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Vibration

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10.09.2016
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Vibration

Wir hören einen Podcast über die Hexenjagd im Mittelalter. Friedlich döse ich gegen das Fenster des Flixbusses gelehnt, ihre Finger streicheln meine Stirn. Ich fühle sie hinter verschlossenen Augen, den leichten Druck. Ein Lächeln, wenn ich davon kurz erwache. In der Hoffnung, dass sie es sieht. Ein Zeichen der Dankbarkeit für die Geborgenheit, die sie mir schenkt.
Als wir vom Busbahnhof nach Hause laufen, erzählt sie mir von der Schönheit des Sonnenuntergangs, den ich verschlafen habe. Ich denke mir eine rote, über Kiefern und Autobahn verkleckerte Sonne. Allein die Vorstellung wärmt mich. 
Wir erreichen die Wohnung; obwohl es meine ist, fühlt es sich wie ein gemeinsames Nachhausekommen an. Wir setzen Tee auf, schnippeln Gemüse, schlafen miteinander. Wenn ich an gestern denke, drückt es wieder in der Brust. Wir sind auf dem Dancefloor und ständig kommen Typen zur Gruppe und immer wieder tauchen andere Typen auf, die zumindest in meiner Vorstellung etwas von ihr wollen. Am liebsten würde ich sie wegschubsen, fluchen, heulen, mich in eine Ecke verziehen. Es passiert immer wieder. Wenn sich uns andere Männer nähern, spannt mein Körper sich an, mir wird übel. Ich suche ihre Blicke, spüre ihre Lippen auf meinen, aber alles, was ich fühle, ist mein schlagendes Herz.
Ich trage das mit mir herum – auch am nächsten Tag, einem Montag, den wir krankfeiern. Wir haben noch etwas Mephedron. Das wollen wir im Laufe des Tages nehmen. Doch erst gibt es Pfannkuchen mit Ahornsirup für mich und mit Kirschen, Hanfsamen, Mandeln, gebratenen Äpfeln und Pistazienmus für sie. Manchmal löst sie Ehrfurcht in mir aus, weil ich in ihr etwas sehe, das ich selbst gern mehr wäre. Das Schöne: In diesen Punkten komme ich ihr immer näher und näher. Mein zweiter Pfannkuchen ist genau wie ihrer.
Nach dem Frühstück arbeiten wir nebeneinanderher. Das funktioniert besser als gedacht und tut uns gut, weil wir scheinbar doch noch was anderes können, außer essen und nackt zwischen Decken liegen. Später werfen wir uns ins Bett, füllen ein Marmeladenglas mit kleinen Zetteln, auf denen schöne Erinnerungen stehen. Wie wir uns gestern Nacht berauscht die schönsten Dinge sagten, während wir auf der Toilette des Clubs möglichst jedes geeignete Körperteil in den anderen hineinsteckten, um ihm noch ein bisschen näher zu sein. Wie Menschen mit vollen Blasen oder leeren Nasen an die Tür hämmerten, wir sie abwimmelten und nicht aus dem Grinsen rauskamen. Ich sagte ihr dort, ich wolle noch schöner für sie werden, noch besser, einfach unersetzlich. Als sie mir das später vorhielt, versuchte ich, ihr nicht in die Augen schauen. Sie sagte, dass es ihre Freiheit einschränke. Die Angst, aus dem Gefallenwollen und der Abhängigkeit, in die ich mich dadurch begab, nicht ausbrechen zu können, frustrierte mich. Wenig überzeugt, versprach ich, mich zu ändern. Auch das schreibe ich auf den Zettel. Ich falte ihn zusammen und lasse ihn ins Marmeladenglas fallen.
Der Teller mit dem Mephedron liegt auf dem Nachttisch bereit, ein gläserner Strohhalm daneben. „Es ist okay, wenn der Sex jetzt nicht krasser ist als sonst, oder?“, fragt sie. „Völlig okay“, sage ich. Da ist ein Strahlen in ihrem Gesicht und ich wette, es ist ein Spiegel meines eigenen. „Ich hab jetzt extrem Bock“, sage ich. Wir küssen uns.
Das Pulver landet im rechten Nasenloch, wo es einen brennenden Schmerz hinterlässt. Ich genieße ihn, atme noch tiefer hinein und reibe meinen Nasenflügel. Nach fünf Minuten, in denen ich mich erwartungsvoll beobachte, beginnen wir uns wie von selbst zu streicheln. Allein sie zu sehen, lässt warmes Glück durch meinen Körper strömen. Der Druck in der Brust ist verschwunden. Und dennoch frage ich sie nach den Typen, die vielleicht für sie interessant sein könnten. Nach Otto, Bastian und Siddharta. „Die sind keine Gefahr für mich, oder?“ Sie schüttelt den Kopf, als wollte sie sagen, ‚das weißt du doch selbst‘. „Auch wenn du vielleicht mal mit einem von ihnen schlafen wirst?“ Wieder schüttelt sie ruhig den Kopf und ich frage sie noch ein letztes Mal und wieder verneint sie es. Ich schließe die Augen, lasse sie los, mein ganzer Körper entspannt. „Wir sind so gut füreinander“, sage ich. „Gott liebt uns wirklich.“ „Ja, wir haben so ein Glück“, sagt sie. „Ich will, dass du mir sagst, wie geil du mich findest.“ Sie tut es und ich greife ihren Arm. Ihre Haut zu berühren, ist eine Wonne, lässt mich vor Nähe und Verbundenheit zersplittern. Sie berührt jede Stelle. Mit ihrem Mund, ihren Händen. Ich lasse sie das Sextoy in mich stecken, das wir bisher nur bei ihr verwendet haben. Viel Gleitgel und ein wenig Geduld. Ich spüre keine Geilheit, aber die Freude, ihr eine Freude zu machen. Sie schaltet auf Vibration. Hier könnte der Rausch einsetzen. Stattdessen fordere ich sie auf, Fotos von mir zu machen.
Später, als wir nüchtern gebratenes Gemüse essen, thematisiert sie mein Bedürfnis nach Sicherheit, was Otto, Bastian und Siddharta angeht. Und meinen Wunsch nach Bestätigung. Wieder schaue ich sie nicht an, will mich irgendwo verkriechen. „Ich ändere das“, sage ich. „Irgendwie.“

Wenn ich wie jetzt auf dem Sofa sitze und diese kleine Erzählung schreibe, ist die Frustration fast weggewischt; sind da vor allem Hoffnung, Gewissheit, Neugier. Zusammen werden wir uns verwirklichen, experimentieren, uns eine neue Identität zulegen, alle Unsicherheiten überwinden, alle Verbundenheit fühlen, völlig angenommen und gewollt sein. Früher oder später werden wir zu unseren Träumen werden. Meine Finger riechen noch nach ihr. Das macht mich so glücklich und zufrieden und das macht mich so unsicher.

 
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Später, als wir nüchtern gebratenes Gemüse essen, spiegelt sie mir mein Bedürfnis nach Sicherheit, was Otto, Bastian und Siddharta angeht.

Das spiegelt so die Geschichte wieder. Vollkommen undenkbar, dass die ein saftiges Steak essen, oder gar Lamm oder Kalb! Gott bewahre!

Ja, das ist gut verfasst, aber dennoch möchte ich dem Erzähler einfach unfassbar gerne meine Rechte verpassen, weil er wie so ein needy bastard rüberkommt. Was für eine Lusche, unerträglich. Diese demütigende Haltung einer Frau gegenüber, wie wenig Selbstwert, noch nicht einmal Selbstbewußtsein würde ich das nennen. Entweder eine Frau will mit dir zusammensein oder eben nicht. Warum sich ständig den Kopf zermartern? Und warum denkt sie nicht ähnlich, oder sieht der Erzähler aus wie ein Mülleimer? Hat sie nichts zu befürchten, gibt es keine anderen Frauen, die ihn attraktiv finden?

Ich lasse sie das Sextoy in mich stecken, das wir bisher nur bei ihr verwendet haben. Viel Gleitgel und ein wenig Geduld. Ich spüre keine Geilheit, aber die Freude, ihr eine Freude zu machen.
Der letzte Rest Würde geht dann hier von dannen. Das klingt auch alles so furchtbar politisch korrekt, das Sextoy haben wir ZUERST bei ihr verwendet. Verwendet! Wie ein Messerblock. Geil ist es nicht, aber ich lasse es über mich ergehen, weil ich diese Frau auf ein Podest gestellt habe und mir metaphorisch habe die Eier abschneiden lassen.

Ja, insofern ist der Text verdammt gut geschrieben, weil er wie ein Brennglas auf eine mir vollkommen wesensfremde Generation Menschen bzw Männer blickt. Mir muss das inhaltlich natürlich nicht gefallen, aber darum geht es hier ja nicht, bei der Textarbeit. Erinnert sehr an modern-ironische Schreibschulentexte, siehe Open Mic etc.

Gruss, Jimmy

 

Hallo @Carlo Zwei,

ein interessanter Text!

Friedlich döse ich gegen das Fenster des Flixbusses gelehnt, ihre Finger streicheln meine Stirn. Ich fühle sie hinter verschlossenen Augen, den leichten Druck. Ein Lächeln, wenn ich davon kurz erwache.

'Gegen das Fenster des Flixbusses gelehnt döse ich friedlich vor mich hin, ihre Finger streicheln meine Stirn.' (So wird vermieden, dass es so klingt, als wenn man gegen das Fenster döst - so wie man gegen ein Fenster drücken könnte - "Friedlich döse ich gegen das Fenster". Vielleicht ist das nur ein persönlicher gedanklicher Irrweg).

Irritiert hat mich 'die Finger hinter den Augen' zu spüren. (Auf den Augenlidern?).

Wir erreichen die Wohnung; obwohl es meine ist, fühlt es sich wie ein gemeinsames Nachhausekommen an
So passt die Chronologie: "Wir erreichen die Wohnung, es fühlt es sich wie ein gemeinsames Nachhausekommen an, obwohl es meine ist."

Wir setzen Tee auf, schnippeln Gemüse, schlafen miteinander
Schreib doch 'Ich setze ...' - dann wiederholt sich "wir" nicht.

Die Angst, aus dem Gefallenwollen und der Abhängigkeit, in die ich mich dadurch begab, nicht ausbrechen zu können, frustrierte mich.
Die Einschublastige-Satzkonstruktion hemmt den Lesefluss.
Vielleicht: Ich begab mich in eine (suchtähnliche) Abhängigkeit, nur um ihr zu gefallen. Die Angst, nie mehr ausbrechen zu können eroberte meine Gefühle (Gedanken?).

Ich genieße ihn, atme noch tiefer hinein und reibe meinen Nasenflügel.

Der Protagonist erdient sich die sexuelle Aufmerksamkeit seiner Partnerin durch Unterwürfigkeit bis zur Selbstaufgabe. Ob da ein versteckter Bedarf an Masochismus eine Rolle spielt? Eher ein überbordendes Bedürfnis zu gefallen und die Unfreiheit nach eigenen Regeln agieren zu können.
Mal eine Geschichte mit weniger geläufigem Inhalt, mit diesen Rollenbeschreibungen, auch einem sich selbst dressierende Mann.
Manchmal gibt es einem Text Tiefe, wenn man die Hintergründe eines Verhaltens gezeigt bekommt oder erschließen kann. In diesem Fall habe ich diese Informationen nicht vermisst.

Grüße,

Woltochinon

 

Ein Text, der einerseits verdammt schmerzhaft ist - andererseits eine Schönheit, eine Amour Fou extrem gekonnt einfängt. Ich konnte mitfühlen, auch wenn die Welt ein wenig mehr Leipziger Clubbing Hipsteria - taufe ich es nicht böse gemeint - widerspiegelt, als ich es kenne, und ich insofern als Außenstehender den Text rezipiere. Was ich besonders gelungen finde, sind die Details, was seine Gedanken angeht, über die Beziehung, über sich, die gnadenlos ehrlichen Selbstzweifel und Unsicherheiten - das braucht viel Feingespühr, das wahrzunehmen, aufzugreifen und sich selbst einzugestehen. Und für mich als Leser ist das ungemein interessant - es entsteht beinahe eine intime Beziehung zwischen Erzähler und Leser, weil er eben so schonungslos ehrlich ist und ich dabei bin, als er sich was in den Arsch stecken lässt. Die Szene hat etwas ungewollt Komisches, also ich würde sie nicht ändern, ich musste jetzt nicht lachen oder so, ich hab die Intimität verstanden zwischen den beiden, und du beschreibst Sex, Beziehung, Selbstfindung sehr individuell, uptodate, „woke“, das ist eine Generation und ein Zeitgeist, der noch einmal nachdrehen möchte, der noch einmal das Zwischenmenschliche neu erfinden, besser, näher machen will, allgemein ist dieses unstillbare Bedürfnis nach Nähe ein tolles Motiv, das sich durch den Text zieht, die stecken sich ihre Finger ineinander, wie es nur geht, bekunden sich auch durch Worte Eindringliches, wie es nur geht, also die maximale Intimität und Nähe - aber trotzdem bleibt da diese Einsamkeit, diese Angst, all das wieder zu verlieren und die Angst vor der Nicht-Nähe alleine. Sie machen all dies, aver - und das ist keine Textkritik, sondern, was der tolle Text bei mir ausgelöst hat an Gedanken - sie bleiben trotzdem einsam, weil sie sich nicht gänzlich aneinander binden können oder wollen, und deswegen bleibt da dieser unstillbare Appetit auf Nähe. Das gipfelt in der Vibratorszene, die großartig ist, weil man sie romantisch, intim, humoresk, kritisch, selbsterniedrigend oder selbsterhöhend lesen kann. Es ist auch wahnsinnig intim und es kommt so authentisch rüber - da gipfelt diese Verschmelzung aus Romantik und Schmerzhaftigkeit, aber auch aus dem unstillbaren Verlangen nach Nähe und gleichzeitiger Einsamkeit. Aber - und das macht den Text interessant - gleichzeitig sehe ich die beiden nicht pessimistisch oder grundlegend verloren, ich weiß, dass das meine biased Sicht ist - genauso denke ich, wie stark, was die haben, die gehen richtig darin auf, irgendwie freue ich mich genauso, und denke, die könnten auch verdammt glücklich sein und werden. Ich merke, ich verstehe sie nicht, weil es nicht meine Welt wirklich ist, aber gleichzeitig ist dieser Blick ins Andere super spannend, und toll gemacht, auch handwerklich.

Diesen Teil habe ich nicht ganz verstanden, weil er doppeldeutig ist:

Später, als wir nüchtern gebratenes Gemüse essen, spiegelt sie mir mein Bedürfnis nach Sicherheit, was Otto, Bastian und Siddharta angeht.
Spiegelt sie - heißt das, sie sagt ihm dasselbe, oder wirft sie ihm sein Bedürfnis vor?

Starker, intimer, schmerzhafter und interessanter Text!

zigga

 

Hey @jimmysalaryman ,

man, wie geil. Über ein Jahr später und der erste Kommentar gleich von dir. Ist der erste Text, den ich in der ganzen Zeit geschrieben habe.

Dein Kommentar hat mich gefreut und auch ein bisschen nachdenklich gemacht. Ich fühle mich geehrt, dass du den Text gut gemacht findest. Gibt mir das Gefühl, dass ich es nicht verlernt habe. Danke dir dafür! Als ich deinen Konflikt mit dem Textinhalt gelesen habe, da war ich tatsächlich zwischen "versteh ich" und "irritiert mich". Der Text zeigt ja tatsächlich einen Moment großer (männlicher) Unsicherheit und Ängstlichkeit. Ich denke auch, dass er diese Emotionen ausspielt und dadurch 'unangenehm' erfahrbar macht. Das berührt die eigene moralisch, ethische Orientierung (auch was eigene Vorstellungen von mänllichem Verhalten angeht) und ja, auch Sicherheit ("wenn ich so wäre, dann würde alles den Bach runtergehen"), vielleicht auch Identität ("so bin ich nicht, so werde ich nie sein"). Wollte dir eigentlich nur sagen, dass ich das sehr nachvollziehen kann und dass ich das beim Lesen deines Kommentars über den Text, den ich selbstgeschrieben habe, plötzlich auch nochmal mehr gefühlt habe. Was mich irritiert ist, zu lesen, dass du dem Protagonisten gerne metaphorisch eine reinzimmern wollen würdest, ihn so krass abstoßend weich findest (wenn ich dich da korrekt paraphrasiere), dass es dir die Zehnägel hochrollen lässt. Weil ich merke, dass es das bei mir nicht tut, ich vielleicht eine andere Definition von Männlichkeit habe. Ich gehe zum Beispiel bei dem 'auf ein Podest stellen' und so weiter mit, aber nicht bei dieser kompletten Entwürdigung und Selbstkastration. Warum irritiert mich das jetzt? Weil ich dich mag und ich es dann manchmal erst mal einordnen muss, wenn Haltungen dann trotzdem so auseinandergehen. Aber das – Selbstnotiz – halte ich aus .

Danke dir, dass du dich gleich zum Text gemeldet hast. Schön, dass du hier nicht in der Zwischenzeit abhanden gekommen bist. Freue mich auf den nächsten Text von dir, den ich hoffentlich nicht verpasse.

Cheers to you!
Carlo

 

Hey @Woltochinon ,

danke für deinen Kommentar. Hat mich gefreut. Deine Änderungsvorschläge weiß ich zu schätzen, da steckt Zeit drin, das extra rauszuschreiben, danke dir dafür. Ist mir wichtig zu sagen, weil ich deine Arbeit da auch würdigen will. Andererseits fühle ich bei den Beispielen nicht wirklicj Handlungsbedarf, weil ich mit dem Rhythmus den sie betreffen zufrieden bin und eher den Eindruck habe, dass die vorgeschlagenen Änderungen den stören würden. Ich werde sie deshalb erstmal nicht übernehmen. Danke dir trotzde für die Zeit und Mühe!

Hat mich auf jeden Fall gefreut, zu lesen, dass du dem Text was abgewinnen kannst (und danke, dass du da noch deine Gedanken geteilt hast!). Das ging gut runter. Vielleicht schreibe ich noch mehr in die Richtung.

Viele Grüße
Carlo

–––––––––––––––––––-

Ziggaaaaa @zigga ,

wie geil, dass du gleich am Start bist so wie Jimmy. Hab mich sehr und auf vielen Ebenen über deine Worte gefreut. Erst einmal vielen Dank, dass du dir diese tiefgründigen Gedanken und Betrachtungen gemacht hast und die mit mir teilst. Macht einfach ein bisschen glücklich so deine Begeisterung für einen Text zu lesen, mit dem du irgendwie mitfühlen konntest, weil ich merke, es steckt mich an, ich begeistere mich plötzlich auch nochmal mehr dafür und fühle mich auch motiviert irgendwie an diesem Stil (intim, authentisch, wie auch immer) festzuhalten. Großen Dank für den Motivations- und Bestätigungskick!
Ich fand deine Betrachtung über dieses Generation-Bild, was dort für dich gezeichnet ist, ziemlich spannend, weil mir viele deiner Überlegungen sehr wahr vorkommen und weil diese starken Deutungen ja per se schon ein krasses Orientierungsangebot deinerseits zu dem im Text geschilderten Lifestyle-Potpourri-Jungel darstellt. Ich gehe da auch in der Vielseitigkeit, mit der du das darstellst, mit:

Das gipfelt in der Vibratorszene, die großartig ist, weil man sie romantisch, intim, humoresk, kritisch, selbsterniedrigend oder selbsterhöhend lesen kann.
genauso denke ich, wie stark, was die haben, die gehen richtig darin auf, irgendwie freue ich mich genauso, und denke, die könnten auch verdammt glücklich sein und werden
sie bleiben trotzdem einsam, weil sie sich nicht gänzlich aneinander binden können oder wollen, und deswegen bleibt da dieser unstillbare Appetit auf Nähe

Irgendwie benennst du da (zugegeben kritisch) ein Kernelement in offenen Beziehungsformaten. Man könnte diese Nähelust aber ja auch als Illusion auffassen. Als willing suspense of disbelief – immerhin merken wir immer spätestens mit dem scheiden einer Person, dass die Verschmelzung, die wir uns vorgestellt haben, doch irgendwie nicht stimmte. Andererseits ist es genau wie du sagst. In offenen Formaten darf dieser Appetit ja schließlich dann auch anderweitig gestillt werden, sodass die Intimität sich konsensual auf verschiedene Menschen verteilt, so die Theorie.

Die stelle mit dem "spiegelt" ändere ich gleich, ist wirklich doppeldeutig und ich hatte auch schon selbst damit gehadert (Edit: Habs geändert). Danke dir, guter Zigga!

Carlo

 

Was mich irritiert ist, zu lesen, dass du dem Protagonisten gerne metaphorisch eine reinzimmern wollen würdest, ihn so krass abstoßend weich findest (wenn ich dich da korrekt paraphrasiere), dass es dir die Zehnägel hochrollen lässt. Weil ich merke, dass es das bei mir nicht tut, ich vielleicht eine andere Definition von Männlichkeit habe.

Moin, ich nochmal.

Ich denke erstmal, dass es ein ausgesprochenes Kompliment für den Text ist, wenn er solche Empfindungen evozieren kann. Der lässt einen, also in dem Fall mich, nicht kalt. Mir geht es weniger um Männlichkeit, von der ich nie so genau weiß, was das sein soll? Wird viel drüber geschrieben und spekuliert, meistens und oft ja von Frauen, die Männlichkeit gerne neu definieren wollen, ich frage mich immer noch, was das genau sein soll? Ein Set an Attributen? Ich werfe mal in den Raum, gerne genommen; Loyalität, Selbstbewußtsein, Eigenverantworung, überhaupt Verantwortung, eine gewisse Geradlinigkeit, Selbstdisziplin, Meritokratie, vielleicht Stolz, Resilienz, emotionale Belastbarkeit. Das ist doch so das Bullshit-Bingo der Männlichkeitsdefinition. Viele Werte würde ich unterschreiben, aber nicht auf das männliche Geschlecht bezogen, das sind Werte, die unabhängig vom Geschlecht funktionieren. Zum Mann macht mich doch strenggenommen nur meine Geschlechtsorgane und eine andere hormonelle Zusammensetzung im Körper, oder? Ich würde es also als ähnlich problematisch empfinden, wenn eine Frau so reagieren würde. Das liegt natürlich an meiner Sozialisation, ich bin auch was Beziehungen angeht, konservativ: Entweder ist eine Frau mit mir zusammen oder eben nicht. Da gibt es keine anderen Partner oder irgendwelche polyamourösen Experimente. Und für mich ist das einfach eine demütigende Haltung, wenn ich mich emotional so abhängig von einem Partner mache; jeder kennt das Gefühl wahrscheinlich selbst, das ist ja eine extreme Form der Verlustangst, über die man sich denn selbst definiert und die wie ein Damokles Schwert über allem schwebt. Es ist auch sehr einfach, sich dem hinzugeben, denke ich. Aber was sagt das über mein Selbstbild aus, wieviel bin ich mir selbst wert? Wie tief bin ich bereit zu sinken, nur um mit diesem Partner zusammensein zu dürfen? Was will ich von mir selbst aufgeben? Das ist für mich der breeding ground einer toxischen Beziehung. Das ist natürlich meine persönliche Empirie, und ich werte das auch gar nicht, ich sage nur, ICH kann es mir nicht vorstellen, FÜR MICH und in meinen Augen ist das so. Unterschiedliche Haltungen muss man eben aushalten, Ambiguitätstoleranz ist doch das Stichwort der Stunde.

Nochmals ein paar erweiterte Gedanken zu dem Text und/oder meiner Antwort und deinem Text, den ich immer noch als sehr gut emfinde, er fängt in gebotener Kürze sehr viel ein, das ist schon die gute Schule.

Gruss, Jimmy

 

Hallo @Carlo Zwei,

beim Prokrastinieren surfte ich mal wieder auf Wortkrieger und stolperte über Deinen Text, den ich handwerklich sehr gut finde, der mir aber inhaltlich vor Augen führt, dass ich langsam zu den Dinosaurieren gehöre - nicht zu den ganz alten Dinos, die gerade die Zukunft der Jugend in Zinszahlungen ertränken möchte, aber offensichtlich Dino genug, um bei Deinem Protagonisten ein Halswirbensäulentrauma vor lauter Kopfschütteln zu bekommen.

Zunächst aber etwas
Textkritik

Wir hören einen Podcast über die Hexenjagd im Mittelalter.

Den ersten Satz würde ich streichen. Er ist nichtssagend. Klar, die beiden hören gemeinsam diesen Podcast, aber warum ist das wichtig? Die Hexenjagd spielt im weiteren Verlauf des Textes keine Rolle, zumindest keine, die ich gesehen habe.

Ich fände den zweiten Satz als Einstieg besser.

Ich fühle sie hinter verschlossenen Augen, den leichten Druck.
Warum sind die Augen "verschlossen" und nicht "geschlossen"? Verschlossen klingt so, als ob sie jemand "zugesperrt" hat.

Ein Lächeln, wenn ich davon kurz erwache. In der Hoffnung, dass sie es sieht. Ein Zeichen der Dankbarkeit für die Geborgenheit, die sie mir schenkt.
Von der Reihenfolge her stört mich der Mitteilteil "In der Hoffnung ...". Ich persönlich würde den Teil entweder streichen oder ans Ende des Dreiergespanns verlagern, was gleichzeitig auch die Aussage verstärken würde, dass er in erster Linue nur lächelt, um ihr zu gefallen (was ein zentrales Motiv in dem Text ist). Natürlich müsste der Satz dann umgebaut werden, um den Rhythmus zu erhalten.


Manchmal löst sie Ehrfurcht in mir aus, weil ich in ihr etwas sehe, das ich selbst gern mehr wäre. Das Schöne: In diesen Punkten komme ich ihr immer näher und näher. Mein zweiter Pfannkuchen ist genau wie ihrer.
Das "manchmal" irritiert mich, weil ich den Text so verstehe, dass sie sich gerade erst kennengelernt haben und ich das "manchmal" eher mit einer längeren Beziehung in Verbindung bringe.


Nach dem Frühstück arbeiten wir nebeneinanderher.

Im Absatz vorher steht, dass sie krankfeiern; daher die Frage: Was arbeiten sie denn?

Sie schaltet auf Vibration. Hier könnte der Rausch einsetzen. Stattdessen fordere ich sie auf, Fotos von mir zu machen.

Warum die Fotos? Für mich fällt das etwas aus dem Rahmen. Will er diesen Moment der Selbstaufgabe von ihr festgehalten haben, einrahmen und übers Bett hängen?

Später, als wir nüchtern gebratenes Gemüse essen, thematisiert sie mein Bedürfnis nach Sicherheit, was Otto, Bastian und Siddharta angeht.

Hier kann man stolperen und lesen, dass das Gemüse nüchtern gebraten wurde. Warum ist es so wichtig, dass beide wieder nüchtern sind? Ich glaube, dass man das als Leser übrigens automatisch mitliest, wäre also ein Streichkandidat.

Zusammen werden wir uns verwirklichen, experimentieren, uns eine neue Identität zulegen, alle Unsicherheiten überwinden, alle Verbundenheit fühlen, völlig angenommen und gewollt sein.

Der letzte Teil "völlig angenommen ..." passt nicht zum "wir", denn da steht ja "zusammen werden wir völlig angenommen sein und gewollt sein". Das kann natürlich Absicht sein, aber der letzte Teil drückt nur seinen Wunsch aus (sie will ja jemand anderen, sonst würde sie ihn nicht dazu überreden Dinge für ihre Befriedung zu tun, die er gar nicht gut findet).

Inhalt

Wie eingangs erwähnt, muss ich jetzt Halskrause tragen. Beim Lesen dachte ich wirlich "WTF". Was für ein Problem hat der Typ? Das passt ganz gut, weil ich gestern zu einem jüngeren, männlichen Wesen etwas in der Art sagte: "Junge, ich habe Verständnis für die Pubertät, aber jetzt kneif die Arschbacken zusammen, nimm Dein Leben in die Hand, sei ein Kerl und keine Memme und regel Deinen Schulkram und höre auf die Schuld bei anderen zu suchen, den Lehrern, dem System, dem Stoff. Es gibt nur einen, der Verantwortung für Deine Leistung trägt und das bist Du selbst." [Das ist natürlich nicht alles, was ich diesem jungen Menschen gesagt habe.]

Und dann lese ich heute Deinen Text - Dein Protagonist ist allerdings nicht mehr pubertär, auch wenn er sich teilweise so benimmt. Ich hatte mich beim Lesen schon dabei ertappt, einen Therapeuten zu suchen, damit Dein armer Protagonist seine verkorkste Kindheit aufarbeiten kann. Offensichtlich fehlt im mütterliche Liebe, elterliches angenommen sein, etc.
Das führt uns zum Thema Männlichkeit, welches ja auch @jimmysalaryman wie immer sehr treffend auf den Punkt gebracht hat und dem Du ein Stück weit folgendes entgegenhältst:

Der Text zeigt ja tatsächlich einen Moment großer (männlicher) Unsicherheit und Ängstlichkeit. Ich denke auch, dass er diese Emotionen ausspielt und dadurch 'unangenehm' erfahrbar macht.

Es geht hier aus meiner Sicht aber nicht um männliche Unsicherheit und Ängstlichkeit. Jemand der sich so verhält wie Dein Protagonist hat ganz andere Probleme. Er ist aus meiner Sicht therapiebedürftig, weil er sich offensichtlich in der Kindheit nicht angenommen und gewollt gefühlt hat. Dies ist eine Art Trauma, das vielleicht vielen Männer widerfährt und und in jüngerer Zeit womöglich häufiger, weil das "typische Jungsverhalten" mehr Ablehnung als früher erfährt, aber es hat nichts mit typisch männlicher Unsicherheit und Verletzlichkeit zu tun. Mädchen werden auch aus meiner persönlichen Erfahren von klein auf viel positiver wahrgenommen: ach ist die süß, du kannst aber toll malen, du tanzt so schön, blablabla. Bei Jungs heißt es: Du bist zu laut, du bist zu wild, du hast XY kaputt gemacht, warum schlägst Du, etc.

Männliche Unsicherheit und Verletzlichkeit entsteht wenn dann aus dem Problem, dass Männer damit hadern, dem gesellschaftlich vorgegebenen Rollenbildern gerecht zu werden (junges weibliches Wesen rezitierte kürzlich aus dem Schulstoff: "Jungs dürfen nicht weinen" - das ist sogar mir zu viel Dino ;-) ) und in schwachen Momenten das Gefühl haben, dem nicht gerecht werden zu können, von ihren Emotionen überwältigt werden und dann in Ersatzhandlungen flüchten (und womöglich auch Aggressionen entwickeln).

Dein Protagonist möchte ums "Verrecken" gefallen und angenommen werden und lässt sich dafür sogar anal vergewaltigen (man lese den Text mal mit vertauschen Geschlechtern ... ).

Aber wenn das wirklich die neue männliche Unsicherheit und Ängstlichkeit ist, dann bin ich wahrscheinlich doch ein zu alter Dino.

Wie auch immer, handwerklich ein super Text und ein schönes Prokrastinierobjekt - also vielen Dank fürs Einstellen.

Gruß Geschichtenwerker

 

Hallo Carlo Zwei,

ich habe ja den ganzen Text lang gewartet, ob du das mit den Hexen aus dem ersten Satz nochmal aufgreifst, aber so wirklich kam es nicht. Nur etwas versteckt, vielleicht, wie hier:

Manchmal löst sie Ehrfurcht in mir aus, weil ich in ihr etwas sehe, das ich selbst gern mehr wäre.

Denn ja, dein Protagonist ist ziemlich verschossen in das Mädchen, er himmelt sie an, vergöttert sie, oder vielleicht ist er gelähmt von ihrem Gift? Das Gift einer Hexe, ganz sicher!

Wie man das auch sehen mag, ich habs gern gelesen, auch wenn mir dann doch irgendwie die Geschichte gefehlt hat. Gegen Ende hin habe ich das Gefühl gehabt, dir ist die Muße flöten gegangen und du hattest dann so einen halben Text und hast noch versucht, ihn irgendwie zu beenden.

Wieder schaue ich sie nicht an, will mich irgendwo verkriechen. „Ich ändere das“, sage ich. „Irgendwie.“

Da war der Text für mich eigentlich zuende. Wenn du das vielleicht etwas dramatischer formuliert hättest, mit einem Wink, einem Ausblick, es wäre runder gewesen.

Dein letzter Absatz klingt für mich so erklärend, als wärst du dir nicht sicher gewesen, dass die Geschichte alleine schon trägt.

Was mir noch aufgefallen ist: Absätze bei Dialogwechseln helfen beim Lesen und lockern den Text auf. Ebenso, wenn du die Perspektive wechselst.

yours

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Carlo Zwei , jetzt schreibe ich dir hier, bevor ich mich noch auf deinen letzten Kommentar zurückmelde. Wenn schon langsam, dann wenigstens in umgekehrter Reihenfolge. Ich habe deinen Text gern gelesen; er hat mich an zwei frühere Beziehungsgeschichten von dir erinnert: einmal die Islandgeschichte, in Bezug auf die Ästhetisierung des Lebens oder eher des Erlebens, aber auch an einen Text über einen jungen Mann, der in München lebt und eine Nacht mit einer Frau in Berlin verbringt, ich habe Titel und Kontext vergessen. Die Nacht habe ich nicht vergessen! Ein detailliert beschriebener Flop und auch ein Text, in dem die Machtverhältnisse innerhalb des Paares im Fokus stehen. Ob "Vibration" tatsächlich eine Kurzgeschichte istt, ich weiß nicht recht, vielleicht eher eine Skizze, Flash Fiction o.ä.
Die Unsicherheit des Protagonisten und die leichte Komik, die entsteht, wenn er sich vornimmt, nicht mehr unsicher zu sein: Das ist sehr deutlich. "Sie" hingegen ist weniger klar. Beim ersten Lesen dachte ich, die hat ihre Koffer inwendig schon gepackt und macht sich jetzt vom Acker, beim zweiten Lesen schien mir, dass sie vielleicht nicht nur die Macht genießt, die sie bereits über ihn hat, sondern ihre Position noch zusätzlich dadurch stärkt, dass sie ihm zu verstehen gibt, dass er eigentlich nicht gut genug ist (nämlich zu abhängig). Mit der Intention, ihm das in alle Ewigkeit vorzuwerfen, um ihn in alle Ewigkeit unsicher zu halten. Für ihn ist und bleibt sie opak, aber für den Leser muss das nicht der Fall sein.
Aber das sind mehr allgemeine Überlegungen, falls du in der Richtung weitergraben magst.
Ein paar konkretere Anmerkungen:

Wir hören einen Podcast über die Hexenjagd im Mittelalter. Friedlich döse ich gegen das Fenster des Flixbusses gelehnt, ihre Finger streicheln meine Stirn. Ich fühle sie hinter verschlossenen Augen, den leichten Druck. Ein Lächeln, wenn ich davon kurz erwache. In der Hoffnung, dass sie es sieht. Ein Zeichen der Dankbarkeit für die Geborgenheit, die sie mir schenkt.
An sich habe ich mit der Hexenjagd im Mittelalter oder zumindest dem Podcast darüber kein Problem. Allerdings ist das ein Beginn, der von dem eigentlichen Anfang (dösen) eher entfernt ist und eigentlich nichts mit der Erzählung zu tun hat.
Wir sind auf dem Dancefloor und ständig kommen Typen zur Gruppe
Für mich wäre ein etwas klareres Bild hilfreich. Sie sind mit mehreren männlichen Freunden im Club, (Siddharta & co.) und es kommen ständig andere Typen dazu?
Die Angst, aus dem Gefallenwollen und der Abhängigkeit, in die ich mich dadurch begab, nicht ausbrechen zu können, frustrierte mich.
Ich finde den Satz etwas unglücklich verschachtelt (nicht, dass ich ein Problem mit Schachtelsätzen hätte!) und noch dazu unnötig. Steckt alles in den Sätzen davor und danach!
Hier könnte der Rausch einsetzen. Stattdessen fordere ich sie auf, Fotos von mir zu machen.
Das war so ein Island-Moment für mich: Fotografieren, statt zu fühlen oder fotografieren, um zu fühlen.
nüchtern gebratenes Gemüse
Also das Problem hatte nur ich. Aber ich dachte tatsächlich, nüchtern gebraten analog zu scharf gebraten. Man weiß ja nie, was für neue Garmethoden in Selbstverwirklicherkreisen im Umlauf sind.
Das macht mich so glücklich und zufrieden und das macht mich so unsicher.
Macht es ihn unsicher, dass seine Finger nach ihr riechen oder dass sie ihn so, wie er ist ,(eifersüchtig/unsicher) nicht will?

Liebe Grüße
Placidus

 

Hallo @Carlo Zwei

Ein Mann, der es richtig machen will. Sehr reflexiv. Ich lese hier einen typischen Universitätsstadtbewohner der Alterskohorte 20-30 in Angesicht eines emotionalen Großprojekts, hier: Verzehrendes Verliebtsein. Emotional sind alle Kanäle auf Madame eingestellt. Sexuell experimentierfreudig. Aber dann reflektiert er: Der Tagesablauf funktioniert(!) besser als gedacht, der Rausch könnte hier einsetzen, stellt er bei anrüchiger Intimität fest. Da lese ich auch eine Vorstellung heraus, wie die Welt denn sein soll, ohne dass du das inhaltlich ausfüllst. Ein Mensch, der eben richtig sein will. Der denkt und sich, denke ich, auch als gut empfindet. Als ein guter Mensch, mit einer bestimmten Haltung, einer bestimmten Idee. Bedürfnisse werden verbalisiert, perspektivisch analysiert, ggf. validiert und zur allgemeinen Zufriedenheit im Konsens gelöst.

Irgendwo hat dein Text etwas zeitgeistiges, er versucht ein bestimmtes Gesamtbild einzufangen und zu skizzieren. Das gelingt dir, finde ich, sehr, sehr gut, weil die Persönlichkeit durchscheint, ohne dass sie konkret wird: Irgendwo ein unsicherer, Alles-richtig-machen-wollender-Mensch, der das Andere braucht, um sich selbst zu erkennen oder zu spüren. Was zeichnet ihn denn aus? Was ist denn seine Identität? Die schimmert hier nicht durch, weil sie für ihn selbst kaum Bedeutung trägt. So habe ich tiefes Mitleid mit ihm, weil ich ahne, welche Dramen diesem Menschen begegnen werden. Aus sadistischer Sicht finde ich es schade, dass er mit den letzten Absätzen eine Art Frieden schließt. Welche Dramen er doch noch zu erleiden habe! Welche emotionale Schockwellen sein Leib durchfahren solle! All das, was möglicherweise gekommen ist, wurde prima verarbeitet, im Gedächtnis effektiv einsortiert und dient als nostalgisches Ausgangsmaterial einer vergangenen Zeit. Deswegen bin ich mir unsicher, ob diese nostalgische Friedensrückschau zum Ende deinem Text hilft.

lg
kiroly

 

@Carlo Zwei
Lieber Carlo,

ja, wirklich ein interessanter Text, der bei mir viel auslöst, auch viel Ambivalentes. Formal gibt es einen Konflikt, der immer wieder aufscheint, der aber nicht gelöst wird. Am Ende ist dein Erzähler hoffnungsvoll und ich bleibe überrascht und zweifelnd zurück.
Zu Beginn ist das so honigsüß, dass ich, vielleicht aus meiner Leserinnenerwartung heraus, im Verlauf mit etwas Gewaltvollem rechnete.
Ein frisch verliebtes Paar, dass sich wie etwas Besonderes, Auserwähltes fühlt, rauschhafte Glücksgefühle und schon keimt die Angst, das alles zu verlieren, vielleicht auch das Wissen, dass nichts ewig bleibt. Im Prinzip ja nicht ungewöhnlich. Die Bewegung, die vor allem er anstrebt ist ja immer noch näher, noch enger, bis zur Verschmelzung, bis er in ihr aufgeht, ein bisschen mehr "sie" wird. Drogen helfen das Gefühl der Entgrenzung, den Rausch noch zu steigern. Doch selbst in Momenten größtmöglicher Nähe ist da diese Riesenunsicherheit bei ihm, was ich für den Text spannend finde, denn da wird gefühlt immer noch einer draufgesetzt, Anstrengung versprochen um es ihr noch rechter zu machen, Bestätigung eingefordert, sogar Gott muss herhalten. Er wird es aushalten müssen, dass er nicht komplett in sie hineinkriechen kann, denke ich, dass er auf seinen eigenen Füßen stehen muss.
Ich habe mich gefragt, wie ich die Geschichte lesen würde, wenn die Geschlechter getauscht wären. Denn diesen Aspekt gibt es ja auch, dass seine Eigenschaften "Hingabe", "Unsicherheit", "schön sein wollen für den anderen", "gefallen wollen", "sich anpassen" bis hin zu der Praktik mit dem Vibrator traditionell bei Frauen eher toleriert werden, während Männer das lieber nicht so zeigen sollen. Insofern kann man sagen, dass dein Erzähler sich dem Thema immerhin stellt, dass er da durch geht und vielleicht dadurch überhaupt erst Weiterentwicklung möglich ist. Also eine andere Art männliches Selbstbewußtsein.
Ich habe beim Lesen ihm gegenüber vor allem mütterliche Gefühle, merke ich. Und es schnürt mir die Luft ab, wenn ich mich in die Frau versetze. Ich erlebe seine Freundin ihm gegenüber sehr in der Erwachsenenrolle, besonders in solchen Szenen:

Später, als wir nüchtern gebratenes Gemüse essen, thematisiert sie mein Bedürfnis nach Sicherheit, was Otto, Bastian und Siddharta angeht. Und meinen Wunsch nach Bestätigung. Wieder schaue ich sie nicht an, will mich irgendwo verkriechen. „Ich ändere das“, sage ich. „Irgendwie.“
Sie "thematisiert" sein "Bedürfnis" später, d.h. sie hat sich unter Kontrolle, wartet auf den richtigen Zeitpunkt, während er sehr impulsiv reagiert.
Aber vielleicht funktioniert dieses Paar auch gerade deshalb, weil sie so zueinander passen. Und vielleicht gibt es auch andere Bereiche, wo die Rollenverteilung anders ist, oder ein anderer Kontakt möglich ist. Er konstatiert ja mit einer gewissen Erleichterung, dass sie auch nebeneinander arbeiten können. In dieser Geschichte sehen wir ja nur einen kleinen Ausschnitt an einem bestimmten Punkt einer Beziehung und der befindet sich halt genau in der allerersten Phase, wo man nicht genug voneinander kriegen kann.

Also ungewöhnlich, aus männlicher Sicht diese Themen behandelt. Irgendwo habe ich was von offener Beziehung gelesen. Habe ich da was übersehen?

„Auch wenn du vielleicht mal mit einem von ihnen schlafen wirst?“ Wieder schüttelt sie ruhig den Kopf und ich frage sie noch ein letztes Mal und wieder verneint sie es.
Oder ist es das?

Wir hören einen Podcast über die Hexenjagd im Mittelalter.
Schon ein Hinweis darauf, dass er sich da in eine weibliche Welt mit weiblichen Themen begibt. Und beim Thema Hexen geht es ja unter anderem (neben dem Sündenbockthema) auch um die Angst vor weiblicher Macht, denke ich. Und ich fragte mich anfangs auch auf Grund dieses Einstiegs, ob es einen Punkt geben könnte, wo die Art, wie er sie idealisiert, sein Kontrollbedürfnis auch umschlagen könnte in etwas, was gefährlich für sie wird.

Ein Zeichen der Dankbarkeit für die Geborgenheit, die sie mir schenkt.
"Dankbarkeit","Geborgenheit", "schenkt" weckt in der Kombination bei mir sehr mütterliche Assoziationen und setzt schon gleich einen Ton.
Als wir vom Busbahnhof nach Hause laufen, erzählt sie mir von der Schönheit des Sonnenuntergangs, den ich verschlafen habe. Ich denke mir eine rote, über Kiefern und Autobahn verkleckerte Sonne. Allein die Vorstellung wärmt mich.
Auch ein Bild wie aus dem Uterus. Ich bin einfach neugierig, ob du das bewusst so gewählt hast.
Ich suche ihre Blicke, spüre ihre Lippen auf meinen, aber alles, was ich fühle, ist mein schlagendes Herz.
Schön.
Doch erst gibt es Pfannkuchen mit Ahornsirup für mich und mit Kirschen, Hanfsamen, Mandeln, gebratenen Äpfeln und Pistazienmus für sie. Manchmal löst sie Ehrfurcht in mir aus, weil ich in ihr etwas sehe, das ich selbst gern mehr wäre. Das Schöne: In diesen Punkten komme ich ihr immer näher und näher. Mein zweiter Pfannkuchen ist genau wie ihrer.
Weiches warmes süßes Essen hat auch so eine Symbolkraft, allererste Symbiosephase zwischen Mutter und Kind. Er ist noch ganz bei der Süße, sie (schon) differenzierter. (?)
Als sie mir das später vorhielt, versuchte ich, ihr nicht in die Augen (zu) schauen. Sie sagte, dass es ihre Freiheit einschränke. Die Angst, aus dem Gefallenwollen und der Abhängigkeit, in die ich mich dadurch begab, nicht ausbrechen zu können, frustrierte mich. Wenig überzeugt, versprach ich, mich zu ändern. Auch das schreibe ich auf den Zettel. Ich falte ihn zusammen und lasse ihn ins Marmeladenglas fallen.
wäre nicht "konnte ich ihr nicht in die Augen schauen" passender? oder "vermied ich es, ihr in die Augen zu schauen"?
Die Sache mit den Zetteln ist ja auch interessant, so eine Methode in die Beziehung zu übernehmen, wie aus der Coaching-Szene entliehen. Ich muss gerade an das Thema "Humor" in meiner Geschichte denken, das dir zu doll drüber war. Und dass wirklich in deiner Geschichte alles sehr, sehr ernsthaft ist. Es passt zu der Sehnsucht nach dem Absoluten.
Allein sie zu sehen, lässt warmes Glück durch meinen Körper strömen. Der Druck in der Brust ist verschwunden. Und dennoch frage ich sie nach den Typen, die vielleicht für sie interessant sein könnten. Nach Otto, Bastian und Siddharta. „Die sind keine Gefahr für mich, oder?“
Was für Namen! Du hast da ja auch nochmal "Gott" und ich dachte auch, ob es da noch eine andere Ebene gibt, irgendwas Spirituelles.
„Ich will, dass du mir sagst, wie geil du mich findest.“ Sie tut es und ich greife ihren Arm.
Oh, das würde mich ja nerven!
Ich spüre keine Geilheit, aber die Freude, ihr eine Freude zu machen. Sie schaltet auf Vibration. Hier könnte der Rausch einsetzen. Stattdessen fordere ich sie auf, Fotos von mir zu machen.
Das finde ich jetzt auch mal vollkommen abgefahren. Fotos?! Ist schon auch irgendwie sehr eitel auf eine Art, oder wie interpretiere ich das?
Später, als wir nüchtern gebratenes Gemüse essen,
Was ist nüchtern gebraten?


Ja, ich habe das gerne gelesen. Ist irgendwie so ein ehrlicher Text der mitten in das Geschlechterthema zielt, auf eine neue Art.

Liebe Grüße von Chutney

 
Zuletzt bearbeitet:

Mein zweiter Pfannkuchen ist genau wie ihrer.

Hm, an sich bin ich kein Freund eines offengelegten, besser: offenbarten „Liebeslebens“, dem privatesten überhaupt,

lieber Carlo,

aber nun gut, „Good Vibrations“ von den Beach Boys war was gänzlich anderes als ein „All You need is Love“ des britischen Konkurrenzunternehmens – und doch grübel ich darüber, was die „Hexenjagd“ (Ende des 18. Jhdt. waren die letzten für die damals bekannten zwo Geschlechter, dem ja eigentlich „das“ Jungchen und Mägdlein im dritten zugerechnet werden müsste, die Frau war als "vrouwe" dem alttestamentarischen Gründungsmythos folgend Teil des Mannes und somit als Produkt der Fron als Herrin tituliert entstanden), was nicht bedeutet, dass die Aufklärung gesiegt hätte.

Aber was ist an einer Sonne „verkleckert“?

Und was hat das wirkliche Leben der Arbeitswelt (der ja Kindergarten und Schule zugehören) im Liebesleben zu suchen? Da wird krankgefeiert

---, einem Montag, den wir krankfeiern.
und der erste Tag der Arbeitswoche blau gemacht.

Aber vor allem stört mich der Satz

Das funktioniert besser als gedacht und tut uns gut, …
„Funktionieren“, ein Wort, das zwar immer schon im Deutschen mitschwamm (seit dem 15./16. Jhd.), seine Bedeutung aber erst mit der napoleonischen Besatzungsmacht und der gar bald erfolgenden Industrialisierung in einer zunehmend technisierten Arbeitswelt, vor allem aber in der Verwaltung sich breit machte, im Gegensatz zur uralten Angst

Die Angst, aus dem Gefallenwollen und der Abhängigkeit, in die ich mich dadurch begab, nicht ausbrechen zu können, frustrierte mich.
deren Plural wortspielerisch geradezu psychologisch wertvoll ist und im Gleichklang der pluralen Ängste mit dem superlativen „am engsten“ klanglich kollidiert (wiewohl sie zugleich lebensrettend wirkt, ich nenn da nur den Straßenverkehr als Beispiel)

„Ich hab jetzt extrem Bock“, sage ich.
...
„Die sind keine Gefahr für mich, oder?“
und dann in gottlos irreligiöser Zeit ein
„Gott liebt uns wirklich.“
merk-, zumindest denkwürdig wirkt. Womit ich mit Lennon schließe

“God is a concept by which measures our pain“, während ein "All You need is Love" ruhig noch einmal kollektiv über alle Rundfunk- und Fernsehgeräte der Welt übertragen werden sollte ...

Wie dem auch wird,

gern gelesen vom

Freatle

 

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