- Beitritt
- 19.05.2015
- Beiträge
- 2.593
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 19
Volodjas Träumerei
Präludium
Der Applaus erstirbt, als der alte Mann wieder und wieder in der Garderobe verschwindet, in Lackschuhen über das Parkett schlurft, eine gebeugte Zittergestalt, hohlwangig, altersbefleckt, an der die Bogennase wie ein Fremdkörper klebt. Auf seinem Gesicht breitet sich ein Jetzt-hab-ich-Greis-es-euch-gezeigt-Blick aus, während all die Akkorde, Tonkaskaden, das Virtuosenrauschen des Konzertabends noch in der Luft schweben, sich erst nach und nach in die Fugen und Nischen des Saals verstecken. Nach der vierten Verbeugung, den Blumengeschenken, den Bravorufen lässt er sich auf den Hocker sinken, beugt den Kopf, schlägt den Saum des Smokings über den Stuhl, rückt die Fliege zurecht, dreht den Stuhl etwas nach oben, stützt die Füße auf den Pedalen ab. Die Hände schweben über den Tasten. Er dreht sich für einen Moment zum Publikum. Dann tritt Stille ein, das Räuspern, Keuchen, Husten der Leute verklingt. Die Orientparfümnoten der Damen aus der ersten Reihe mischen sich mit Schweiß und Haut und faulem Atem, wehen zur Bühne. Volodja wendet sich ab, schließt die Augen, richtet den Blick nach innen, dorthin, wo die Erinnerungen sitzen. Die Bilder reichen weit zurück, zeigen Menschen, Ereignisse, untergegangene Welten, Schattengesichter, trügerisch, ungewiss, voller Fallen und Tücken, Trugbilder der eigenen Vergangenheit. Nur das Bild von Sonia, ihr Kinder-, ihr Mädchenlächeln erscheint so klar vor Volodjas Augen, als wäre sie lebendig.
Er nickt ins Publikum. Dann nimmt er das Seidentaschentuch und tupft sich über die Stirn, riecht für einen heimlichen Moment daran. Die Finger brennen, fühlen sich grauenvoll lebendig an. Volodja versinkt in der Dunkelheit, als wäre er alleine, niemand mehr da, der ihn hören könnte, außer dem Wachspuppengesicht des kleinen Mädchens. Sonia, denkt er, Sonia.
Erster Satz: F-Dur/d-Moll
Den ersten Ton schlägt Volodja ganz hinten an, hält die Finger flach über die Tasten. Eine halbe, eine ganze Note, gefolgt von Vierteln. F-Dur. Das Thema öffnet sich, die Melodie dehnt sich aus, Töne kriechen in den Flügel, setzen sich zwischen den Saiten und Hämmern fest, breiten sich im Raum aus, erzeugen einen Frühlingsklangteppich. Acht Takte, abwärts zu d-Moll. Das Farbenspiel beginnt, rot, blau, violett, Flecken, Kontraste entstehen, während Volodja über die Tasten gleitet, sie traumverloren streichelt, ganz automatisch, als wären die Finger nichts als Seelenverlängerung. Molto adagio, langsam, ganz langsam wiederholt er das Motiv, verkürzt den Auftakt, dehnt die Zeit. Sein Geist entfernt sich, taucht ein, sieht Sterne, die wie das Gleißen der Sonne auf der Wasserfläche tanzen, sieht Sonia. Die Umrisse werden schärfer, Konturen des Gesichts erscheinen. Volodja hört wie sie zwischen den Tönen flüstern, anfangs ganz leise, dann deutlicher, unzusammenhängend, ein Gespräch, das nicht enden will, nirgendwo anfängt, ein Labyrinth von Variationen, Möglichkeiten.
Damals hast du einen Lehrer engagiert. Er ist jung, hat durchsichtige Haut, azurblaue Augen, einer, dem kein Bart wächst. Zwischen den Wandteppichen, den Notenbergen, den Büchern, dort, wo dein Steinway steht, wartet er auf uns. Er riecht nach Erdbeeren. Ich schaue ihn erst gar nicht an, damit er sich nichts einbildet und du nicht eifersüchtig wirst. Du unterhältst dich mit ihm, tippst ihm auf die Schulter. Das Gespräch erstirbt, als ich dazukomme. Du stellst ihn mir vor. Er heißt Petyr und kommt aus Kiew. So sentimental bist du, dass du ausgerechnet einen aus deiner Heimat engagieren musstest. Kann sein, dass ich fünf oder sechs Jahre alt bin, Pippi-Langstrumpf-Zöpfe, Kniestrümpfe, Schnallenschuhe und ein Kleid trage. Warum hast du mir das Musizieren nicht selbst beigebracht, mir erklärt, was es heißt Teufels- und Engelsmusik zu spielen? Schließlich habe ich dir jeden Tag zugehört, gespürt, wie du mit den Stücken gekämpft, gespielt hast. Ich habe gesehen, wie sie in die Hände klatschten, wie das Publikum dich verehrte, dir lauschte, als wärst du ein Gott. Dieselbe Bewunderung erkenne ich in den Augen von Petyr, in der Art, wie er mit dir redet. Er sieht aus, als wolle er sich verbeugen, dieser Petyr Eisenstein, ein Jude, wie du selbst. Er fragt dich dann, ob er anfangen darf, sagt mir, ich solle mich auf den Hocker vors Klavier setzen, will die Sitzhöhe einstellen, wartet darauf, dass du gehst, uns alleine lässt. Da öffnet sich die Tür, der Großvater erscheint, genießt die Maestrowirkung, die er auf andere ausübt, ein italienischer Gentleman, elegant gekleidet, immer der große Arturo Toscanini, dessen Tochter du geheiratet hast. „Wir möchten zuschauen“, höre ich dich mit deiner Ölstimme sagen. Ich will im Boden versinken. Wie die erste Stunde verlief, weiß ich nicht mehr. Mama hat dann ein Machtwort gesprochen, euch verboten beim Klavierunterricht dabei zu sein. Wegen dir, nur wegen dir, probier ich’s dann monatelang, gebe mir richtig Mühe, aber es klappt nicht, mein Kopf spielt nicht mit, die Hände verknoten sich und ich kann mich nicht konzentrieren. Wenn du mich fragst, ob ich dir etwas vorspielen kann, heule ich und renne so schnell es geht auf mein Zimmer.
Zweiter Satz: F-Dur/g-Moll
Aufwärts, abwärts schwingen acht Takte. Variationen melodischer Zärtlichkeit entstehen, wandern über g-Moll zu B-Dur, über d-Moll zurück zum F-Dur-Akkord. Ein Schweißtropfen landet auf den Tasten. Volodja öffnet für einen Moment die Augen, verschwommene Bilder tauchen auf, verschwinden. Er folgt dem Soniasingsang, dem Auf und Ab der Stimme, den Modulationen, Verästelungen, versteht gar nicht genau, was sie sagt, packt den Kofferraum mit dem Picknickkorb, einem Federballspiel, verabschiedet sich von Wanda, öffnet das Maybach-Verdeck. Sonja setzt sich neben ihn, legt den Gurt an. Sie ist zwölf Jahre alt, Ringellocken wackeln bei jeder Bewegung, eine Riesensonnenbrille verdeckt das Gesicht. Sie verlassen das Rauschen der Küste, das Plappern der Menschen, wenden sich den Bergen zu, die Räder tanzen durch die Passkurven, empor, immer weiter empor. Sonias Kleid leuchtet himmelblau, sie hat die Knie aneinandergepresst, schaut nach vorne, singt, betrachtet die Wälder, Esskastanien, Steineichen, Lärchen, Buchen, Kiefern, hört ihnen zu, beachtet Volodja kaum. Schmetterlinge flattern über die Wiesen. Harzgeruch breitet sich aus. Irgendwann niest Volodja lauthals, schüttelt sich. .
„Papa, ich hab extra was für dich eingepackt.“
„Ja? Was denn?“
„Mein Lieblingstaschentuch!“
Sie hält ihm das Seidentuch hin, hellrosa, mit bestickter Bordüre.
„Ach, das ist nett, mein Chou-chou-Mäuschen.“
„Papa, ich hab dir doch gesagt, du sollst mich nicht mit dem Babynamen ansprechen.“
„Mm, ja, ich weiß, manchmal denk ich, du bist noch ganz klein.“
„Ich schenk dir das Taschentuch. Aber du musst mir was versprechen.“
„Was denn?“
„Dass du mich nicht mehr Chou-chou nennst und…“
„Und?“
„Das Taschentuch immer bei dir trägst. Es bringt Glück!“
„Einverstanden.“
Dritter Satz: F-Dur / d-Moll
Volodja schlägt den Auftakt zum letzten Satz jäh, gleitet über die Tasten, berührt sie kaum, phrasiert das Thema wieder, weicht ein letztes Mal nach g-Moll aus, als wolle er das Finale verzögern, benutzt das Pedal und lässt den Akkord ausklingen. Bevor er die Augen öffnet, nimmt er das hellrosa Taschentuch, damit die Tränen sich mit Schweiß verbinden können.
Rauch wabert durch den Saal. An den Tischen halten Herren Zigarren in der Hand, grinsen rotlippige Makeupfrauen an. Im Hintergrund läuft leise Instrumentaljazz. Du trägst einen weißen Anzug, ein Gehstock baumelt an deinem Unterarm, hast dir Fingerhandschuhe aus Seide übergestülpt, wirkst wie einer aus den Zwanzigerjahrefilmen, wie damals, als du jung warst. Der spitzbauchige Besitzer des Etablissements eilt dir entgegen, schüttelt dir die Hand, verbeugt sich, führt dich zu einem Tisch in der ersten Reihe, am Rande der Bühne. Ein paar der Gäste erkennen dich, nicken in deine Richtung. Mama steht neben dir, unsichtbar. Ich sehe, wie du den Flügel anschaust, der zugeklappt, abgedeckt, am Rande steht. Ich bin aufgeregt, verkrieche mich hinter dem Vorhang. Ich bin Sonia Toscanini Horowitz, trete zum zweiten Mal im Club auf, trage ein Glitzerpaillettenkleid, als ich die Bühne betrete, das Mikrofon in die Hand nehme, den Blick über das Publikum hinwegschweifen lasse. Niemals irgendeinen aus dem Publikum fixieren, immer in die Ferne gleiten, ein Vogel, ein Schmetterling in den Lüften bleiben, das hast du gesagt und du hast recht. Ich singe Marlene Dietrich, Nancy Sinatra, Ella Fitzgerald. Du applaudierst nach „Lilli Marleen“. Während „Cheek to cheek“ stehst du auf, gehst zum Ausgang. Mama bleibt sitzen. Du kommst erst zurück, als ich fertig bin, klatschst noch einmal in die Hände, winkst mir zu.
„Ich geh weg von euch“, sage ich. Du schweigst. Du hast immer geschwiegen, dich verkrochen, klaviergehämmert. Mama redet mit mir, will mich zurückhalten. Ich erkläre ihr, es wäre schon alles vorbereitet, ich komme beim Großvater unter, in Sonnenitalien, wo sonst. Dort kann ich schlafen, mich ausruhen, nachdenken, singen, ja singen.
Finale
Wanda sitzt in der ersten Reihe. Horowitz sucht ihren Blick, findet ihn nicht. Sie wird bei ihm bleiben, ihn korrigieren, ihm über den Mund fahren, wenn er ein englisches Wort falsch benutzt. Die Köpfe der Menschen sehen wie Schatten aus, einigen sind Hörner gewachsen, sie grinsen aus Narbengesichtern, andere tragen Masken aus weißem Kalk. Dazwischen sitzen flügelbewehrte Engel.
Die Nachricht kam aus San Remo, ein Anruf aus der Villa des Schwiegervaters. Tabletten, zu viel Schlaftabletten, heißt es. Er füllt den Sarg mir Rosen, weiß, rosa, rot, trocknet sich die Tränen mit dem Seidentaschentuch, rosa, mit Bordüre. Dann wendet er sich ab. Die Träumerei hat er für Sonia gespielt, sagt er. Er lügt.