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Wenn die Zeit stillsteht
Wir essen die Nudeln immer zuerst aus der Suppe. Bis auf unser Schlürfen höre ich nur Möwengeschrei. Schrille, laute Töne. Ich sehe die Vögel waghalsige Manöver fliegen, höre sie sich ihre Warnsignale zurufen, als segelten sie über stürmischer See. Wundern würde es mich nicht, wenn sie nach mir greifen, mich fortbringen würden, so ungestüm wie sie auf geöffnete Fenster zusteuern. Doch kurz vorher fliegen sie eine akrobatische Kehrtwende und gleiten über die Häuser hinweg. Von meinem Stuhl aus blicke ich über die Dächer der Stadt und der wolkenlose Himmel scheint so viel näher zu sein als der staubige Boden. Stünden dort keine Häuser, könnten wir auf das Meer sehen; so bleibt uns nur die Gewissheit, dass es hinter der letzten Reihe liegt. Und wenn man darüber fliegen würde und immer weiter und weiter, käme man irgendwann zu einem anderen Kontinent. Hin und wieder rauscht das Laub des Kirschbaumes vor meinem Fenster, sobald sich der Wind darin verirrt oder ein Vogel. Die Früchte sind bereits rot und die Zweige mit dunkelgrünem Laub geschmückt. Eine besonders übermütige Möwe versucht zu landen. Wild schlägt sie mit kräftigen Flügeln und das Laub fliegt nur so umher. Immer wieder steuert sie mit den Füßen auf einen Ast zu. Sie will nicht wahrhaben, dass sie nicht in der Lage ist, sich daran festzuhalten. Ich weiß, sie wird es weiter versuchen, solange, bis sich ihre Krallen um den Zweig krümmen, sie darauf sitzen und von den Kirschen essen kann.
Die Suppe koche ich jeden Tag. Es ist Kais Leibspeise. Wenn ich kein gutes Bauchfleisch bekomme, nehme ich Tofu. Ansonsten gehören unbedingt Sternanis und eine Zimtstange in die Brühe, Shiitakepilze und eine grüne Chilischote. Sonntags möchte Kai ein Ei dazu. Das lege ich am Abend zuvor in Sojasauce ein. Als wir neu in die Stadt zogen, habe ich fertige Nudeln verwendet. Kai war darüber enttäuscht, und so machte ich mir fortan die Mühe, sie wieder selbst zu rollen, wie vorher, als wir auf dem Land bei unseren Familien lebten und die Küchenarbeit aufgeteilt wurde. Kais Großmutter saß den lieben langen Tag an der offenen Tür zum Garten, pulte die Bohnen aus den Hülsen oder hobelte Ingwer in hauchdünne Scheiben.
Den Kopf über die Suppentasse gebeugt, blicke ich durch Haarsträhnen zu Kai hinüber. Er beeilt sich, als müsse er noch einmal fort. Zu einer Verabredung, zur Arbeit oder einfach weg von hier. Ich halte mitten in der Bewegung inne. Wie erstarrt bleibt mein Arm in der Luft, der Löffel vor dem geöffneten Mund, der Rücken fest und starr, als wäre ich mit der Sitzfläche verbunden. Mit einem Scheppern fällt der Löffel zuerst auf den Rand der Suppenschale, dann zu Boden. Meine Finger gleichen den gespreizten Flügelspitzen eines Vogels. Es war mir unmöglich, das Besteck noch eine Sekunde länger festzuhalten. Mit dunklen Rändern unter den Augen blickt Kai auf und ich versuche, etwas wie ein Erkennen auszumachen, irgendeine Regung, die mir bedeutet, dass ich zu ihm gehöre.
„Kai, verlass mich nicht“, und ich bin nicht einmal sicher, ob ich das denke oder wirklich sage. Er schaut erneut auf seinen Teller und isst bedächtig die Nudeln. Beim Aufstehen erreichen meine Füße den Boden nicht und ich muss einen kleinen Sprung wagen. Den Weg zur Spüle schlurfe ich über das Parkett; irgendetwas ist mit meinen Knien. Mit einem Tuch wische ich die Flüssigkeit vom Tisch, lese die Nudeln auf, bringe die Schale, den Löffel und das Tuch zurück zur Küchenablage. Ich gewöhne mich schnell an die neuen Finger. Eine Möwe landet auf dem Dach. Ich höre ihre Füße auf dem Metall schaben. Sie bleibt nicht stehen, läuft hin und her, hin und her, hin und her. Es braucht eine Weile, bis ich zurück am Tisch bin und wieder Platz nehme. Kai hat seine Mahlzeit beendet, nimmt die Tasse, schlürft den heißen Tee. Dabei beugt er den Rücken und ich denke an einen alten Mann.
„Wir könnten einen Spaziergang machen“, schlage ich vor.
Er trägt das Geschirr zur Spüle und beginnt es abzuwaschen. Zum Möwengeschrei, es klingt nun wie Gelächter, kommt das Rauschen des Wassers hinzu, das Klappern des Porzellans am Keramikbecken. Geräuschlos stehe ich auf und stelle mich an Kais Seite, nehme das Handtuch vom Haken und trockne die Schalen. Bevor ich die nächste nasse Schale greife, berühre ich seinen Unterarm; er hat die Hemdsärmel hochgekrempelt. Die Haut ist glatt und fest, gebräunt und wenig behaart. Wie in Zeitlupe streiche ich sacht vom Handgelenk zum Ellenbogen. Die feinen Muskeln und Sehnen haben sich durch das jahrelange Üben am Cello ausgebildet. Dann küsse ich ohne Mühe seinen Hals an der Stelle über dem Hemdkragen. Wir sind gleich groß. Es gab eine Zeit, damals in der Schule, da war ich größer als Kai. Zu dieser Zeit küssten wir uns nicht.
Als die Tür ins Schloss fällt, trockne ich gerade die letzte Schale.
Ich erinnere mich nicht genau, wie viel Zeit vergangen ist, seit wir hierher gezogen sind. Es erschien vernünftig, dass wir gemeinsam unser Dorf verließen, damit Kai im Großen Konzerthaus spielen konnte und nicht länger zu verschiedenen Veranstaltungen oder auf Tourneen. Er müsste nicht viel reisen, wenn er fest angestellt wäre, sagte er. Ich würde überall eine Anstellung finden. Oder zu Hause arbeiten. Viel Zeit nimmt die Übersetzungsarbeit nicht in Anspruch, und ich bin immer schnell fertig. Vielleicht bekommen wir ja doch noch ein Kind, um das ich mich kümmern könnte. Den Rest des Tages halte ich die zwei Zimmer sauber, die wir bezogen haben, erledige Einkäufe und bummle durch die Stadt, gehe zum Strand oder nur im Park spazieren. Heute setze ich mich mit einem Buch auf die Bank, auf der bereits eine alte Frau sitzt. Es gehen eine Menge Frauen umher. So stelle ich mir Witwen vor. Wie von etwas beraubt schleichen sie mit hängenden Köpfen über den staubigen Weg und wissen nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen, als sie verstreichen zu lassen. Ich empfinde Mitleid, deswegen bin ich besonders freundlich zu ihnen.
„Sie lesen ein interessantes Buch“, bemerkt sie auch gleich und beugt den Kopf hinunter, um den Umschlag besser sehen zu können. Ich halte ihn vor ihr Gesicht, damit sie sich nicht mühen muss.
„Ja. Stimmt. Kennen Sie es?“
„Nein, ich habe nie davon gehört. Ist das von einem Ausländer?“
"Er ist schon lange tot.“
„Ich lese nicht viel. Die meisten Geschichten sind verrückt. Ich verstehe sie nicht. Wovon handelt denn diese?“
„Von einem Mann, der nicht bleibt, wer er ist, der sich verwandelt und am Ende erkennt man ihn gar nicht wieder, so scheußlich sieht er aus.“
„Ach, nein. Wie fürchterlich!“, ruft sie, dreht sich von mir weg und zieht eine Grimasse. „Sehen Sie. Das meine ich. Da können Dinge passieren, die mich in Angst und Schrecken versetzen.“ Sie schüttelt sich.
„Aber auch im wahren Leben passieren solche Dinge, oder etwa nicht?.“
„Na, nun muss ich aber los“, beeilt sie sich zu sagen und steht mühsam auf. „Mein Mann wartet sicher schon ungeduldig. Er möchte sein Abendessen pünktlich auf dem Tisch haben. Schönen Abend noch und gute Besserung“, sagt sie freundlich und deutet mit einem Kopfnicken auf meine Beine. Ich stecke mir kleine Hörer in die Ohren und lausche Kais Cellospiel, halte das Buch in meinen Händen auf dem Schoß. Meine Lieblingsstücke hat der Enkel meiner Nachbarin Mina auf einen kleinen Apparat überspielt. Wenn ich Bach lausche, verkleinert sich an manchen Tagen mein Gesichtsfeld für eine Weile, und ich sehe den Weg vor mir wie durch ein winziges Fernrohr. Es ist ganz einfach, damit die Richtung zu halten. Als ich mich von der Bank erhebe und auf den Weg nach Hause mache, kann ich nur winzige Schritte gehen, als wären meine Fußgelenke miteinander verbunden. Kleine Trippelschritte, und ich benötige eine Ewigkeit, bis ich vor meiner Haustür stehe.
„Wo bist du denn nur so lange gewesen. Wir sind doch verabredet“, mault mich die Nachbarin an. „Du weißt doch, dass ich keinen Fernseher habe und heute ist …?“
„Mittwoch.“
„Richtig. Freitag. Und das Finale!“ Ich sehe sehr wohl, dass sie die Augen verdreht, diese verrückte Alte. Ich habe keine Ahnung, wovon sie redet, aber sie liebt es, bei mir fernzusehen. Und solange Kai nicht zurück ist, kann ich ihre Gesellschaft durchaus genießen.
„Warum du immer auf diesem unbequemen alten Stuhl sitzen musst. Komm doch rüber zu mir aufs Sofa“, quengelt sie und richtet sich mit ihrem Kräutertee ein, den sie in einer Thermoskanne mitgebracht hat, bevor sie den Fernseher einschaltet. Ich antworte nicht und sehe zum Fenster hinaus in den Himmel, auf die letzte Häuserreihe, hinauf zu den Möwen. Mich interessiert das Finale nicht.Der Schnabel hindert mich daran, an meiner Teetasse zu nippen. Ich habe gar nicht mitbekommen, wann er mir gewachsen ist. Es dauert eine Weile, bis es mir gelingt, damit den Tee zu trinken. Doch schließlich geht es recht leicht. Als ich Appetit bekomme, ich war ja lange im Park unterwegs, watschle ich an die Küchenzeile.
„Möchtest du auch ein paar Körner“, frage ich meine Nachbarin.
„Körner?“
„Ich habe nichts anderes. Nur ein paar Körner.“
„Nein, danke. Also deine Essgewohnheiten lassen immer mehr zu wünschen übrig“, nörgelt sie. Man kann es ihr einfach nicht recht machen.
„Wie lange wird denn dieses Finale dauern?“, frage ich und nehme wieder am Fenster platz. Nicht weil ich ungeduldig bin, sondern weil ich möchte, dass sie nicht mehr hier ist, wenn Kai nach Hause kommt. Die Alte zischt und winkt mit einer abfälligen Handbewegung. Ich rutsche auf meinem Stuhl herum und beschließe, mich hinzustellen, weil mir das Sitzen mit der Zeit doch recht unangenehm ist. Etwas drückt im Rücken und als ich über meine Schulter sehe und einen Blick zwischen die Schulterblätter wage, entdecke ich zwei prächtig-weiße Flügel. Ich bin erleichtert, dass es einen guten Grund für mein Unbehagen gibt. Aus purer Freude flattere ich ein bisschen mit ihnen herum.
„Meine Güte, mach doch bloß mal das Fenster zu. Wenn du die Biester weiterhin fütterst, werden sie eines Tages noch hereinspazieren und selbst die Schranktür öffnen, um sich zu bedienen. Sieh! Da sitzt schon wieder eins auf dem Fensterbrett.“ Ksch – Ksch – Ksch, macht die Alte unwirsch und fuchtelt mit ihren dürren Ärmchen herum, wobei ihre Augen keine Sekunde vom Bildschirm ablassen und die Asche ihrer Zigarette auf den Boden fällt. Dass ich mich über ihr Verhalten ärgere, sage ich nicht, wohl aber bitte ich sie zu gehen, weil ich vermute, jeden Moment käme Kai zur Tür herein. Der würde es gar nicht gutheißen, wenn jemand in seiner Wohnung rauchte. Kaum habe ich den Satz beendet, schaut die Alte mich entgeistert an. Mit aufgerissenen Augen und ausgestreckten Armen kommt sie langsam auf mich zu – wie ein Gespenst – und ich gehe rückwärts, wobei meine Krallen auf dem Holzboden kratzige Geräusche machen. In ihrem faltigen Gesicht bemerke ich einen Ausdruck von Mitleid und Fassungslosigkeit.
„Bleib stehen!“, fordere ich sie auf. „Komm nicht näher, du … dumme, alte Frau.“ Ich stoße dabei mit dem Flügel einen Schachtel von der Konsole und Briefe fallen wie trockenes Laub auf den Boden. Es ist zartes und transparentes Papier aus Übersee. Hellblau und ohne Kuvert.
„Wie kommst du denn um Himmelswillen drauf, dass Kai zur Tür reinkommt?“
Die Alte nimmt einen Brief nach dem anderen auf, wirft einen flüchtigen Blick darauf und lässt mich nicht aus den Augen.
„Bitte, lass sie liegen“, rufe ich und meine Stimme klingt laut und schrill. Wie eine Warnung.
Die Alte bleibt regungslos stehen. Ich reiße meinen Schnabel weit auf, weil ich ihr sagen möchte, dass sie endlich gehen soll, aber es kommt nur Geschrei heraus. Es fällt mir schwer, die Balance zu finden, denn ich bin nicht an das Flügelschlagen gewöhnt. Ich drohe vornüberzufallen und als ich mich überhaupt nicht mehr aufrechthalten kann, macht die Alte einen Satz auf mich zu und wir fallen uns in die Arme und gemeinsam zu Boden. Sie umklammert mich und drückt meine Flügel nieder, dabei sagt sie immer dasselbe. Es hört sich an wie: „Es ist alles gut, mein altes Mädchen, alles gut. Ich bin ja da. Sch – sch – sch.“ Sie wiegt mich in ihren Armen und ich weine wie ein kleines Kind und weine und weine und kann nicht aufhören.
Bach erfüllt den Raum, kaum hörbar, mehr wie ein musikalisches Lüftchen. Ich erkenne Kais Cellospiel im Schlaf. Die Fenster sind geschlossen. Im Zwielicht kann ich nicht ausmachen, ob es Tag oder Nacht wird. Mina sitzt an meiner Seite, das Kinn neigt sich zur Brust und ihre Hände liegen auf dem Schoß. Sie atmet gleichmäßig.
„Da bist du ja wieder“, ruft sie unvermittelt, als wäre ich auf einer langen Reise gewesen und sie freue sich, mich endlich wiederzusehen.
„Wenn du nicht langsam mal zu dir gekommen wärst, hätte ich den Alten gerufen. Da kannst du aber drauf wetten“, sagt sie und klingt sehr vergnügt, „und ehrlich gesagt, hab ich ihn bereits angerufen. Er wollte auch sofort kommen, aber als ich ihm von den Möwen erzählte, die hier bei dir geradezu wie Freunde ein- und ausgehen und mächtig herumkrakeelen, da meinte er, es wäre noch viel Zeit. Ich soll dich in Ruhe lassen und du sollst die Vergangenheit ausatmen, die Gegenwart ein und dann … na, noch irgendwas von Zukunft. Du weißt ja, wie der immer so redet. Ich bin jedenfalls froh, dass es mit dir noch nicht zu Ende gegangen ist.“
„Hab ich denn geschlafen?“ Meine Stimme ist so leise, dass ich mich selbst kaum hören kann.
Sie reicht mir ein Glas Tee, das ich gierig austrinke.
„Hat der Alte für dich angemischt – meinen Enkel hab ich dafür hin- und hergescheucht. Das Finale war am Freitag und ich weiß nicht mal … Aber Schlaf würde ich das nicht nennen. Ich habe dich sogar einmal suchen müssen.“ Sie schaut zum Fenster.
„Sitzt du seitdem hier?“ Ich richte mich auf und strecke erst den Rücken, dann vorsichtig die Arme und schließlich winkle ich die Beine an. Mina richtet ein Kissen und drückt mich hinein, setzt sich auf die Bettkante. Wir sehen uns eine Zeitlang nur an, so als sähen wir uns zum ersten Mal.
„Ich wusste ja nicht, wie einsam du bist“, und während sie flüstert, nimmt sie meine Hände in ihre. Vier Hände, die nun ineinander liegen; schwer zu sagen, welche Hand zu wem gehört. Sie sind allesamt knochig und die Haut dünn und übersät von Flecken. Mina rinnen Tränen übers Gesicht, die sie mit einem unserer Handrücken trocknet, weil sie mich nicht loslässt. Darüber muss ich lachen und sie blickt erschrocken zu mir auf.
„Du wirst mir doch wohl nicht verrückt werden?“, poltert sie mit geweiteten Augen. Eine Möwe fliegt lautlos am Fenster vorbei und ich zupfe mir ein paar Federn von den Fingern.