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Von Eskimos und Kühlschränken
Ich fand es immer erstaunlich, wie viele kluge Menschen bei einem Selbstmordversuch scheitern. Da gibt es den Physikprofessor, der sich in die Schläfe schießt und noch zwanzig Jahre mit einem irreparablen Hirnschaden weiter lebt. Oder die junge Schriftstellerin, die sich die Pulsadern vertikal statt horizontal durchtrennt, was sie zwar nicht umbringt, ihr aber für immer jede Bewegung der rechten Hand unmöglich machen wird. Von den Schmerzen einer abgetrennten Sehne mal ganz zu schweigen. Ich habe mir im Laufe meines Lebens eine Menge Dinge vorgenommen und das meiste davon nicht gehalten (ich rauche zum Beispiel immer noch wie ein Schlot), aber für mich stand immer fest, dass ich niemals Selbstmord begehen würde, und wenn, dann ganz sicher auf eine professionelle Art und Weise. Selbstmord erinnerte mich immer an den alten Witz über den Handelsvertreter, der einem Eskimo einen Kühlschrank verkaufen möchte. Das Leben ist im Grunde genommen ein langer und ziemlich nutzloser Kampf gegen den Tod. Warum zum Teufel soll ich ihm mein Leben auf einem Silbertablett servieren, wenn er es sich früher oder später sowieso selbst holen kommt?
Sie fragen jetzt natürlich völlig zu Recht, warum ich dann mit einem Revolver und einem Eimer Wasser in meinem Arbeitszimmer sitze. Nun, ich will es Ihnen verraten. Ich habe vor, den Mund voller Wasser zu nehmen, den Revolver zwischen meine Lippen zu stecken und abzudrücken. Todsichere Alternative könnte man sagen und ich würde Ihnen das morbide Wortspiel auch nicht übel nehmen. Der Druck der abgefeuerten Waffe beschleunigt das Wasser, es weitet sich aus, und – am Schluss eines unglaublich komplizierten physikalischen Zusammenhangs, den ich selbst nicht völlig verstehe – explodiert einem der Schädel. Ziemlich professionell, finden Sie nicht?
Die restliche Zeit, die mir bleibt, würde ich gerne nutzen, um Ihnen zu erzählen, warum ich vorhabe, meinen Schädelinhalt an der Stuckwand zu verteilen, die mich vor acht Jahren ein kleines Vermögen gekostet hat. Keine Angst, ich werde Sie nicht lange aufhalten. Man könnte meinen, dass jemand, der Selbstmord begehen will, alle Zeit der Welt hat, aber ich habe nur noch vier Stunden. Dann wird es dunkel.
Zeit genug für eine Geschichte. Danach werde ich einen Kühlschrank an einen Eskimo verkaufen.
Ich glaube, der ganze Schlamassel begann 1991. Damals beschloss ein Mann namens Saddam Hussein in ein kleines Emirat namens Kuweit einzufallen und ein Großteil der westlichen Welt beschloss, dass man ihn da wieder herausbomben würde, wenn er nicht von selbst ginge. Saddam machte natürlich keine Anstalten sich zu verpissen und wir schickten die Bomber. In einem davon saß ich.
In Filmen sieht man immer, wie der Hauptdarsteller schon als kleiner Junge vom Fliegen träumt. Ich war so ein Junge. Ich liebte das Fliegen. Ich liebte das Dröhnen der Turbinen, ich liebte die Geschwindigkeit beim Start, die einen zurück in den Sitz drückt, und ich liebte es, wenn die Maschine airborne ging; es war ein faszinierendes und eigentümliches Gefühl und es sollte zwei Jahrzehnte dauern, bis ich mir bewusst wurde, worum es sich dabei handelte: Um die instinktive Gewissheit etwas Verbotenes zu tun. Wenn ich flog war ich wieder der Junge, der hinter dem Schuppen heimlich eine Zigarette paffte. Es war aufregend und atemberaubend, aber Angst war immer dabei; Angst, dass Mutter Natur herausfinden würde, dass sich da oben etwas befand, was dort ganz und gar nicht hingehörte.
Als Sohn ein Büroangestellten war es selbst in den aufgeklärten siebziger Jahren ein Ding der Unmöglichkeit, in der zivilen Luftfahrt eine Pilotenkarriere zu beginnen, und aus diesem Grund tat ich das einzig mögliche – ich trat in die Airforce ein. Dort ließ man mich wenigstens fliegen.
Als sie unsere Staffel im Dezember 1990 nach Saudi Arabien verlegten, war das Ultimatum an den Irak noch nicht abgelaufen, aber wir wussten alle, dass es zum Krieg kommen würde. Ich bereitete mich so gut es ging darauf vor, aber als es dann tatsächlich begann, überrollte es mich. Es machte mich fertig. Ich war auf einen Krieg gefasst, aber es fühlte sich an, als würde ich in einer Spielhalle sitzen. Sie erinnern sich bestimmt noch an die Bilder aus Bagdad, in denen grüne Blitze über den Himmel zucken – wenn ja, dann haben Sie mehr gesehen als ich. Ich flog achtundvierzig Einsätze und alles, was ich von dem verdammten Krieg sah, waren kleine blinkende Punkte auf dem Display meiner F-14. Der Krieg machte mich nicht fertig, weil er grausam war, sondern weil er es nicht war, nicht für mich. Bis zu jenem Tag.
Drei Tage bevor der Irak schließlich kapitulierte, saß ich auf dem Stützpunkt und trank eine Coke. Die Stimmung unter den Jungs war gut. Unsere Staffel hatte keinen Piloten verloren und da es außer Frage stand, dass wir das Land notfalls zurück in die Steinzeit bomben würden, warteten wir darauf, dass Saddam die weiße Fahne schwenken und um Entschuldigung bitten würde. Ich bin mir nicht mehr sicher, aber ich glaube, wir spielten Hearts, als unser Flight Officer meinen Namen brüllte.
Wie es aussah, war einer unserer Jungs zu früh runtergekommen und hatte sich dabei das Bein gebrochen. Sein Glück war, dass er keine fünf Meilen neben einem Stützpunkt unserer Pioniere abgeschmiert war. Zehn Meilen weiter südlich und er wäre mitten in eine irakische Kompanie gerasselt und Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, was die mit jemandem angestellt hätten, der noch vor zwanzig Minuten ihre Frauen und Kinder bombardiert hatte. Wie dem auch sei, wir hatten zwei Probleme. Erstens den Piloten, der von den Sannis abgeholt werden musste und zweitens die Maschine, die irgendwie auf den Stützpunkt zurückgeflogen werden musste.
„Besteht die Möglichkeit von dort zu starten, Sir?“, fragte ich und mein FO nickte.
„Die Pioniere haben eine provisorische Startbahn ausgehoben“, sagte er. „Könnte ein bisschen holprig werden, aber es sollte klappen.“
Ich dachte an den alten Witz über Pioniere („Soldat, graben Sie mit ihrem Helm ein Loch – wer hat was von absetzen gesagt?“) und nickte ebenfalls.
Ein stiernackiger Corporal fuhr mich schließlich vierzig Meilen in einem Jeep durch die Wüste. Es war heiß und der helle Sand blendete schlimmer als Schnee. Wir hätten stundenlang im Kreis fahren können und ich hätte es nicht bemerkt. Ich glaube, dass wir während der gesamten Fahrt keine fünf Sätze miteinander wechselten, aber ich hatte den Eindruck, dass das für ihn bereits eine ausschweifende Unterhaltung war.
Das Camp der Pioniere bestand im Grunde aus zwei Dutzend Zelten und einer Artillerie-Stellung. Und mein FO hatte recht behalten: Die verrückten Wichser hatten tatsächlich eine provisorische Startbahn ausgehoben. Sie war kurz und uneben, aber eigentlich sollte es funktionieren. Ein junger Seargent begrüßte mich und führte mich zu der F-14.
„Eigentlich sollte der Vogel noch fliegen“, sagte er. „Irgendwer hat anscheinend die Spritmenge falsch berechnet.“
„Dann wird er auch nicht mehr fliegen", sagte ich kopfschüttelnd.
Er grinste. „Wir haben uns die Freiheit genommen, ihn aufzutanken. Der Vogel ist voll wie tausend Russen, könnte man sagen.“
„Wo zum Teufel habt ihr denn Kerosin her?“
Er lächelte und deutete auf das Abzeichen auf seiner Brust.
„Im Buddeln und Besorgen sind wir große Klasse.“
Gegen meinen Willen musste ich lachen. Ich wollte gerade etwas erwidern, als die Hölle losbrach.
Die erste Explosion riss fünfzig Meter entfernt drei Zelte völlig auseinander. Soldaten rannten durcheinander und einige von ihnen hatten das Pech, mitten in die zweite Detonation zu laufen. Sie lösten sich buchstäblich auf. Ich stand einfach nur da und starrte in die grellen Lichtblitze, bis mich der Seargent zu Boden riss und in Richtung Lager zerrte. Dort wo die Bomben einschlugen.
„Sind Sie völlig verrückt geworden?“, brüllte ich durch den Lärm.
Eine dritte Granate schlug genau an der Stelle ein, an der vor einer Sekunde noch das große Kommandozelt gestanden hatte.
Der Sergeant blickte über die Schultern zu der F-14.
„Wo zum Teufel glauben Sie denn, dass die hinschießen, wenn die hier ein Flugzeug herumstehen sehen?“
Wir krochen weiter. Der heiße Sand brannte unter meinen Handflächen. Ich wollte mich übergeben.
Plötzlich herrschte völlige Stille, wie in einem Nachtclub, dem man die Stromzufuhr der Soundanlage abgeschnitten hatte.
Ich hob den Kopf und hörte jemanden rufen:
„Gas!“
An alles, was folgte, kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern. Soldaten, die panisch nach ihrer Schutzausrüstung suchten, abgerissene Körperteile, Blut.
Ich blieb einfach im Sand liegen und schloss die Augen.
Es schmeckte bitter.
Irgendwann, es könnte fünf Minuten oder eine halbe Stunde gedauert haben, hörte ich eine gedämpfte Stimme, die nichts Menschliches mehr an sich hatte, neben meinem Ohr schreien:
„Bringt sofort eine Schutzmaske her!“
Noch später kam der ABC-Trupp mit Spezialfahrzeugen. Wir wurden aufgeladen und ich bekam eine Spritze. Danach weiß ich gar nichts mehr.
Ich quittierte den Dienst ein Jahr später. Vorher sagten mir die Ärzte, ich wäre ein medizinisches Wunder, aber das war mir scheißegal. Nachdem ich fünf Monate damit zugebracht hatte, Blut zu kotzen, Blut zu pissen und Blut zu schnupfen, wollte ich nur noch raus. Man riet mir dringend, das Rauchen aufzugeben, aber obwohl es noch heute an schlimmen Tagen höllisch in der Lunge brennt, hörte ich nicht auf. Bevor ich gehen durfte, musste ich eine Schweigeerklärung unterschreiben. Ich hatte nichts dagegen.
Ein paar Wochen später fand ich einen Job bei einem Flugzeugkonstrukteur. Ich flog Prototypen und für eine Weile schien es, als hätte ich die ganze Scheiße hinter mir gelassen. Ich trieb umher, zum ersten Mal in meinem Leben ohne ein festes Ziel vor Augen, und ich genoss es. Ich trank zu viel und ich kokste ab und an (und meine Nase blutete am nächsten Morgen so stark, dass ich die Löcher mit Watte zustopfen musste). Ich war glücklich, jedenfalls glaube ich das heute. Denn wissen Sie, Glück ist eine Erinnerung, kein Gefühl.
Es begann vor einem halben Jahr. Ich wachte auf und fühlte mich wie gerädert. Ich hatte noch nie Schlafprobleme (glauben Sie mir, das Militär stellt so etwas ab), aber plötzlich konnte ich kaum die Augen offen halten. Es ging die ganze Woche so und am Freitag kam mein Boss zu mir und fragte mich, ob ich krank sei. Ich verneinte. Er schickte mich trotzdem zum Arzt.
„Treiben sie Sport“, riet mir ein junger Doktor, der noch die letzten Spuren einer Jugendakne im Gesicht trug.
Also trieb ich Sport. Ich lief jeden Morgen fünf Kilometer und jeden Abend noch einmal dieselbe Strecke. Es half nichts. Obwohl ich jeden Abend totmüde ins Bett fiel, wachte ich am nächsten Morgen ebenso müde und mit schmerzenden Gliedern auf. Das ging ein paar Wochen so weiter, bis mir mein Boss unter vier Augen erklärte, dass er mich in diesem Zustand unter gar keinen Umständen ein Flugzeug fliegen lassen würde, das mehr gekostet hatte, als der Verteidigungshaushalt eines afrikanischen Staates. Ich war ganz seiner Meinung.
Er gab mir sechs Wochen Zeit, mein Problem zu lösen. Ein Problem, von dessen Existenz ich zwar wusste (es war im Spiegel auch schwer zu übersehen), aber dessen Ursache mir völlig rätselhaft war. Ich versuchte alles. Lange schlafen, kurz schlafen, Alkohol, Drogen, scheiße, sogar Meditationsübungen – nichts half. Im Juli wurde es richtig schlimm und mir fielen zum ersten Mal die kleinen Veränderungen auf. Mal war der Fernseher eingeschaltet, obwohl ich ihn am Vorabend ausgeschaltet hatte, mal fand ich Mayonnaise und Schinken auf dem Küchentisch. Ich fragte mich, ob ich schlafwandelte und dann passierte die Sache mit dem Auto. Ich sollte den Mercedes zur Inspektion bringen und hatte für den nächsten Tag einen Termin vereinbart. Der Mechaniker wollte den Kilometerstand wissen und so schrieb ich ihn auf. Als ich am nächsten Morgen auf dem Weg in die Werkstatt war, bemerkte ich, dass er sich seit dem Vortag um achtzig Meilen erhöht hatte. Kennen Sie einen Schlafwandler, der Auto fährt?
Und dann war da noch die Sache mit dem Anruf:
„Collins hier. Gut, dass ich sie noch erwische.“
„Wer sind Sie?“
„Hank Collins. Der Propeller-Mann. Wissen Sie nicht mehr?“
Ich wollte ihm sagen, dass ich ganz bestimmt keinen Propeller-Mann kannte, aber er plapperte einfach weiter:
„Die Maschine ist jetzt startklar, Mr. Baker. Sollte den Biestern ordentlich Dampf unter dem Arsch machen.“
Baker? Biester?
„Was für eine Maschine?“
„Die VC-134, wegen der Sie gefragt haben. Oder hat sich Ihr Heuschrecken-Problem erledigt? Mein Bruder hatte die Mistviecher mal auf seinen Feldern und die haben ihm sogar die Vogelscheuche kahl gefressen.“
„Die Vogelscheuche?“
„Hm-mh. Man sollte die kleinen Scheißdinger ausrotten, wenn Sie mich fragen, aber meistens fragt mich ja niemand.“ Er kicherte. „Wie auch immer, Sie können jederzeit loslegen, wollte Ihnen nur Bescheid sagen. Tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe. Sie hatten mir ja gesagt, dass ich Sie nur nachts anrufen soll, aber ich dachte mir, ich probiere es trotzdem.“
Ich bedankte mich und legte auf. Ein Bild begann sich in meinem Kopf zu formen. Das Bild eines Wahnsinnigen, der tagsüber vor Müdigkeit kaum aus dem Sessel kommt, aber im Schlaf Auto fährt und Flugzeuge mietet. Ich war verrückt geworden. Ich dachte an das Giftgas.
Das war der heutige Stand. Sie fragen sich jetzt sicher, warum ich mich umbringen möchte. Verrückt zu sein hört sich ja schlimm an, aber besser als tot, nicht wahr? Nun, da ist immer noch der Keller. Ich hasse Keller. Dunkle Löcher, in denen alles mögliche rumkriechen kann, konnte ich nie leiden. Und Insekten – wenn ich vor einer Sache auf dieser Welt wirklich Angst habe, dann sind es Insekten. Deshalb war ich auch seit Monaten nicht mehr im Keller. Heute sprang eine Sicherung aus der Fassung und ich musste hinunter, um sie auszuwechseln.
Ich fand ein Labor. Reagenzgläser, Rotlichtscheinwerfer, seltsame Apparaturen, die man aus Filmen kennt und die sündhaft teuer aussahen. Und Bücher. Da waren Dutzende, über Krankheiten, Viren, Vererbungslehre. Die kleinen Gläser waren alle ordentlich mit meiner Handschrift gekennzeichnet und leer. In der hinteren Ecke stand ein Kühlschrank. Als ich näher heran ging, sah ich, dass er an einigen Stellen tiefe Kratzer hatte. Dunkelgrüne Kratzer. Wie von einem dunkelgrünen Auto. Einem Mercedes.
Ich öffnete die Tür. Noch mehr Gläser. Ebenfalls beschriftet und mit einem hellen Bodensatz. Auf ihnen stand: Bacillus Anthracis. Ich fuhr in die Bibliothek.
Es wird dunkel. Ich darf es nicht riskieren einzuschlafen. Ich weiß nämlich jetzt, was Bacillus Anthracis bedeutet. Lange kann ich mich nicht mehr wach halten. Ich denke es ist Zeit, einem Eskimo einen Kühlschrank zu verkaufen. Denn ich habe ein Flugzeug und einen Keller voller Milzbrand-Erreger und ich bin sehr, sehr müde.