.“
„Das verstehst du nicht“, sage ich. „Etwas Besseres als Prisma II konnte mir karrieremäßig nicht passieren.“
Kaja winkt den Kellner herbei und wir bezahlen. Schweigend machen wir uns auf den Heimweg.
Wolf ist nicht an seinem Platz, Jamil auch nicht. Ich habe Fragen wegen dem neuen Release und gehe vor zum Empfang.
Vanessa zieht mich zur Seite und blickt umher, bevor sie in mein Ohr flüstert: „Wolf ist bei Carl drin. Die haben sich wieder angebrüllt.“
„Warum das denn?“
Sie zuckt die Schultern.
„Weißt du, wo Jamil ist?“, will ich wissen.
„Der kommt nicht mehr. Hat gekündigt.“ Vanessa mustert mich eingehend. „Steht dir übrigens gut, die neue Brille.“
„Danke“, murmle ich und verfluche im Geiste die Entzündung, die mich dazu zwingt, mit den Kontaktlinsen auszusetzen. Ich fühle mich unwohl mit dem schweren Ding auf der Nase und ständig kommentiert jemand mein Aussehen.
Meine Gedanken wandern zu Jamil. Er ist ein stiller Typ, arbeitet genau. Wolf hat ihn fair behandelt, soweit ich das mitbekommen habe, hat sein Talent gefördert und ihm nach und nach mehr Verantwortung übertragen. Weißt du, warum er gekündigt hat, liegt mir auf der Zunge zu fragen, und dann sehe ich wieder Bernd vor mir, wie er Jamil auf dem Sommerfest belagert hat.
Carl hat mir eine Nachricht geschickt, ich soll in sein Büro kommen. Als ich eintrete, fläzen sie sich auf ihren Stühlen, trifft mich Wolfs Blick mit voller Wucht.
„Anouk, Schätzchen. Setz dich“, sagt Carl und zeigt auf den Platz neben sich.
Ich ziehe den Stuhl vom Tisch weg, um den Abstand zu den beiden zu vergrößern, und lasse mich nieder. Hoffentlich kommt jetzt kein Spruch wegen meiner Brille.
„Hast du dir die Unterlagen für Lava angeschaut?“, fängt Carl an.
Ich nicke.
„Und? Wär das was für dich?“
„Klingt interessant, aber ich bin mit Prisma II ausgelastet. Beides gleichzeitig schaffe ich nicht.“
Carl runzelt die Stirn. „Ist dir Prisma II so wichtig? Möchtest du das gerne weitermachen?“
„Ja klar. Ich will das Projekt auf jeden Fall zu Ende bringen.“
Wolf richtet sich in seinem Stuhl auf. Sehe ich da den Anflug eines Lächelns?
Carl seufzt. „Also gut. Ihr habt mich überzeugt.“ Er steht auf und gestikuliert zu Wolf. „Der hier hätte alles hingeworfen, wenn ich dich zu Lava abgezogen hätte. Ab mit euch zweien.“
Wolf und ich erheben uns gleichzeitig. An der Tür lässt er mir mit einer knappen Handbewegung den Vortritt.
Als ich eine Kapsel in den Kaffeeautomaten stecke, holt er die Milch aus dem Kühlschrank und reicht sie mir. „Kommst du dann bitte mit in mein Büro.“
Ich stehe am Fenster und schlürfe meinen Kaffee. Wolf schließt die Tür, setzt sich mit verschränkten Armen hin und betrachtet mich eine Weile.
„Ich hab Carl gesagt, dass ich mit deiner Arbeit sehr zufrieden bin, Anouk. Dass du Prisma II voranbringst, dass wir dich brauchen. Und deshalb bin ich froh, dass du bleibst. Also, danke.“
„Ist das alles?“
Er kaut auf der Unterlippe. Ich trinke den letzten Schluck und knalle meine Kaffeetasse auf die Fensterbank, dass er zusammenfährt.
„Wegen dir hab ich meine Freizeit damit zugebracht, mich auf mies bezahlte Langweilerjobs zu bewerben.“ Ich mache ein paar Schritte auf ihn zu. „Wegen dir habe ich mir von meiner Schwester diese Scheiße anhören müssen, dass ich unsolidarisch handele, wenn ich dich nicht anzeige!“
Auf dem Weg zur Tür fällt mein Blick auf ein Foto auf seinem Schreibtisch, das ein Paar mit zwei Mädchen im Grundschulalter zeigt. Ohne Bart hätte ich ihn fast nicht erkannt.
„Deine Töchter, hm?“, schnappe ich. „Wie alt sind die jetzt?“
Ohne die Antwort abzuwarten, gehe ich raus in den Flur und schließe die Tür mit Nachdruck.
Am späten Abend verlasse ich das Büro. Als ich meine brennenden Augen reibe, schlüpft Wolf im letzten Moment zu mir in den Aufzug zur Tiefgarage. Falls er jetzt meine Brille kommentiert, erwürge ich ihn. Umständlich holt er seinen Schlüssel aus der Jackentasche und ein paar Mal habe ich das Gefühl, er setze an, etwas zu sagen, oder vielleicht bilde ich es mir nur ein.