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Vibration

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10.09.2016
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Vibration

Wir hören einen Podcast über die Hexenjagd im Mittelalter. Friedlich döse ich gegen das Fenster des Flixbusses gelehnt, ihre Finger streicheln meine Stirn. Ich fühle sie hinter verschlossenen Augen, den leichten Druck. Ein Lächeln, wenn ich davon kurz erwache. In der Hoffnung, dass sie es sieht. Ein Zeichen der Dankbarkeit für die Geborgenheit, die sie mir schenkt.
Als wir vom Busbahnhof nach Hause laufen, erzählt sie mir von der Schönheit des Sonnenuntergangs, den ich verschlafen habe. Ich denke mir eine rote, über Kiefern und Autobahn verkleckerte Sonne. Allein die Vorstellung wärmt mich. 
Wir erreichen die Wohnung; obwohl es meine ist, fühlt es sich wie ein gemeinsames Nachhausekommen an. Wir setzen Tee auf, schnippeln Gemüse, schlafen miteinander. Wenn ich an gestern denke, drückt es wieder in der Brust. Wir sind auf dem Dancefloor und ständig kommen Typen zur Gruppe und immer wieder tauchen andere Typen auf, die zumindest in meiner Vorstellung etwas von ihr wollen. Am liebsten würde ich sie wegschubsen, fluchen, heulen, mich in eine Ecke verziehen. Es passiert immer wieder. Wenn sich uns andere Männer nähern, spannt mein Körper sich an, mir wird übel. Ich suche ihre Blicke, spüre ihre Lippen auf meinen, aber alles, was ich fühle, ist mein schlagendes Herz.
Ich trage das mit mir herum – auch am nächsten Tag, einem Montag, den wir krankfeiern. Wir haben noch etwas Mephedron. Das wollen wir im Laufe des Tages nehmen. Doch erst gibt es Pfannkuchen mit Ahornsirup für mich und mit Kirschen, Hanfsamen, Mandeln, gebratenen Äpfeln und Pistazienmus für sie. Manchmal löst sie Ehrfurcht in mir aus, weil ich in ihr etwas sehe, das ich selbst gern mehr wäre. Das Schöne: In diesen Punkten komme ich ihr immer näher und näher. Mein zweiter Pfannkuchen ist genau wie ihrer.
Nach dem Frühstück arbeiten wir nebeneinanderher. Das funktioniert besser als gedacht und tut uns gut, weil wir scheinbar doch noch was anderes können, außer essen und nackt zwischen Decken liegen. Später werfen wir uns ins Bett, füllen ein Marmeladenglas mit kleinen Zetteln, auf denen schöne Erinnerungen stehen. Wie wir uns gestern Nacht berauscht die schönsten Dinge sagten, während wir auf der Toilette des Clubs möglichst jedes geeignete Körperteil in den anderen hineinsteckten, um ihm noch ein bisschen näher zu sein. Wie Menschen mit vollen Blasen oder leeren Nasen an die Tür hämmerten, wir sie abwimmelten und nicht aus dem Grinsen rauskamen. Ich sagte ihr dort, ich wolle noch schöner für sie werden, noch besser, einfach unersetzlich. Als sie mir das später vorhielt, versuchte ich, ihr nicht in die Augen schauen. Sie sagte, dass es ihre Freiheit einschränke. Die Angst, aus dem Gefallenwollen und der Abhängigkeit, in die ich mich dadurch begab, nicht ausbrechen zu können, frustrierte mich. Wenig überzeugt, versprach ich, mich zu ändern. Auch das schreibe ich auf den Zettel. Ich falte ihn zusammen und lasse ihn ins Marmeladenglas fallen.
Der Teller mit dem Mephedron liegt auf dem Nachttisch bereit, ein gläserner Strohhalm daneben. „Es ist okay, wenn der Sex jetzt nicht krasser ist als sonst, oder?“, fragt sie. „Völlig okay“, sage ich. Da ist ein Strahlen in ihrem Gesicht und ich wette, es ist ein Spiegel meines eigenen. „Ich hab jetzt extrem Bock“, sage ich. Wir küssen uns.
Das Pulver landet im rechten Nasenloch, wo es einen brennenden Schmerz hinterlässt. Ich genieße ihn, atme noch tiefer hinein und reibe meinen Nasenflügel. Nach fünf Minuten, in denen ich mich erwartungsvoll beobachte, beginnen wir uns wie von selbst zu streicheln. Allein sie zu sehen, lässt warmes Glück durch meinen Körper strömen. Der Druck in der Brust ist verschwunden. Und dennoch frage ich sie nach den Typen, die vielleicht für sie interessant sein könnten. Nach Otto, Bastian und Siddharta. „Die sind keine Gefahr für mich, oder?“ Sie schüttelt den Kopf, als wollte sie sagen, ‚das weißt du doch selbst‘. „Auch wenn du vielleicht mal mit einem von ihnen schlafen wirst?“ Wieder schüttelt sie ruhig den Kopf und ich frage sie noch ein letztes Mal und wieder verneint sie es. Ich schließe die Augen, lasse sie los, mein ganzer Körper entspannt. „Wir sind so gut füreinander“, sage ich. „Gott liebt uns wirklich.“ „Ja, wir haben so ein Glück“, sagt sie. „Ich will, dass du mir sagst, wie geil du mich findest.“ Sie tut es und ich greife ihren Arm. Ihre Haut zu berühren, ist eine Wonne, lässt mich vor Nähe und Verbundenheit zersplittern. Sie berührt jede Stelle. Mit ihrem Mund, ihren Händen. Ich lasse sie das Sextoy in mich stecken, das wir bisher nur bei ihr verwendet haben. Viel Gleitgel und ein wenig Geduld. Ich spüre keine Geilheit, aber die Freude, ihr eine Freude zu machen. Sie schaltet auf Vibration. Hier könnte der Rausch einsetzen. Stattdessen fordere ich sie auf, Fotos von mir zu machen.
Später, als wir nüchtern gebratenes Gemüse essen, spiegelt sie mir mein Bedürfnis nach Sicherheit, was Otto, Bastian und Siddharta angeht. Und meinen Wunsch nach Bestätigung. Wieder schaue ich sie nicht an, will mich irgendwo verkriechen. „Ich ändere das“, sage ich. „Irgendwie.“

Wenn ich wie jetzt auf dem Sofa sitze und diese kleine Erzählung schreibe, ist die Frustration fast weggewischt; sind da vor allem Hoffnung, Gewissheit, Neugier. Zusammen werden wir uns verwirklichen, experimentieren, uns eine neue Identität zulegen, alle Unsicherheiten überwinden, alle Verbundenheit fühlen, völlig angenommen und gewollt sein. Früher oder später werden wir zu unseren Träumen werden. Meine Finger riechen noch nach ihr. Das macht mich so glücklich und zufrieden und das macht mich so unsicher.

 
Zuletzt bearbeitet:

Später, als wir nüchtern gebratenes Gemüse essen, spiegelt sie mir mein Bedürfnis nach Sicherheit, was Otto, Bastian und Siddharta angeht.

Das spiegelt so die Geschichte wieder. Vollkommen undenkbar, dass die ein saftiges Steak essen, oder gar Lamm oder Kalb! Gott bewahre!

Ja, das ist gut verfasst, aber dennoch möchte ich dem Erzähler einfach unfassbar gerne meine Rechte verpassen, weil er wie so ein needy bastard rüberkommt. Was für eine Lusche, unerträglich. Diese demütigende Haltung einer Frau gegenüber, wie wenig Selbstwert, noch nicht einmal Selbstbewußtsein würde ich das nennen. Entweder eine Frau will mit dir zusammensein oder eben nicht. Warum sich ständig den Kopf zermartern? Und warum denkt sie nicht ähnlich, oder sieht der Erzähler aus wie ein Mülleimer? Hat sie nichts zu befürchten, gibt es keine anderen Frauen, die ihn attraktiv finden?

Ich lasse sie das Sextoy in mich stecken, das wir bisher nur bei ihr verwendet haben. Viel Gleitgel und ein wenig Geduld. Ich spüre keine Geilheit, aber die Freude, ihr eine Freude zu machen.
Der letzte Rest Würde geht dann hier von dannen. Das klingt auch alles so furchtbar politisch korrekt, das Sextoy haben wir ZUERST bei ihr verwendet. Verwendet! Wie ein Messerblock. Geil ist es nicht, aber ich lasse es über mich ergehen, weil ich diese Frau auf ein Podest gestellt habe und mir metaphorisch habe die Eier abschneiden lassen.

Ja, insofern ist der Text verdammt gut geschrieben, weil er wie ein Brennglas auf eine mir vollkommen wesensfremde Generation Menschen bzw Männer blickt. Mir muss das inhaltlich natürlich nicht gefallen, aber darum geht es hier ja nicht, bei der Textarbeit. Erinnert sehr an modern-ironische Schreibschulentexte, siehe Open Mic etc.

Gruss, Jimmy

 

Hallo @Carlo Zwei,

ein interessanter Text!

Friedlich döse ich gegen das Fenster des Flixbusses gelehnt, ihre Finger streicheln meine Stirn. Ich fühle sie hinter verschlossenen Augen, den leichten Druck. Ein Lächeln, wenn ich davon kurz erwache.

'Gegen das Fenster des Flixbusses gelehnt döse ich friedlich vor mich hin, ihre Finger streicheln meine Stirn.' (So wird vermieden, dass es so klingt, als wenn man gegen das Fenster döst - so wie man gegen ein Fenster drücken könnte - "Friedlich döse ich gegen das Fenster". Vielleicht ist das nur ein persönlicher gedanklicher Irrweg).

Irritiert hat mich 'die Finger hinter den Augen' zu spüren. (Auf den Augenlidern?).

Wir erreichen die Wohnung; obwohl es meine ist, fühlt es sich wie ein gemeinsames Nachhausekommen an
So passt die Chronologie: "Wir erreichen die Wohnung, es fühlt es sich wie ein gemeinsames Nachhausekommen an, obwohl es meine ist."

Wir setzen Tee auf, schnippeln Gemüse, schlafen miteinander
Schreib doch 'Ich setze ...' - dann wiederholt sich "wir" nicht.

Die Angst, aus dem Gefallenwollen und der Abhängigkeit, in die ich mich dadurch begab, nicht ausbrechen zu können, frustrierte mich.
Die Einschublastige-Satzkonstruktion hemmt den Lesefluss.
Vielleicht: Ich begab mich in eine (suchtähnliche) Abhängigkeit, nur um ihr zu gefallen. Die Angst, nie mehr ausbrechen zu können eroberte meine Gefühle (Gedanken?).

Ich genieße ihn, atme noch tiefer hinein und reibe meinen Nasenflügel.

Der Protagonist erdient sich die sexuelle Aufmerksamkeit seiner Partnerin durch Unterwürfigkeit bis zur Selbstaufgabe. Ob da ein versteckter Bedarf an Masochismus eine Rolle spielt? Eher ein überbordendes Bedürfnis zu gefallen und die Unfreiheit nach eigenen Regeln agieren zu können.
Mal eine Geschichte mit weniger geläufigem Inhalt, mit diesen Rollenbeschreibungen, auch einem sich selbst dressierende Mann.
Manchmal gibt es einem Text Tiefe, wenn man die Hintergründe eines Verhaltens gezeigt bekommt oder erschließen kann. In diesem Fall habe ich diese Informationen nicht vermisst.

Grüße,

Woltochinon

 

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