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Wenn die Zeit stillsteht

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31.01.2016
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Wenn die Zeit stillsteht

Wir essen die Nudeln immer zuerst aus der Suppe. Bis auf unser Schlürfen höre ich nur Möwengeschrei. Schrille, laute Töne. Ich sehe die Vögel waghalsige Manöver fliegen, höre sie sich ihre Warnsignale zurufen, als segelten sie über stürmischer See. Wundern würde es mich nicht, wenn sie nach mir greifen, mich fortbringen würden, so ungestüm wie sie auf geöffnete Fenster zusteuern. Doch kurz vorher fliegen sie eine akrobatische Kehrtwende und gleiten über die Häuser hinweg. Von meinem Stuhl aus blicke ich über die Dächer der Stadt und der wolkenlose Himmel scheint so viel näher zu sein als der staubige Boden. Stünden dort keine Häuser, könnten wir auf das Meer sehen; so bleibt uns nur die Gewissheit, dass es hinter der letzten Reihe liegt. Und wenn man darüber fliegen würde und immer weiter und weiter, käme man irgendwann zu einem anderen Kontinent. Hin und wieder rauscht das Laub des Kirschbaumes vor meinem Fenster, sobald sich der Wind darin verirrt oder ein Vogel. Die Früchte sind bereits rot und die Zweige mit dunkelgrünem Laub geschmückt. Eine besonders übermütige Möwe versucht zu landen. Wild schlägt sie mit kräftigen Flügeln und das Laub fliegt nur so umher. Immer wieder steuert sie mit den Füßen auf einen Ast zu. Sie will nicht wahrhaben, dass sie nicht in der Lage ist, sich daran festzuhalten. Ich weiß, sie wird es weiter versuchen, solange, bis sich ihre Krallen um den Zweig krümmen, sie darauf sitzen und von den Kirschen essen kann.

Die Suppe koche ich jeden Tag. Es ist Kais Leibspeise. Wenn ich kein gutes Bauchfleisch bekomme, nehme ich Tofu. Ansonsten gehören unbedingt Sternanis und eine Zimtstange in die Brühe, Shiitakepilze und eine grüne Chilischote. Sonntags möchte Kai ein Ei dazu. Das lege ich am Abend zuvor in Sojasauce ein. Als wir neu in die Stadt zogen, habe ich fertige Nudeln verwendet. Kai war darüber enttäuscht, und so machte ich mir fortan die Mühe, sie wieder selbst zu rollen, wie vorher, als wir auf dem Land bei unseren Familien lebten und die Küchenarbeit aufgeteilt wurde. Kais Großmutter saß den lieben langen Tag an der offenen Tür zum Garten, pulte die Bohnen aus den Hülsen oder hobelte Ingwer in hauchdünne Scheiben.

Den Kopf über die Suppentasse gebeugt, blicke ich durch Haarsträhnen zu Kai hinüber. Er beeilt sich, als müsse er noch einmal fort. Zu einer Verabredung, zur Arbeit oder einfach weg von hier. Ich halte mitten in der Bewegung inne. Wie erstarrt bleibt mein Arm in der Luft, der Löffel vor dem geöffneten Mund, der Rücken fest und starr, als wäre ich mit der Sitzfläche verbunden. Mit einem Scheppern fällt der Löffel zuerst auf den Rand der Suppenschale, dann zu Boden. Meine Finger gleichen den gespreizten Flügelspitzen eines Vogels. Es war mir unmöglich, das Besteck noch eine Sekunde länger festzuhalten. Mit dunklen Rändern unter den Augen blickt Kai auf und ich versuche, etwas wie ein Erkennen auszumachen, irgendeine Regung, die mir bedeutet, dass ich zu ihm gehöre.
„Kai, verlass mich nicht“, und ich bin nicht einmal sicher, ob ich das denke oder wirklich sage. Er schaut erneut auf seinen Teller und isst bedächtig die Nudeln. Beim Aufstehen erreichen meine Füße den Boden nicht und ich muss einen kleinen Sprung wagen. Den Weg zur Spüle schlurfe ich über das Parkett; irgendetwas ist mit meinen Knien. Mit einem Tuch wische ich die Flüssigkeit vom Tisch, lese die Nudeln auf, bringe die Schale, den Löffel und das Tuch zurück zur Küchenablage. Ich gewöhne mich schnell an die neuen Finger. Eine Möwe landet auf dem Dach. Ich höre ihre Füße auf dem Metall schaben. Sie bleibt nicht stehen, läuft hin und her, hin und her, hin und her. Es braucht eine Weile, bis ich zurück am Tisch bin und wieder Platz nehme. Kai hat seine Mahlzeit beendet, nimmt die Tasse, schlürft den heißen Tee. Dabei beugt er den Rücken und ich denke an einen alten Mann.
„Wir könnten einen Spaziergang machen“, schlage ich vor.
Er trägt das Geschirr zur Spüle und beginnt es abzuwaschen. Zum Möwengeschrei, es klingt nun wie Gelächter, kommt das Rauschen des Wassers hinzu, das Klappern des Porzellans am Keramikbecken. Geräuschlos stehe ich auf und stelle mich an Kais Seite, nehme das Handtuch vom Haken und trockne die Schalen. Bevor ich die nächste nasse Schale greife, berühre ich seinen Unterarm; er hat die Hemdsärmel hochgekrempelt. Die Haut ist glatt und fest, gebräunt und wenig behaart. Wie in Zeitlupe streiche ich sacht vom Handgelenk zum Ellenbogen. Die feinen Muskeln und Sehnen haben sich durch das jahrelange Üben am Cello ausgebildet. Dann küsse ich ohne Mühe seinen Hals an der Stelle über dem Hemdkragen. Wir sind gleich groß. Es gab eine Zeit, damals in der Schule, da war ich größer als Kai. Zu dieser Zeit küssten wir uns nicht.
Als die Tür ins Schloss fällt, trockne ich gerade die letzte Schale.

Ich erinnere mich nicht genau, wie viel Zeit vergangen ist, seit wir hierher gezogen sind. Es erschien vernünftig, dass wir gemeinsam unser Dorf verließen, damit Kai im Großen Konzerthaus spielen konnte und nicht länger zu verschiedenen Veranstaltungen oder auf Tourneen. Er müsste nicht viel reisen, wenn er fest angestellt wäre, sagte er. Ich würde überall eine Anstellung finden. Oder zu Hause arbeiten. Viel Zeit nimmt die Übersetzungsarbeit nicht in Anspruch, und ich bin immer schnell fertig. Vielleicht bekommen wir ja doch noch ein Kind, um das ich mich kümmern könnte. Den Rest des Tages halte ich die zwei Zimmer sauber, die wir bezogen haben, erledige Einkäufe und bummle durch die Stadt, gehe zum Strand oder nur im Park spazieren. Heute setze ich mich mit einem Buch auf die Bank, auf der bereits eine alte Frau sitzt. Es gehen eine Menge Frauen umher. So stelle ich mir Witwen vor. Wie von etwas beraubt schleichen sie mit hängenden Köpfen über den staubigen Weg und wissen nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen, als sie verstreichen zu lassen. Ich empfinde Mitleid, deswegen bin ich besonders freundlich zu ihnen.
„Sie lesen ein interessantes Buch“, bemerkt sie auch gleich und beugt den Kopf hinunter, um den Umschlag besser sehen zu können. Ich halte ihn vor ihr Gesicht, damit sie sich nicht mühen muss.
„Ja. Stimmt. Kennen Sie es?“
„Nein, ich habe nie davon gehört. Ist das von einem Ausländer?“
"Er ist schon lange tot.“
„Ich lese nicht viel. Die meisten Geschichten sind verrückt. Ich verstehe sie nicht. Wovon handelt denn diese?“
„Von einem Mann, der nicht bleibt, wer er ist, der sich verwandelt und am Ende erkennt man ihn gar nicht wieder, so scheußlich sieht er aus.“
„Ach, nein. Wie fürchterlich!“, ruft sie, dreht sich von mir weg und zieht eine Grimasse. „Sehen Sie. Das meine ich. Da können Dinge passieren, die mich in Angst und Schrecken versetzen.“ Sie schüttelt sich.
„Aber auch im wahren Leben passieren solche Dinge, oder etwa nicht?.“
„Na, nun muss ich aber los“, beeilt sie sich zu sagen und steht mühsam auf. „Mein Mann wartet sicher schon ungeduldig. Er möchte sein Abendessen pünktlich auf dem Tisch haben. Schönen Abend noch und gute Besserung“, sagt sie freundlich und deutet mit einem Kopfnicken auf meine Beine. Ich stecke mir kleine Hörer in die Ohren und lausche Kais Cellospiel, halte das Buch in meinen Händen auf dem Schoß. Meine Lieblingsstücke hat der Enkel meiner Nachbarin Mina auf einen kleinen Apparat überspielt. Wenn ich Bach lausche, verkleinert sich an manchen Tagen mein Gesichtsfeld für eine Weile, und ich sehe den Weg vor mir wie durch ein winziges Fernrohr. Es ist ganz einfach, damit die Richtung zu halten. Als ich mich von der Bank erhebe und auf den Weg nach Hause mache, kann ich nur winzige Schritte gehen, als wären meine Fußgelenke miteinander verbunden. Kleine Trippelschritte, und ich benötige eine Ewigkeit, bis ich vor meiner Haustür stehe.

„Wo bist du denn nur so lange gewesen. Wir sind doch verabredet“, mault mich die Nachbarin an. „Du weißt doch, dass ich keinen Fernseher habe und heute ist …?“
„Mittwoch.“
„Richtig. Freitag. Und das Finale!“ Ich sehe sehr wohl, dass sie die Augen verdreht, diese verrückte Alte. Ich habe keine Ahnung, wovon sie redet, aber sie liebt es, bei mir fernzusehen. Und solange Kai nicht zurück ist, kann ich ihre Gesellschaft durchaus genießen.
„Warum du immer auf diesem unbequemen alten Stuhl sitzen musst. Komm doch rüber zu mir aufs Sofa“, quengelt sie und richtet sich mit ihrem Kräutertee ein, den sie in einer Thermoskanne mitgebracht hat, bevor sie den Fernseher einschaltet. Ich antworte nicht und sehe zum Fenster hinaus in den Himmel, auf die letzte Häuserreihe, hinauf zu den Möwen. Mich interessiert das Finale nicht.Der Schnabel hindert mich daran, an meiner Teetasse zu nippen. Ich habe gar nicht mitbekommen, wann er mir gewachsen ist. Es dauert eine Weile, bis es mir gelingt, damit den Tee zu trinken. Doch schließlich geht es recht leicht. Als ich Appetit bekomme, ich war ja lange im Park unterwegs, watschle ich an die Küchenzeile.
„Möchtest du auch ein paar Körner“, frage ich meine Nachbarin.
„Körner?“
„Ich habe nichts anderes. Nur ein paar Körner.“
„Nein, danke. Also deine Essgewohnheiten lassen immer mehr zu wünschen übrig“, nörgelt sie. Man kann es ihr einfach nicht recht machen.
„Wie lange wird denn dieses Finale dauern?“, frage ich und nehme wieder am Fenster platz. Nicht weil ich ungeduldig bin, sondern weil ich möchte, dass sie nicht mehr hier ist, wenn Kai nach Hause kommt. Die Alte zischt und winkt mit einer abfälligen Handbewegung. Ich rutsche auf meinem Stuhl herum und beschließe, mich hinzustellen, weil mir das Sitzen mit der Zeit doch recht unangenehm ist. Etwas drückt im Rücken und als ich über meine Schulter sehe und einen Blick zwischen die Schulterblätter wage, entdecke ich zwei prächtig-weiße Flügel. Ich bin erleichtert, dass es einen guten Grund für mein Unbehagen gibt. Aus purer Freude flattere ich ein bisschen mit ihnen herum.
„Meine Güte, mach doch bloß mal das Fenster zu. Wenn du die Biester weiterhin fütterst, werden sie eines Tages noch hereinspazieren und selbst die Schranktür öffnen, um sich zu bedienen. Sieh! Da sitzt schon wieder eins auf dem Fensterbrett.“ Ksch – Ksch – Ksch, macht die Alte unwirsch und fuchtelt mit ihren dürren Ärmchen herum, wobei ihre Augen keine Sekunde vom Bildschirm ablassen und die Asche ihrer Zigarette auf den Boden fällt. Dass ich mich über ihr Verhalten ärgere, sage ich nicht, wohl aber bitte ich sie zu gehen, weil ich vermute, jeden Moment käme Kai zur Tür herein. Der würde es gar nicht gutheißen, wenn jemand in seiner Wohnung rauchte. Kaum habe ich den Satz beendet, schaut die Alte mich entgeistert an. Mit aufgerissenen Augen und ausgestreckten Armen kommt sie langsam auf mich zu – wie ein Gespenst – und ich gehe rückwärts, wobei meine Krallen auf dem Holzboden kratzige Geräusche machen. In ihrem faltigen Gesicht bemerke ich einen Ausdruck von Mitleid und Fassungslosigkeit.
„Bleib stehen!“, fordere ich sie auf. „Komm nicht näher, du … dumme, alte Frau.“ Ich stoße dabei mit dem Flügel einen Schachtel von der Konsole und Briefe fallen wie trockenes Laub auf den Boden. Es ist zartes und transparentes Papier aus Übersee. Hellblau und ohne Kuvert.
„Wie kommst du denn um Himmelswillen drauf, dass Kai zur Tür reinkommt?“
Die Alte nimmt einen Brief nach dem anderen auf, wirft einen flüchtigen Blick darauf und lässt mich nicht aus den Augen.
„Bitte, lass sie liegen“, rufe ich und meine Stimme klingt laut und schrill. Wie eine Warnung.
Die Alte bleibt regungslos stehen. Ich reiße meinen Schnabel weit auf, weil ich ihr sagen möchte, dass sie endlich gehen soll, aber es kommt nur Geschrei heraus. Es fällt mir schwer, die Balance zu finden, denn ich bin nicht an das Flügelschlagen gewöhnt. Ich drohe vornüberzufallen und als ich mich überhaupt nicht mehr aufrechthalten kann, macht die Alte einen Satz auf mich zu und wir fallen uns in die Arme und gemeinsam zu Boden. Sie umklammert mich und drückt meine Flügel nieder, dabei sagt sie immer dasselbe. Es hört sich an wie: „Es ist alles gut, mein altes Mädchen, alles gut. Ich bin ja da. Sch – sch – sch.“ Sie wiegt mich in ihren Armen und ich weine wie ein kleines Kind und weine und weine und kann nicht aufhören.

Bach erfüllt den Raum, kaum hörbar, mehr wie ein musikalisches Lüftchen. Ich erkenne Kais Cellospiel im Schlaf. Die Fenster sind geschlossen. Im Zwielicht kann ich nicht ausmachen, ob es Tag oder Nacht wird. Mina sitzt an meiner Seite, das Kinn neigt sich zur Brust und ihre Hände liegen auf dem Schoß. Sie atmet gleichmäßig.
„Da bist du ja wieder“, ruft sie unvermittelt, als wäre ich auf einer langen Reise gewesen und sie freue sich, mich endlich wiederzusehen.
„Wenn du nicht langsam mal zu dir gekommen wärst, hätte ich den Alten gerufen. Da kannst du aber drauf wetten“, sagt sie und klingt sehr vergnügt, „und ehrlich gesagt, hab ich ihn bereits angerufen. Er wollte auch sofort kommen, aber als ich ihm von den Möwen erzählte, die hier bei dir geradezu wie Freunde ein- und ausgehen und mächtig herumkrakeelen, da meinte er, es wäre noch viel Zeit. Ich soll dich in Ruhe lassen und du sollst die Vergangenheit ausatmen, die Gegenwart ein und dann … na, noch irgendwas von Zukunft. Du weißt ja, wie der immer so redet. Ich bin jedenfalls froh, dass es mit dir noch nicht zu Ende gegangen ist.“
„Hab ich denn geschlafen?“ Meine Stimme ist so leise, dass ich mich selbst kaum hören kann.
Sie reicht mir ein Glas Tee, das ich gierig austrinke.
„Hat der Alte für dich angemischt – meinen Enkel hab ich dafür hin- und hergescheucht. Das Finale war am Freitag und ich weiß nicht mal … Aber Schlaf würde ich das nicht nennen. Ich habe dich sogar einmal suchen müssen.“ Sie schaut zum Fenster.
„Sitzt du seitdem hier?“ Ich richte mich auf und strecke erst den Rücken, dann vorsichtig die Arme und schließlich winkle ich die Beine an. Mina richtet ein Kissen und drückt mich hinein, setzt sich auf die Bettkante. Wir sehen uns eine Zeitlang nur an, so als sähen wir uns zum ersten Mal.
„Ich wusste ja nicht, wie einsam du bist“, und während sie flüstert, nimmt sie meine Hände in ihre. Vier Hände, die nun ineinander liegen; schwer zu sagen, welche Hand zu wem gehört. Sie sind allesamt knochig und die Haut dünn und übersät von Flecken. Mina rinnen Tränen übers Gesicht, die sie mit einem unserer Handrücken trocknet, weil sie mich nicht loslässt. Darüber muss ich lachen und sie blickt erschrocken zu mir auf.
„Du wirst mir doch wohl nicht verrückt werden?“, poltert sie mit geweiteten Augen. Eine Möwe fliegt lautlos am Fenster vorbei und ich zupfe mir ein paar Federn von den Fingern.

 
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Hey Kanji,

schöne Geschichte. Sie hat mich berührt, vor allem das Ende, ich war überrascht und gleich darauf setzte so eine Art emotionales Verständnis ein - Mitgefühl. Wenige Texte schaffen das bei mir.
Gleichzeitig zeigst du feinfühlig das Dilemma vieler Frauen (vergangener Zeiten) gekonnt auf, deren Lebensinhalt und Kern der Ehemann war, dem man sein Leben, seine Karriere und Co. untergeordnet hat. Ein Kind könnte ja Sinn stiften, wenn der Mann nicht zu Hause ist, und sich der Tag so lange hinzieht. Wehe, wenn beides verloren oder nicht erfüllbar.
Diese Hierarchie auch. Wie so 'ne krasse Identifikation mit einem Unternehmen, für das man arbeitet - lebt, um zu arbeiten -, bis die Rente kommt und man gar nicht mehr weiß, für was man nun eigentlich weitermacht. Das Sinnstiftende fehlt einfach. Erinnert mich auch an das begründete Klischee, japanischer Betriebszugehörigkeit ;). Zumindest assoziere ich das alles mit deinem Text.

Ich hab' die erste Version nicht gelesen, die vielen Kommentare nur überflogen, kann also sein, dass so manches, was mir aufgefallen ist, bereits angemerkt wurde.

Wir essen immer die Nudeln zuerst aus der Suppe.
Ich glaube, es wurde schon viel am ersten Satz bekrittelt und geschraubt (?). Ich hab' (auch) so meine Probleme mit ihm, frage mich irgendwie automatisch: (zuerst aus der Suppe) und dann?
Ich würde den ganz streichen, und vielleicht irgendwie gleich so anfangen (wobei ich jetzt auch kein Freund vom Wort "Schlürfen" bin): Bis auf das Schlürfen der Suppe – Kais Leibspeise – höre ich nur Möwengeschrei. Zumindest hättest du gleich Kai namentlich eingeführt, er ist ja auch unheimlich prominent für deine Prota, und diese Nudelsache brauchst du ja nicht unbedingt, meine ich. Klar, gemeinsame Gewohnheiten, aber jo, würdest du wirklich so viel verlieren, wenn du das streichen würdest?

... höre ich nur Möwengeschrei. Schrille, laute Töne. Ich sehe die Vögel waghalsige Manöver fliegen, höre sie sich ihre Warnsignale zurufen, als segelten sie über stürmischer See.
Sehe keinen Mehrwert in der Wiederholung.
Vorschlag: ... höre ich nur Möwengeschrei. Schrille, laute Töne. Warnsignale, als segelten sie über stürmische See.

Wundern würde es mich nicht, wenn sie nach mir greifen, mich fortbringen würden, so ungestüm wie sie auf geöffnete Fenster zusteuern.
Unschöne würde-würde-Konstruktion.
Vielleicht: Wundern würde es mich nicht, wenn sie nach mir griffen, um mich fortzutragen, so ungestüm wie sie auf geöffnete Fenster zusteuern.

Stünden da hinten keine Häuser, könnten wir auf das Meer sehen; so bleibt uns nur die Gewissheit, dass es sich hinter der letzten Reihe befindet.
Brauchst du "da hinten"? "Befindet" ist doch ziemlich unschön.
Vorschlag: Stünden keine Häuser da, könnten wir auf das Meer sehen; so bleibt uns nur die Gewissheit, dass es sich hinter der letzten Reihe bis zum Horizont erstreckt.

Und wenn man darüber fliegen würde und immer weiter und weiter, käme man irgendwann auf einen anderen Kontinent.
Zu einem Kontinent?
Ach, Kanji, du liebst diese Konjunktive gerade zu Beginn, nicht? Ich finde das recht schwierig. Gibt dem ganzen was Vages, Verträumtes, ja, dann könntest du hier aber auch konkreter werden.
Vielleicht irgendwie so: Ich möchte (will) darüber fliegen, weiter und weiter, (bis) zu einem fernen Kontinent.

... sobald sich der Wind darin verirrt oder ein Vogel. Die Früchte sind bereits rot und die Zweige mit dunkelgrünem Laub geschmückt. Eine besonders übermütige Möwe versucht darin zu landen.
Letzteres kann weg.

Es war mir unmöglich, das Besteck noch eine Sekunde länger festzuhalten.
Es war nicht möglich, das Besteck (noch) länger festzuhalten?

... und ich versuche[K] etwas wie ein Erkennen auszumachen, irgendeine Regung, die mir bedeutet, dass ich zu ihm gehöre.
Versuchen, ein Erkennen auszumachen? Hm.
Ich bin mir auch nicht ganz sicher, was mir der Satz sagen soll. Mal zwei Vorschläge:
... und ich versuche, (irgend)eine Regung zu erkennen (auszumachen, zu sehen, zu erhaschen), die ausdrückt, dass ich zu ihm gehöre.
... und ich suche in seinem Gesicht nach einer Regung, die mir zeigt, dass er mich erkennt und ich zu ihm gehöre.

Entsetzt schreit eine Möwe und landet auf dem Dach.
Finde ich too much, ein wenig reißerisch, ist mir langsam auch zu viel Geschei für den ruhigen Text, die schreien ja kurz darauf schon wieder (mit dem Gelächter dann). "Eine Möwe landet auf dem Dach" würde mir reichen.

Er geht mit dem geleerten Geschirr zur Spüle und beginnt es abzuwaschen.
Er bringt (trägt) das Geschirr zur Spüle und wäscht es ab.

... nehme das Handtuch vom Haken und trockne die Schalen. Bevor ich das nächste nasse Geschirr greife, berühre ich seinen Unterarm
IdR meint man mit Geschirr doch die Gesamtheit der Gefäße, nicht?
... nehme das Handtuch vom Haken und trockne die Schalen. Bevor ich die nächste (zur nächsten) greife, berühre ich seinen Unterarm ...

„Aber auch im wahren Leben passieren solche Dinge, oder etwa nicht?“, bemerke ich.
„Na, nun muss ich aber los“, beeilt sie sich zu sagen und steht mühsam auf.
Mal exemplarisch, ich will's auch nur mal anmerken, ich bin kein Freund von so was, würde im Zweifelsfall immer die klare Inquit-Formel nutzen. "Bemerke ich" könnte auch ganz raus - wird auch so klar, wer das sagt.

... es recht leicht. Als ich etwas Appetit bekomme, ich war ja lange im Park unterwegs, watschle ich an die Küchenzeile.
Eine Relativierung reicht mir eigentlich.

„Nein, danke. Also deine Essgewohnheiten lassen immer mehr zu wünschen übrig“, nörgelt sie wieder. Man kann es ihr einfach nicht recht machen.
„Wie lange wird denn dieses Finale dauern?“, frage ich und nehme wieder am Fenster platz.
Vermeidbar.

Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her und beschließe, mich hinzustellen, weil mir das Sitzen mit der Zeit doch recht unangenehm ist.
Vielleicht: Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her, erhebe mich (kämpfe, rappele, raffe mich hoch), weil mir das Sitzen mit der Zeit doch recht unangenehm ist.

Sieh! Da sitzt (ja) schon wieder eins auf dem Fensterbrett.
Scheint mir in der wR unglaubwürdig. Würde ich streichen.

Der würde es gar nicht gutheißen, wenn in seiner Wohnung geraucht würde.
Der mag es nicht, wenn in der Wohnung geraucht wird?

Die Alte bleibt tatsächlich regungslos stehen.
Zumindest kritisch überdenkenswert.

Sie wiegt mich in ihren Armen und ich weine wie ein kleines Kind und weine und weine und kann nicht aufhören.
Auch das.

Du weißt ja[K] wie der immer so redet. – Ich bin jedenfalls froh, dass es mit dir noch nicht zu Ende gegangen ist.“
Komma, Punkt, kein Gedankenstrich.

Sie reicht mir ein Glas Tee, das ich gierig trinke.
en

Ich richte mich auf und strecke erst meinen Rücken, dann vorsichtig meine Arme und schließlich winkle ich die Beine an.
Warum keine Artikel?

Vier Hände, die nun ineinander liegen; schwer zu sagen, welche zu wem gehört.
Hände, die nun ineinander liegen; schwer zu sagen, welche zu wem gehören?

Eine Möwe fliegt lautlos am Fenster vorbei und ich zupfe mir ein paar Federn von der Händen.
Schon 'ne Menge Hände. Wie wär's mit Unterarm oder so?


Alles nur Kleinkram, Kanji. Die Geschichte hat mir sehr gut gefallen.


Vielen Dank fürs Hochladen!


hell

 

Hej @hell,

es hat mich wiederum berührt, dass ich dich mit meiner Vogelfrau erreichen konnte, wobei die Sicht auf das Leben der Generationen mir schon ein Anliegen ist und bleibt, denn so ganz ist das Dilemma, wie du es nennst, noch nicht mit der Generation, von der hier die Rede sein soll, verschwunden. Ich spiele mit dem Gedanken, es in kommenden Geschichten anzugleichen. Das Frauendilemma hat sich meiner Meinung nach sogar noch mit dieser Generation und der davor potenziert. Aber das gehört nicht hierher.
Du hast vollkommen recht, es ist schwierig, einen Lebensinhalt zu finden, der sich nicht an anderen orientiert, sei es einen Partner, Kinder, Familie oder einer Arbeitsstelle. Etwas verändert sich im Leben immerzu und somit auch der Platz im Leben. Wenn dich dieser Text dazu veranlasst hat, darüber kurz nachzudenken, bin ich … schon glücklich.

Ja, der erste Satz. Ich mag es nicht so gerne erklären, weil es immer nach einer Ausrede klingt oder nach Bockigkeit oder Uneinsichtigkeit. Aber weil du dir Mühe gemacht hast, mir aufzuzeigen, was sich seltsam für dich liest und immer Soforthilfe leistest, will ich dir kurz erklären, wie es kam, dass ich scheinbar doch etwas mit diesem Satz verlieren würde. Dennoch ist es natürlich überdenkenswert, wenn er einige Leser nervt oder irritiert.
Ich glaube, alles begann in meinem Kopf mit diesem Satz. Wirklich. Denn wenn ich eine Nudelsuppe esse, also in einem asiatischen Restaurant mit Stäbchen, dann esse ich immer erst die Nudeln aus der Suppe und dann die restlichen Einlagen. Und ja, die Brühe wird dann geschlürft. Und oft höre ich alte Paare von uns und wir reden. Wir mögen keine Chilis oder wir hören gerne Radio. Und darum herum entspann sich alles andere.

Sehe keinen Mehrwert in der Wiederholung.
Vorschlag: ... höre ich nur Möwengeschrei. Schrille, laute Töne. Warnsignale, als segelten sie über stürmische See.

Um das doppelte Möwengeschrei kümmere ich. Aber Innerlandmenschen haben keine Vorstellung davon davon, wie es ist an einer Küste mit den Viechern zu leben. Es gibt Tage in aller Früh, da machen die so einen Rabatz, dass ich schon dachte, die wollen die Stadt übernehmen. Ein unfassbar kommunikatives Vogelvolk in absurder Lautstärke, zumindest hier in der Stadt absurd.

Unschöne würde-würde-Konstruktion.
Vielleicht: Wundern würde es mich nicht, wenn sie nach mir griffen, um mich fortzutragen, so ungestüm wie sie auf geöffnete Fenster zusteuern.

Auch um Konjunktivdopplungen kümmere ich mich gern.

Brauchst du "da hinten"? "Befindet" ist doch ziemlich unschön.
Vorschlag: Stünden keine Häuser da, könnten wir auf das Meer sehen; so bleibt uns nur die Gewissheit, dass es sich hinter der letzten Reihe bis zum Horizont erstreckt.

Dieser Häuserreihe-Meersatz hat mich schon Nerven gekostet und offenbar ist er immer noch nicht gut genug. Ich werde mich wieder mit ihm befassen.

Zu einem Kontinent?
Ach, Kanji, du liebst diese Konjunktive gerade zu Beginn, nicht? Ich finde das recht schwierig. Gibt dem ganzen was Vages, Verträumtes, ja, dann könntest du hier aber auch konkreter werden.
Vielleicht irgendwie so: Ich möchte (will) darüber fliegen, weiter und weiter, (bis) zu einem fernen Kontinent.

Wenn ich an der Stelle konkreter werde, um den Konjunktiv zu schwächen, dann geht mir das etwas zu weit. Ich möchte die Vogelfrau nicht denken lassen, sie würde fliegen wollen. Das passiert ihr bloß und ich bin nicht mal sicher, ob sie es sich tatsächlich wünscht.

Du hast einen geschärften Blick für Dopplungen. Und das, wo ich den Text ja bereits auswendig kann und locker alle überlesen habe. Ich werde alle streichen oder ersetzen.

Es war nicht möglich, das Besteck (noch) länger festzuhalten?
Versuchen, ein Erkennen auszumachen? Hm.
Ich bin mir auch nicht ganz sicher, was mir der Satz sagen soll.
Er bringt (trägt) das Geschirr zur Spüle und wäscht es ab.

Wenn du an manchen Stellen, in denen die Vogelfrau den inneren Monolog führt, die Sprache straffst und glättest, kann ich das verstehen. Aber in diesem Fall möchte ich damit ausdrücken, wie sehr sie ihre Arbeit als Übersetzerin (ich dachte sogar, sie übersetzt deutsche Texte) in ihre Alltagssprache überträgt, sie gleitet durch alle Welten und Zeiten. Na, ich bin nicht sicher, ob das verständlich ist, aber ich möchte es dabei belassen. ;)
Das Erkennen bezog sich auf seine Abwesenheit. Er schaut durch sie hindurch. Er existiert ja nicht. So in etwa.

IdR meint man mit Geschirr doch die Gesamtheit der Gefäße, nicht?

Du hast recht mit dem Geschirr. Das ist ein Sammelbegriff. Ich geh da noch mal ran.

Mal exemplarisch, ich will's auch nur mal anmerken, ich bin kein Freund von so was, würde im Zweifelsfall immer die klare Inquit-Formel nutzen.

Deine Vorliebe für einfach Ansagen und Formen, z.B. der Inquit-, teile ich, aber wie gesagt in diesem Fall, wollte ich sie etwas schwebend halten. Ich bilde mir ein, allzu klare Ansagen in und um die Vogelfrau würde sie herausreißen.

Scheint mir in der wR unglaubwürdig. Würde ich streichen.

Du meinst die wR der Nachbarin. Ich höre auch, was du meinst. Nur :shy: ich möchte das gerne etwas verfremdet. Zum einen wegen dieser Welt zwischen den Welten, zum anderen weil es alte Frauen sind, die keiner Sprache zugeordnet werden sollen. Puh. In meinem Kopf klang es weniger seltsam. :confused:

Der mag es nicht, wenn in der Wohnung geraucht wird?

Das ist echt ein Satz, der in der Form nicht zur Sprache der Vogelfrau passt, also von mir aus. Hmh, du hörst es wohl nicht. @Friedrichard spricht den Satz auch an. Und ich hadere nicht schlecht mit ihm und mir (also mit dem Satz jetzt), denn ich will ihre Sprache beibehalten. Sie denkt in Literatur, sie lebt mit ihr und nahezu ausschließlich und eben in der Vergangenheit und in ihrer bizarren Welt n stuff. Hach, schwer zu sagen.

Die Alte bleibt tatsächlich regungslos stehen.

Zumindest kritisch überdenkenswert.

Absolut überdenkenswert, lieber hell.

Sie wiegt mich in ihren Armen und ich weine wie ein kleines Kind und weine und weine und kann nicht aufhören.

Auch das.

Aber spürt man so nicht besser ihre Verzweiflung und ihre Erleichterung auch? :hmm:

Komma, Punkt, kein Gedankenstrich.

Ey-ey, Käptn.

Sie reicht mir ein Glas Tee, das ich gierig trinke.

Ich lass sie das jetzt austrinken.

Ich richte mich auf und strecke erst meinen Rücken, dann vorsichtig meine Arme und schließlich winkle ich die Beine an.

Warum keine Artikel?

Weiß ich nicht mehr, mach ich jetzt aber so.

Hände, die nun ineinander liegen; schwer zu sagen, welche zu wem gehören?

Ich glaube, da scheiden sich die Wortgeister. Ich guck noch mal.

Eine Möwe fliegt lautlos am Fenster vorbei und ich zupfe mir ein paar Federn von der Händen.

Schon 'ne Menge Hände. Wie wär's mit Unterarm oder so?

Wohl wahr. Unterarm tut’s auch.

Und mir hat dein Kommentar gefallen.

Lieber Gruß, Kanji

 
Zuletzt bearbeitet:

Hola @Kanji,

ich hatte, ehrlich gesagt, nicht mehr an ein Wiedersehen mit Mai gedacht. Das war doch eine Deiner ersten Geschichten, und die gefällt mir heute noch durch ihre sanfte, stille Art – und weil ich auf Japanisches eh abfahre. Dass Mai jetzt Kai heißt, stört mich nicht.
Ich bin reisefertig.

Wir essen immer die Nudeln zuerst aus der Suppe. Bis auf unser Schlürfen ...
Wir sind in Japan, eindeutig. Großmutter könnte Ingwer ebenso in Tirol hobeln, auch nicht wegen des Suppenrezepts – das könnte man überall in der Welt kochen – sondern des Schlürfens wegen. Außerhalb Japans ist das verpönt.

Dann kommt der Kirschbaum:

... sobald sich der Wind darin verirrt oder ein Vogel.
Ein Vogel, eine Möwe „verirrt“ sich im Kirschbaum? Navigation ausgefallen? Und dann will die Möwe Kirschen essen? Ich weiß nicht so recht.

Kleiner Lacher am Rande:

Sonntags möchte Kai ein Ei dazu. Das lege ich am Abend
zuvor in Sojasauce ein.
Das passiert nur bei langsamen Lesen.

Aber es wird ernst! Japan ist wohl perdu, das hab ich falsch gedeutet. Mit Staunen lese ich, was ich mir nicht erklären kann:

Beim Aufstehen erreichen meine Füße den Boden nicht ...
Wir sind gleich groß.
Es gab eine Zeit, damals in der Schule, da war ich größer als Kai.

Und dann verliere ich so peu à peu den Überblick.

Er beeilt sich, als müsse er noch einmal fort. Zu einer Verabredung, zur Arbeit oder einfach weg von hier.
Sie leben aneinander vorbei, sie hat keine Ahnung, was er so treibt – also reden sie nicht viel: ‚Nur das Nötigste’.
Mit dunklen Rändern unter den Augen blickt Kai auf ...
Das muss etwas bedeuten. Aber was? Und sein Rücken erinnert sie an einen alten Mann?

Er beeilt sich
, als müsse er noch einmal fort.
Er schaut erneut auf seinen Teller und isst bedächtig die Nudeln.

Wie passt das zusammen?

Ich gewöhne mich schnell an die neuen Finger.
Sie hat plötzlich ‚neue Finger’?

Entsetzt schreit eine Möwe auf und landet auf dem Dach.
Möwen schreien, aber warum ‚entsetzt’? Was ist die Ursache dafür?

„Wir könnten einen Spaziergang machen“, schlage ich vor.
Als die Tür ins Schloss fällt, trockne ich gerade die letzte Schale.
Gut gemacht.

Vielleicht bekommen wir ja doch noch ein Kind, um das ich mich kümmern könnte.
... bummle durch die Stadt, gehe zum Strand oder nur im Park spazieren.
Viel weiß sie nicht mit ihrem Leben anzustellen. Schlimmstenfalls findet auch Kai sie zum Gähnen (Aber Kaffee Nudelsuppe kochen kann sie gut:hmm:).

Es gehen eine Menge Frauen umher. So stelle ich mir Witwen vor. Wie von etwas beraubt schleichen sie mit hängenden Köpfen über den staubigen Weg und wissen nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen, als sie verstreichen zu lassen. Ich empfinde Mitleid, deswegen bin ich besonders freundlich zu ihnen.
Schön beschrieben. Sie empfindet Mitleid; eine Parallele zu ihrer Situation sieht sie nicht?

„Sie lesen ein interessantes Buch“, bemerkt sie auch gleich und beugt den Kopf hinunter, um den Umschlag besser sehen zu können.
Wieso kann sie das sagen, wenn sie erst danach den Umschlag sieht? Immerhin: Das Buch handelt von der Verwandlung eines Menschen.
... gute Besserung“, sagt sie freundlich und deutet mit einem Kopfnicken auf meine Beine.
Nachtigall ick hör dir trapsen...

Ja, genau so kommt’s. Und hiermit fangen meine Probleme mit dem Text so richtig an. Beispiel:

Kleine Trippelschritte, und ich benötige eine Ewigkeit, bis ich vor meiner Haustür stehe.
„Wo bist du denn nur so lange gewesen. Wir sind doch verabredet“, mault mich die Nachbarin an
...
... die überhaupt nicht stutzt, wie sie da angewackelt kommt im Trippelschritt. Nicht der Rede, geschweige der Überraschung wert – vielleicht „Eh, was ist los mit dir?" – oder so.
Auch die folgenden Veränderungen werden von den Mitmenschen nicht wahrgenommen, oder gar kommentiert:
Der Schnabel hindert mich daran, ...

... mit dem Flügel einen Schachtel von der Konsole und Briefe fallen wie trockenes Laub auf den Boden. Es ist zartes und transparentes Papier aus Übersee. Hellblau und ohne Kuvert.
„Wie kommst du denn um Himmelswillen drauf, dass Kai zur Tür reinkommt?“
Die Alte nimmt einen Brief nach dem anderen ...
Pardon – ein Brief besteht aus Kuvert und Briefpapier, aber was soll zartes, transparentes Papier aus Übersee im Text bewirken – wofür steht das?
Und dann sagt, völlig übergangslos – die Alte den fetten Satz. Ja, die Prota hat das gedacht oder gesagt, allerdings zehn Zeilen weiter oben.
Da fehlt mir was, das hackt. Und hier wird’s mir ziemlich absurd, als ob der Autor rauswollte aus dem eingefädelten Dilemma:
... als ich mich überhaupt nicht mehr aufrechthalten kann, macht die Alte einen Satz auf mich zu und wir fallen uns in die Arme und gemeinsam zu Boden. Sie umklammert mich und drückt meine Flügel nieder, ...
Dann landen sie auf dem Boden. Puh, das tut weh!

„Da bist du ja wieder“, ruft sie unvermittelt.

Ach! April, April – alles gar nicht wahr! Ich war schon darauf vorbereitet, die Prota durchs Fenster davonfliegen zu sehen. Bei ‚Seltsam’ eigentlich kein Problem.

Aber Schlaf ... nee, so würde ich das nicht nennen. Ich habe dich sogar einmal suchen müssen.“ Sie schaut zum Fenster.
Heh, also ist sie schon geflogen, so probehalber? Interessant.

Letzte Nörgelei für heute:

... hätte ich den Alten gerufen. Da kannst du aber drauf wetten“, ... ... „Und ehrlich gesagt, hab ich ihn bereits angerufen.

Sie hätte ihn angerufen, sie hat ihn bereits angerufen. Wer ist das – der Alte? Von ‚die Alte’ ist ja schon die Rede;). Die Mina ist durchaus bei Sinnen, ich glaube nicht, dass sie so einen Stuss redet: An den Konjunktiv zur Unterstützung ‚da kannste drauf wetten’, aber dann Indikativ: ‚ich hab ihn ja schon angerufen’. Das läuft (noch) nicht glatt.

Das Ende hat mir sehr gefallen:

... nimmt sie meine Hände in ihre. Vier Hände, die nun ineinander liegen; schwer zu sagen, welche Hand zu wem gehört. Sie sind allesamt knochig und die Haut dünn und übersät von Flecken. Mina rinnen Tränen übers Gesicht, die sie mit einem unserer Handrücken trocknet, weil sie mich nicht loslässt. Darüber muss ich lachen und sie blickt erschrocken zu mir auf.
„Du wirst mir doch wohl nicht verrückt werden?“, poltert sie mit geweiteten Augen.

Viel Herz, wirklich große Klasse! Und doch, wie ein Kuckuck ruft der letzte Satz schon wieder ‚April, April!’:
... ich zupfe mir ein paar Federn von der Händen.
Das Rätsel ist gelöst, dachte ich. Aber sie zupft echte Federn von echten Händen? Wie viele doppelte Böden hat diese Geschichte eigentlich?


Liebe Kanji, bestimmt kennst Du Restaurants, in denen man irre aufregend essen kann. Es muss einem nicht alles gefallen oder schmecken, aber man ist hellwach und wird einen solchen Abend bzw. Text so schnell nicht vergessen.

Mit Köchen solcher Restaurants bzw. Autoren solcher Texte das Angerichtete zu besprechen ist leider sinnlos und nur Grund für eine weitere Flasche Roten. Der tag ‚Seltsam’ ist so universal wie ‚Philosophisches’ – entweder man liest es und genießt Cuisine Sauvage oder man lässt es.

Die Idee Deiner Geschichte finde ich gut, nur überkam mich ständig beim Lesen so eine Ahnung, als ob ich einen Entwurf vor mir hätte, statt eines fertigen Textes. Mag sein, dass durch Textänderungen einiges aus dem Gleichgewicht kam – ich hab die Geschichte nach ihrer Einstellung gelesen, wie auch den Text von @Chai, und in beiden Fällen dachte ich mir, dass wohl noch einiges geändert würde und dass es dann immer noch Zeit sei, ein bisschen Feedback zu schicken.

Nun hoffe ich, dass Du meine Kritteleien nicht allzu ernst nimmst – und das wäre auch das Letzte, was ich mir wünschte – obwoh ich schon ein bisschen kitzeln wollte, weil ich irgendwo gelesen habe, dass pro Monat eine KG ...
Aber wozu?


Genug der Kommentiererei. Wir wollen alle gelobt und verstanden werden, deswegen sind wir im Forum. Fast muss man es nicht mehr sagen, dass alles persönliche Ansichten und die deshalb unmaßgeblich für den weiteren Lauf der Welt sind.

Nur haben wir noch diese kleine Welt im Brustkasten, die ist sehr sensibel. Hab das im Forum gelernt, früher hab ich ohne Rücksicht auf Verluste drauflos kommentiert. Jetzt bin ich handzahm und, liebe Kanji, nicht auf Stänkertour. Kam nur mit dem Text nicht so richtig klar, denke aber, dass der nach laaangsamen Umbau sehr sehr schön sein könnte. Doch solltest Du ihn so lassen, wär’s auch gut – ich gehöre auch zu denjenigen, die gehabte Lektionen lieber in neuen Texten verarbeiten als hin- und herzuprobieren und dabei einen dicken Hals bekommen.

Hier noch die letzten Korinthen:

Da sitzt schon wieder eins auf dem Fensterbrett.“ Ksch – Ksch – Ksch, ...
... wobei ihre Augen keine Sekunde vom Bildschirm ablassen
Sie sieht das Vögelchen aufm Fensterbrett, ohne ihre Augen ... ?

... nehme wieder am Fenster platz.

Genug geschwätzt, hab selten so viel Zeit in einen gottverdammten Komm gesteckt wie in diesen. Verhüte der Himmel, dass ich je wieder ‚Seltsam’ oder ‚Philosophisches’ anklicke!
Eines muss noch gesagt werden: Gut geschrieben (wie immer) und gern gelesen!

Beste Grüße, meine Liebe!

José

 

Hej @felixreiner,

hab dich bisher direkt vermisst unter meinem Text, er erschien mir nahezu unvollständig. ;)

zuerst die Nudeln aus der Suppe essen - das würden, nehme ich an, auch Möwen tun, obwohl ihnen die im dunkelgrünen Laub rot leuchtenden Kirschen lieber sind.

Da beginnst du aber offensiv - ohne es zu ahnen - denn dieser erste Satz ist recht umstritten. @josefelipe kam auch gut klar mit ihm und so lass ich Zeit vergehen, denn eine Strichliste tut’s in dem Fall nicht - die Mehrheit braucht die Essweise der Nudeln nicht.

Thema bereits im ersten Absatz leitmotivisch anklingen zu lassen

Wird möglicherweise zu ner Marotte - aber ein Thema hakt sich fest und aus allen Ritzen kriecht es dann auf mich zu. (Klingt jetzt ekliger, als es ist)

Dass du das ewige Thema, die Stellung der Geschlechter, priorierst, ist mir fast ein bisschen unangenehm, aber es muss ja auch nicht besprochen werden - ist ja darin gesagt. :shy: Noch fehlt mir ein anderer Zugang (Mut), das Thema anders anzugehen, als surreal oder mit latentem Humor oder Melancholie. Möglich, dass sich das ändert, wenn ich weiterhin aktiv bleiben kann und so herrliche Resonanz, Antrieb und Schranken erhalte.

Dir danke ich herzlich für deine Stellungnahme und freundlicher Gruß, Kanji

Lieber @josefelipe ,

ganz ehrlich, ich hab ich vermisst, obwohl das eitel klingt, denn du bist ja aktiv und ich finde dich jederzeit in deinen eigenen Texten. :shy:
Und obwohl ich auch nicht genau weiß, wie ich auf deinen Kommentar reagieren soll, ist es nur respektvoll und recht und ... billig :hmm:, dass ich Zeit aufbringe, um dir zumindest zu danken. Denn Zeit (und Nerven :D) stecken offenbar in deinem Kommentar. Und mehr als meine Zeit kann ich nicht zurückgeben. (Ich hör schon auf, ich weiß, du magst kein Geschwätz).

und weil ich auf Japanisches eh abfahre. Dass Mai jetzt Kai heißt, stört mich nicht.
Ich bin reisefertig.

Und da tut’s mir leid, dich ab jetzt abzuhängen, denn dieser Text ist nicht sanft. Die Vogelfrau hat mächtig zu tun mit ihrm Leben und ist eher keine Frohnatur.

Großmutter könnte Ingwer ebenso in Tirol hobeln

Ein Vogel, eine Möwe „verirrt“ sich im Kirschbaum? Navigation ausgefallen? Und dann will die Möwe Kirschen essen? Ich weiß nicht so recht.

Der Traum vom scheinbar Unmöglichem, von der Freiheit, von über seine Grenzen zu gehen, etwas zu wagen und das Scheitern riskieren ... so in etwa dacht ich bei mir.

Die eierlegende Vogelfrau ist ganz klar der Brüller :rotfl:

Mit Staunen lese ich, was ich mir nicht erklären kann:

Hmh, was soll ich sagen? Sorry? Ich glaube, es passierte aus Mutlosigkeit, das Thema (Mann/Frau/Stellung in der Familie/Gesellschaft), dass ich es hier abstrakt darstellte. Oder so was in der Art.

Ich erspare dir jetzt all die vermeintlichen Antworten auf all die Fragezeichen, die die einzelnen Textstellen dir eingebracht haben ... ich könnte, aber das klänge scheinheilig und ich fürchte, für dich würde sie dadurch nicht zugänglicher werden.

Das Ende hat mir sehr gefallen:
Viel Herz, wirklich große Klasse!

Denn wenn du zumindest an Etwas Gefallen finden und das Herz darin herauslesen konntest, ist das mehr als ich erwarten kann.

Liebe Kanji, bestimmt kennst Du Restaurants, in denen man irre aufregend essen kann. Es muss einem nicht alles gefallen oder schmecken, aber man ist hellwach und wird einen solchen Abend bzw. Text so schnell nicht vergessen.

Und dein Charme ist ja auch nicht von schlechten Eltern und Balsam für mein schlechtes Gewissen.

Die Idee Deiner Geschichte finde ich gut, nur überkam mich ständig beim Lesen so eine Ahnung, als ob ich einen Entwurf vor mir hätte, statt eines fertigen Textes.

Und da sagst du dann auch etwas, was mich antreibt. Denn in der Art habe ich schon etwas über den Text gelesen. Es könnte einen Schritt weitergehen und sagen, was ich sonst bloß zwischen den Zeilen stehenlassen ... aus welchen Gründen auch immer.

Nun hoffe ich, dass Du meine Kritteleien nicht allzu ernst nimmst – und das wäre auch das Letzte, was ich mir wünschte – obwoh ich schon ein bisschen kitzeln wollte,

Doch, das tu ich. Dieser Text hat seine Grundmauern, die ich nicht einreißen werde, auch nicht der Verständlichkeit willen, aber gelernt hab ich eine Menge durch deine Kritteleien .

dass alles persönliche Ansichten und die deshalb unmaßgeblich für den weiteren Lauf der Welt sind.

Für den Weltenverlauf vielleicht, für mich nicht.

Nur haben wir noch diese kleine Welt im Brustkasten, die ist sehr sensibel.

Haben wir? :kuss:

Genug geschwätzt, hab selten so viel Zeit in einen gottverdammten Komm gesteckt wie in diesen. Verhüte der Himmel, dass ich je wieder ‚Seltsam’ oder ‚Philosophisches’ anklicke!

Ach nö, hüte dich nicht grundsätzlich, bitte. Du könntest etwas versäumen. Etwas über dich vielleicht auch. :shy:

Es war mir ein Vergnügen und ein schöner Zeitvertreib mit dir.

Lieber Gruß, Kanji

 

Liebe Kanji,

etwas für deine Strichliste. Suppe in der von dir vorgesehenen Reihenfolge essen!!
Beinahe hätte ich "Basta!" geschrieben.
Meine Gründe:
Erstens: Die Reihenfolge ist in Japan üblich, auch wenn dies nicht allen Menschen bekannt ist. Es geht um Authentizität, und da spielt deine Verortung in Japan eine wichtige Rolle. Ich habe, was die Kirschbäume betrifft, gegoogelt. Die japanische Kirsche hat kleine, essbare Früchte. Ob nun Möven die tatsächlich fressen, weiß ich nicht. Womöglich stürzen sie sich wie Kamikazeflieger in die Bäume, um Chaos anzurichten. Das würde ja zu deinen unterschwelligen (unterdrückten?) Intentionen passen.

Zweitens: Ich finde es überhaupt nicht zwingend, dass der erste Satz glatt wie ein Kinderpopo rüberkommt. Ist es nicht toll, wenn der Leser stutzt, zweimal lesen muss und mit einer gespannten Erwartung weiterliest? Ich meine damit nicht offensichtliche Fehler, sondern die kleinen Widerhaken, die einen aus der schläfrigen Haltung wecken, mit der man allzu glatte Texte konsumiert. Es liegt dann an der Gesamtkomposition, ob ein Text überzeugt.

Drittens: Der Kern oder das Gerüst, wie du sagst, macht die Substanz aus, hier solltest du nicht ohne Not operieren. Die dunkle Färbung hat ihre Gründe, auch wenn du sie mit japanischen Fächern besänftigst. Aber Japan hat, wie Deutschland, seine dunkle Vergangenheit. Als Stichwort soll hier "Trostfrauen" genügen. Was für ein Euphemismus!

So viel für heute.

Sehr liebe Grüße
wieselmaus

 

Hej, du unermüdliche @wieselmaus ,

Suppe in der von dir vorgesehenen Reihenfolge essen!!
Beinahe hätte ich "Basta!" geschrieben.

Du hast dich verschrieben, du. Sollte doch sicher Pasta heißen. ;)

Aber ich hab die Liste ... verlegt. Keine Ahnung, wo die abgeblieben ist.

Obwohl, wenn ich deine energische Aufzählung sehe, meinst dus wohl ernst. Ich werde, auch dank deiner Recherche die Kirschbäume beibehalten und auch den ersten Satz. Es ist sicher etwas dran, wenn du von

der Gesamtkomposition,

eines Textes sprichst, denn es kommt manchmal vor, dass ich durchaus berechtigte Korrekturen vornehme und davon überzeugt bin, aber mein Klang, den ich hatte, als ich schrieb, gedämpft wird. Da ist wohl sehr sensibles Abwägen gefragt ... oder eben Sturheit. Ich vergesse beim Beginn einer neuen Geschichte gerne mal die Dringlichkeit eines ersten Satzes - das kommt dann bei raus. :lol:

Dein dritter Grund :kuss:, danke für die Motivation, geht in diese eben genannte Richtung. Es ist die Färbung des Textes, felixreiner hat es auch später ähnlich ausgedrückt. Die steckt wohl noch zu sehr zwischen den Zeilen und ich hoffe, ich finde den Mut, direkter zu werden.
Es gibt übrigens heute noch betagte Trostfrauen, die regelmäßig demonstrieren (auch in Berlin) und auf eine Entschuldigung hoffen.

Hab herzlichen Dank für deine Unterstützung, Kanji

 

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