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Wege aus der Finsternis
Paul wuchtete die Rucksäcke aus dem Auto, schnürte seine Stiefel zu und zeigte auf ein Schild, das an einem Baum befestig war.
„Zur Meilerhütte, hier lang“, rief er mir zu.
Einem Bachlauf folgend kamen wir rasch voran. Nach einiger Zeit verengte sich das Tal und der Weg wurde deutlich steiler, nach einer weiteren Stunde richtig steil. Inzwischen hatten wir die Sonnenbrillen ausgepackt und die Jacken geöffnet. Immer öfter reichte mir Paul die Wasserflasche und forderte mich auf, einen Schluck zu trinken. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und bemühte mich, meinem Mann zu folgen, der mit zügigen und ausdauernden Schritten voraus ging. Wir waren beide nicht mehr die Jüngsten, hier und da zwickte es bereits, doch wir bemühten uns, in Bewegung zu bleiben und das Alter nicht allzu wichtig zu nehmen.
Wir befanden uns auf dem Steig zwischen dem Schachenhaus und der Meilerhütte, als Paul plötzlich stehen blieb. „Amelie, schau mal, da drüben, über der Alpspitze, da hängt eine Wolke!“
„Was bedeutet das?“, fragte ich.
„Das Wetter könnte sich ändern. Ich bin mir nicht sicher.“
Doch die Wolke über dem Gipfel rührte sich nicht. Im schönsten Sonnenschein bewegten wir uns weiter hinauf. An manchen Stellen wurde der Weg schmal und luftig, gerne ließ ich mich von Pauls Hand führen.
Paul blieb stehen, er schaute zu dem Berg. „Die Wolke über der Alpspitze hat sich verändert. Sie ist größer geworden, grauer.“
Erst schaute ich mir die Wolke an, dann bemerkte ich die senkrechte Falte auf Pauls Stirn. Machte er sich ernstlich Sorgen? Unsere Gespräche verstummten, still wanderten wir weiter. Während der nächsten halben Stunde verschwand die Sonne hinter einem Nebelschleier, der Wind frischte auf.
„Bis zur Meilerhütte ist es noch eine Stunde. Wir sollten versuchen, die Hütte zu erreichen“, rief Paul und legte einen Schritt zu.
Der Wind wehte jetzt stärker, die Temperatur war deutlich gefallen. Eine dunkle Wolkenwand schob sich uns entgegen. Immer häufiger musste Paul stehen bleiben, um auf mich zu warten.
Paul kam ein paar Schritte zurück. „Es wird gleich zu schneien anfangen. Wir müssen einen Unterschlupf finden.“
Eine heftige Böe zerrte an unseren Parkas. Innerhalb von Minuten hatte sich der Nebel ausgebreitet und nahm uns die Sicht. Das Gehen wurde beschwerlich, wir kämpften uns weiter, Schritt für Schritt. Für einen Augenblick öffnete sich die Nebelwand, bevor sie sich wieder schloss.
„Dort oben ist eine Nische im Fels!“, rief mir Paul zu.
Auf Händen und Füßen arbeiteten wir uns die Geröllhalde hinauf. Erste Flocken peitschte uns der Wind in die Augen. Mit letzter Kraft zog mich Paul zu sich auf das Plateau, keuchend kroch ich weiter bis tief in das Gestein hinein. Geschafft! Zwischen den Felsen war es trocken und windstill.
„Hier können wir es eine Weile aushalten“, meinte Paul und warf seinen Rucksack auf den sandigen Boden.
Dichter Schneefall hatte eingesetzt, der Sturm heulte, es war dunkel geworden. Wie lange werden wir hier aushalten müssen? Und wie kommen wir von hier wieder zurück ins Tal, überlegte ich. Paul schien meine Gedanken lesen zu können.
„Hier sind wir erst einmal sicher. Es kann uns wirklich nichts passieren“, ermutigte er mich.
Während ich ein Butterbrot auspackte und verzehrte, interessierte sich Paul für das Felsgestein hinter unserem Rücken. „Ich schau mir das mal an!“, sagte er und verschwand.
Es dauerte eine Weile, bis Paul zurück kam, so hatte ich Zeit, den Inhalt meines Rucksacks zu überprüfen. Ich hatte noch nicht alles wieder eingepackt, als Paul zurück kam. Er schien aufgeregt.
„Amelie! Amelie, ich habe eine Höhle entdeckt“, rief er schon von Weitem.
Er half mir auf die Beine und schulterte seinen Rucksack. „Wir nehmen alles mit, vielleicht können wir dort das Unwetter abwarten.“
Paul führte mich zu einem engen Pfad zwischen den Felsen, der an einer dicht bewachsenen Öffnung endete. „Du musst dich nur ein wenig bücken, gleich kannst du wieder stehen.“
Es war nicht allzu schwierig, durch den schmalen Spalt in das Innere der Höhle zu kriechen. Der Boden war mit Geröll bedeckt und leicht ansteigend. Nur wenige Meter weiter erreichten wir einen weiten und hohen Gang, über dem sich Gesteinsmassen türmten, schwaches Tageslicht drang durch die Ritzen, doch als wir nur wenige Schritte weiter in den Fels liefen, wurde es stockdunkel. Eine Weile standen wir still und lauschten in die Finsternis.
„Unheimlich! Meinst du die Höhle ist gefährlich?“, gab ich zu bedenken.
"Ungefährlich ist eine Höhle nie. Da kann schnell etwas passieren, wenn man nicht aufpasst."
"Dann sollten wir besser nicht weiter hinein."
"Nur ein paar Meter. Du kannst ja hier warten."
"Auf keinen Fall bleibe ich hier alleine zurück."
"Erst einmal brauchen wir Licht."
Wir holten die Taschenlampen aus den Rucksäcken. Paul leuchtet die Wände ab, mal hier, mal da. Nacktes Gestein und Felsen, die sich spaltartig in der Höhe verloren. Vorsichtig wagten wir uns weiter, Schritt für Schritt, der Boden unter unseren Füßen von zahllosen Rissen und Stufen durchsetzt. Feuchter und erdiger Geruch strömte uns entgegen. Nach einiger Zeit neigte sich der Weg steiler nach unten, gleichzeitig wurde er enger. Mit einer Hand hielt ich die Taschenlampe fest, mit der anderen fand ich Halt an der zerklüfteten Felswand. Wir stiegen und stiegen, die Zeit verging.
„Paul! Wie weit willst du noch gehen? Mir ist das nicht geheuer. Lass uns lieber umkehren.“
„Ein Stück noch."
„Ich weiß nicht, Paul. Ich habe ein komisches Gefühl.“
„Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Geh ganz langsam und verliere deine Taschenlampe nicht.“
Trotz der Lampe blieb es finster, richtig ausgeleuchtet war immer nur eine Fläche, so groß wie ein Handteller.
„ Ich möchte wirklich zurück!“
„Wovor hast du Angst?“
In engen Kehren schlängelte sich der Pfad weiter in die Tiefe. Die Felswände traten zurück, eine Geröllhalde tauchte vor uns auf. Mächtige Brocken lagen herum.
„Siehst du das?“ flüsterte ich.
„Was?“
„Da hinten, zwischen den Felsen, da hat sich was bewegt.“
Paul leuchtet in die Richtung, die ich ihm zeigte. „Ich kann nichts erkennen.“
Ein paar Schritte weiter sah ich die schattenhaften Bewegungen wieder. Gestalten, die in der Ferne vorüber zogen. Geister? Menschen?
Ebenso schnell wie sie gekommen waren, verschwanden sie auch wieder. Unheimlich. Der Schlag meines Herzens beschleunigte sich.
„Paul, da drüben!“ Vor Aufregung konnte ich kaum sprechen. Meine Kehle war wie zugeschnürt.
„Da ist nichts. Ich glaube, du siehst Gespenster.“ Paul lachte.
Er nahm mich nicht ernst. Ich schmollte. Und langsam wurde ich wütend. „Paul, ich will jetzt sofort zurück!“, verkündete ich mit Nachdruck.
„Paul!“
Keine Antwort.
„Paul!“
Wo war Paul? War er weitergelaufen, ohne auf mich zu warten? Mit meiner Lampe leuchtete ich die Felswände ab. Nichts. Meine Beine zitterten, Tränen schossen mir in die Augen, mein Pulsschlag beschleunigte sich. Nur wenige Schritte weiter verlor ich plötzlich den Boden unter den Füßen. Ich schlitterte, sauste in die Tiefe und landete weich. Der Haufen, in dem ich stecken blieb, lebte, er bewegte sich. Noch ganz benommen von meinem Rutsch, fühlte ich glitschige Körper auf mir herumkriechen. Im Schein der Lampe erkannte ich Grottenolme, augenlose Amphibien, durchsichtig wie Glas, die aufgeschreckt durcheinander wimmelten. Ihr Anblick versetzte mich in einen Zustand von Entsetzen. Immer wieder versuchte ich, mich aus diesem Berg heraus zu arbeiten, immer wieder scheiterte ich und immer wieder fühlte ich die schleimigen Tiere auf meinem Gesicht, auf meinem Hals und überall.
Schließlich drängten die Grottenolme auseinander, ergriffen die Flucht und retteten sich in ein nahe gelegenes Gewässer.
Minutenlang lag ich erschöpft auf dem Boden, versuchte die Panik zu überwinden, die mich zu überrollen drohte. Meine Beine fühlten sich matschig an, auf Knien, mit ausgestreckten Armen, kroch ich fort.
„Paul!“ Meine Stimme verlor sich in der Finsternis. Plötzlich wurde mir schrecklich kalt, ich fing zu frösteln an. Paul musste irgendwo sein und ich musste ihn finden. Der Weg wurde steiler, die Höhlenwand kam auf mich zu. Noch ein Schritt und mein Fuß trat ins Leere. Ich taumelte zurück. Ein Abgrund tat sich auf. Ein fühlbarer Luftzug kam aus der Tiefe. Wie erstarrt schaute ich in den dunklen Schlund. Ich muss umkehren, überlegte ich, da sah ich einen Lichtschein in der Ferne, der sich auf mich zu bewegte. Paul. Gott sei Dank!
Paul rief etwas. Er stand dicht am Abgrund auf einem schmalen Sims, nur wenige Fuß breit und winkte. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen, kletterte auf die Felswand zu und ergriff Pauls Hand. Das war knapp. Sekundenlang ging mein Atem heftig.
„Wo warst du?“ Paul hielt mich fest in seinem Arm.
„Ich habe dich gesucht“, antwortete ich mit dünner Stimme.
„Du bist mir nicht mehr gefolgt.“
„Plötzlich warst du weg.“ Mir war übel.
„Lass uns erst einmal den Ausgang finden, ich denke, hier geht es weiter.“ Pauls Stimme klang zuversichtlich.
Schnell verloren wir an Höhe. Dann versperrte uns ein mächtiger Gesteinsbrocken endgültig den Weg. Durch einen schmalen Spalt, direkt vor uns, drang ein schwacher, grauer Lichtschein. Paul stellte sofort fest, dass es hier einen Ausgang aus dem Höhlenlabyrinth geben musste.
„Wir haben es geschafft!“, rief er.
„Da kommen wir nicht durch. Unmöglich!“, entgegnete ich ihm.
Er zog einen Schuh aus und nahm Maß.
"Die Faustregel eines jeden Höhlenforschers lautet: Solange eine Öffnung breiter als ein Schuh ist, passt man durch."
Mir stockte der Atem. Ich schielte auf den engen Spalt, der im Schatten eines Vorsprungs verborgen lag. Er reichte vom Boden bis zur Decke, war aber höchstens vierzig Zentimeter breit. Paul hielt ein brennendes Streichholz davor. Die Flamme wich vor der Öffnung zurück.
„Ich schau mal nach, wie es weiter geht.“ Schon war Paul im Felsen verschwunden. Nach kurzer Zeit war er zurück. "Der Durchgang ist weniger als zwei Meter tief und mündet in einen Tunnel. Nur noch eine klitzekleine, enge Stelle, kurz vor dem Ausgang.“
Er schaute mich an, seine Augen weiteten sich. „Was ist passiert? Du bist käseweiß.“
„Paul, ich kann das nicht. Ich komme da nicht durch.“
Mein Herz raste, ich zitterte am ganzen Leib. Diese Enge, dieser Felsen, er würde mich erdrücken, ich wusste es genau. Wären wir nur umgekehrt!
Paul nahm mich in den Arm. „Amelie, du hast keine Wahl. Wenn du nicht mit kommst, kann es viele Stunden dauern, bis ich Hilfe holen kann. Und dann wird der Spalt auch nicht größer.“
Und dann wird der Spalt auch nicht größer. Ich hatte verstanden, ich musste da durch, aber ich konnte nicht.
Paul durchwühlte seinen Rucksack. Er fand ein Fläschchen Jägermeister, das er mir vor die Nase hielt.
„Trink, es hilft!“
Der Alkohol suchte sich brennend seinen Weg in meinen Bauch. „Brrrr!“, ich schüttelte mich. Doch mir wurde wärmer. Und ich wollte es versuchen.
Der Fels hatte Paul wieder verschluckt. Die Rucksäcke würde er später mit einem Seil herausziehen.
„Komm! Du schaffst das!“ hörte ich Paul rufen.
Vorsichtig näherte ich mich dem Durchgang, befühlte die zerklüftete Felswand, dann schloss ich die Augen und drückte mich hinein. Während ich mich Zentimeter um Zentimeter in den Spalt schob, versuchte ich mein Herzflattern zu unterdrücken. Der Fels hielt mich ganz umfangen, die Wände schlossen mich ein und kamen auf mich zu. Sekundenlang überfiel mich panische Angst. Ich öffnete die Augen und sah den schwachen Lichtschein hinter der engen Biegung. Pauls Hand streckte sich mir entgegen. Mit einem heftigen Ruck schoss ich aus der Spalte, direkt in seine Arme.
Nur wenige Minuten später öffnete sich der Fels über uns. Wir traten hinaus in das graue Licht des Morgens.