„Sie [die Kurzgeschichte] ist kürzer als die Novelle (also
maximal so um die 200.000 Zeichen)“
Quinn am 9. d. M.
Lautete die Ausgangsfrage anno 05 nicht, was eine Geschichte sei?,
lieber Woltochinon,
Du magst mir verzeihn, und hallo,
Ihr Lieben,
oder hab ich mich da verhört, pardon, dass ich auch immer falschen Sinn treffen muss, versehn? Keine bange, ich weiß um welche Titel gerungen wird, bin ich doch der gekürte Pamphletist hier an Bord. Aber
ich dachte, ich käme an einer Einmischung vorbei,
doch was ich erlebe, tritt über die Ufer (wie der Reclamtext, auf dass wir aufs Abitur vorbereitet werden) gleich einem Bächlein nach gemeinsamer Schnee- & Gletscherschmelze, dass ich mir bei den vorab ausgewählten Zitaten zu einer möglichen Poetik der Kurzgeschichte in einer anderen Kunst - der Architekten halt - beginnen darf und nicht nur der Freunde gepflegten Horrors wegen: „So durfte ich jung die Carceri betrachten und bin in diesem bewundernswerten grausamen Labyrinth verirrt geblieben; gefesselt, geängstigt und unbegreiflich entzückt. Es war die Gewalt des Ästhetischen, des Möglichen, des Spiels“, gibt Piranesi zu [Giovanni Battista Piranesi: Carceri d’invenzione (1760)], wenn gleich weder durch ebenso schlichten wie abstoßenden Grusel, sondern durch das Schöne höchstselbst wie dem Spiel, wie es eine Generation später Schiller später aufnehmen wird.
Als Aufklärung und Fortschritt ihrer Dialektik anheim gefallen sind, befindet Weyrauch (noch vor Adorno!) „Die Methode der Bestandsaufnahme. Die Intention der Wahrheit. Beides um den Preis der Poesie.“ [Wolfgang Weyrauch: Tausend Gramm (1949)], erwartet den nötigen Kahlschlag gegen eine Literatur, die der Propaganda des Systems diente. Er vereint formale Vielfalt mit dem politischen Experiment und schreibt dann trotz Auschwitz – Lyrik.
Böll wirkt trotz all seiner Größe da eher schlicht: „Wir schrieben also vom Krieg, von der Heimkehr und dem, was wir im Krieg gesehen hatten und bei der Heimkehr vorfanden: von Trümmern; das ergab drei Schlagwörter, die der jungen Literatur angehängt wurden: Kriegs-, Heimkehrer- und Trümmerliteratur“[Heinrich Böll: Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952)], – zu der wir gar bald wieder dank manch segensreicher Haltung zurückkehren werden.
„Man brauchte kein Narkotikum, man brauchte die Wahrheit. Daß dabei zunächst Tabula rasa gemacht worden ist, liegt in der Natur der Sache. […] Was nun das Schreiben anging, so war hier das Misstrauen in die Sprache oft geradezu unüberwindbar. Denn die Sprache war es ja gewesen, die sich zuerst hatte verführen lassen.“ [Wolfdietrich Schnurre, o. J.] Was für mich das Wesentliche überhaupt bedeutet, auch ohne Sprachstrafrecht und Sprachprozessordnung. „Ein Wort, das nie am Ursprung lügt, zugleich auch den Geschmack betrügt“, sagt Karl Kraus im Reim und in der Tat, wir weisen Lügen nach, indem wir lügen. Denn die eine Wahrheit gibt’s nicht, mag sich auch der eine oder die andere als deren Verwalter verstehen. Wort und bezeichnete Wirklichkeit sind selten identisch.
„Ich gehöre zu einem Stand, der vor allen Anderen berufen ist und sich nicht scheuen darf, wenn es sein muss, ein Ärgernis zu geben.“ [Wolfgang Koeppen: Rede zum Georg Büchner Preis (1962)] So isset! So soll’t sein. Wer niemals aneckt gerät in Verdacht, sich dem System anzudienen. Die ehemalige Propaganda und Reklame mutiert modisch elegant zu Marketing und Publicrelations.
Und später heißt es: „Der Schreibende steht als Beobachter des Lebens mit seinen wechselnden Gefühlen, seinem ehrlichen Entsetzen, dem mannigfaltigen Mitleiden, dem hilflosen Zorn, der bösen Mitleiden, dem hilflosen Zorn, der bösen Verzweiflung an einem archimedischen Punkt außerhalb des Sozialgefüges. Er ist verführt, die Welt aus den Angeln zu heben, und sich der Aussichtslosigkeit bewusst.“ [Wolfgang Koeppen: Er schreibt über mich, also bin ich (1980)] Was unser Elend zusammenfasst: Schriftsteller, gar Dichter, die sich nicht dem System anbiedern, sind Außenseiter.
Ich dachte, ich käme an einer Einmischung vorbei,
bis mein amerikanischer Freund verlautbarte, eine Kurzgeschichte dürfe höchstens tausend Wörter umfassen, müsse man sie doch mit einem Stuhlgang erledigt haben oder in der U-Bahn erledigt werden können (er nannte natürlich subway und to wolf), doch was ich hier vor Ort erlebe, erinnert mich erschreckend an die hohe Kunst, Grundrechenarten zu beherrschen, denn es geht offensichtlich darum klarzustellen, wer hier die Deutungshoheit ausübe – genau wie in einem beliebigen Finanz- und Rechnungswesen, in dem der Buchhalter, der gerade mal Soll und Haben unterscheiden kann (und das nicht mal immer korrekt) sich für den Nabel angewandter Mathematik hält, wobei er allein eine simple Gleichung Soll = Haben, anders gewendet: Soll – Haben = Null; da wähnt sich der Oberbuchhalter etwas Besseres zu sein, da er Aktiva und Passiva unterscheiden kann, die allein (in der Reihenfolge ihres Auftritts) Verwendung und Quelle des bilanzierten Vermögens aufführen und doch den gleichen Regeln wie der zuvorgenannte Untergebene folgt A – P = 0. Gelegentlich darf er entscheiden, ob ein Essen seines Vorgesetzten privater oder geschäftlicher Natur wäre, wovor manchmal das Finanzamt sei!, denn die Deutungshoheit hat in Wirklichkeit der Gesetzgeber übers Rechtssystem, dass nicht nur die Verbuchungsartistik regelt, sondern auch die Bilanzierung vorschreibt.
Etwas Ähnliches wird hier versucht!, behaupte ich, und setzt sich das Formelhafte durch, wird erst die Formenvielfalt bedroht, vielleicht sogar auf die rote Liste der aussterbenden Arten gesetzt werden müssen, und dann verschwinden. Letztlich wird die Phantasie verkümmern, das Spielerische und eigentlich schöpferische Element wäre dahin, geopfert einer andern Art von Buchhaltung. Oder kennte jemand einen Buchhalter, der seine Phantasie für anderes als Regelverstöße missbräuchte, um seinem Vorgesetzten oder dessen Vorgesetzten zu gefallen?
Nach einer Definition von Niklas Luhmann reduziert das Recht Komplexität, also neben dem offensichtlichen Steuerrecht auch die Grammatik, d. h. die Welt wird dadurch berechenbarer (weshalb stünde sonst der obige Abschnitt da?). Rechtschreibung, Zeichensetzung, Grammatik geben den rechtlichen Rahmen der jeweiligen Sprache vor, Stilistik(en) versuchen zu definieren, was gut und richtig in den verbleibenden Freiräumen sei, und das versuchen die vorgeschlagenen Formeln, dem ich entgegensetz: ein Kurzgeschichte ist eine kurze Geschichte, sonst trüge die Geschichte gar kein oder nur das Adjektiv lang vorweg und die Suche nach einer Definition dauert schon so lang, wie ich hier an Bord bin und wird wohl nie so recht entschieden. Doch sollte man eins beachten: Gälten Mehrheitsbeschlüsse, so gäbe es heute noch die Todesstrafe in unserer kleinen Republik!
Was ist eine Geschichte,
fragt Woltochinon eher unpräzise vor sieben Jahren, will er doch genaugenommen fragen, was man unter einer Geschichte, die den Ansprüchen der Plattform Kurzgeschichten.de genüge. Jedem wird sofort auffallen, dass ich nun meinerseits die Frage wörtlich wiederhole, obwohl sie doch nach dem Konjunktiv verlange. Ich weiß nicht, ob die indirekte Rede („was eine Geschichte sei“) oder der Konjunktiv irrealis der Frage und damit dem Thema angemessen wäre, bieten sich doch hier zwei Varianten an, die keineswegs Gleiches meinen: „Was wäre eine Geschichte“ und „Was könnte eine Geschichte sein?“
Die ursprüngliche Frage zu beantworten ist an sich das einfachste von der Welt: Geschichte heißen wir gemeinhin Prozesse gesellschaftlicher Entwicklung und der darin verstrickten Gruppen und Individuen. Dabei wird verdrängt, dass Menschen nur Teil der Natur sind, gegen welche die Menschheit im Überlebenskampf Methoden und Werkzeuge entwickelt hat, Natur zu bearbeiten und so eine eigene (Gegen-)Welt zu schaffen in der Illusion, das Leben müsse einen Sinn und somit ein Ziel haben. Darum kann Geschichte nur definiert werden als das zeitliche Geschehen in Natur und Kultur bis hinab zum Individuum als Gefangenem in beiden Welten, wobei das Individuum die Welten um eine dritte Variante bereichert, um seine innere Natur, durch welche die äußere Natur – ob bearbeitet oder nicht – widerspiegelt. Logisch, wo’s sieben Milliarden Individuen gibt, die alle auch wenigstens eine innere Welt haben, gibt’s verdammt viele Geschichten, die nun ihrerseits erzählt werden könnten. Es müssten sich also unzählige Geschichten erzählen lassen, was aber im literarischen Sinn aus eher natürlichen Grenzen nicht jeder kann.
Tausende Jahre wurden gleichwohl immer wieder Geschichten aus einer anderen Zeit weitergegeben, bis eines Tages ein Speichermedium wie die Schrift vor fünf bis sechstausend Jahren erfunden wurde. Nun galten die ersten Schriftzeichen allein der Verwaltung: der Chef (fast immer ein Herr) wollte wissen, wie viel Vieh und sonstiges Vermögen er hatte. So waren die ersten schriftlichen Zeugnisse weniger religiöse Ergüsse als konkrete Zahlenwerke, eine einfache Buchhaltung (da hammer se wieder - bis einer darauf kam, dass man auch von seinen Erfolgen und von den Misserfolgen der feindlichen Nachbarn berichten könne. Das Zählen wurde zum Erzählen. Nicht nur ganze Wände an ägyptischen Tempeln berichten davon, Gilgamesch selbst war ein Fürst. Der erste politische Text ist m. W. die Geschichte des Ägypters Sinuhe.
Die im Nachkriegsdeutschland aufkommende Kurzgeschichte lässt sich an den Namen Borchert und Böll, über Kaschnitz bis zu Schnurre und weiter hin festmachen. Danach ließen sich neben der namengebenden Kürze nicht zwingende Charaktereigenschaften wie
der offene oder „überraschend“ pointierte Schluss,
bevorzugt werden Grenzsituationen dargestellt,
gelegentlich ein oder mehrere Charaktere erhellt oder verschleiert und
manchmal ist die Handlungskette gar nicht logisch …
Wichtiger aber als alle Regeln ist das spielerische Experiment. Und mir will der Regelbruch ein Merkmal sein, selbst die ältesten Themen neu daher kommen zu lassen. Sonst enden wir im chinesischen Mandarinentum.