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Verheerung
Welches Lied pfiff Jack the Ripper?
Ich fand den nie besonders komisch, obwohl ich trotzdem gelacht habe. Der Witz ist eben, wie man ausblenden kann, dass man Menschen aufschlitzt. Trotzdem habe ich nie an Melodien gedacht. Das ist Roberts Marotte, mich lenkt es nur ab.
Ich wünschte, er würde das Radio ausschalten. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er in einer Schrottpresse zerquetscht und das Gedudel macht es nicht besser. Meine Zunge spielt mit dem Pfefferminzbonbon, während ich langsam durch die Bauchdecke fahre. Ich sollte mich konzentrieren, aber meine Gedanken wandern zu Mira.
Wie ich ihr Schneewittchen vorlas und den Teil mit der Leber und Lunge aussparte. Sonst hätte sie mich womöglich gefragt, ob ich Frischlinge absteche. Stimmt beinahe, immerhin wühle ich mich gerade durch Darmschlingen.
Schweiß brennt in meinen Augen und ich blinzle wie ein Wahnsinniger. Ich kann spüren, wie die Klinge über Gewebe fährt. Alles ist rot und unscharf. Während meine Ohren dröhnen, unterdrücke ich den Brechreiz. Robert sollte das Messer nehmen, aber dann hätte ich versagt. Krachend zerbeiße ich das Bonbon und stoße zu.
Jemand saugt zischend Luft ein und ich blicke auf. Panische Augen, hektische Bewegungen und immer noch diese nervige Musik „Alles in Ordnung!“, sage ich mit einer Stimme die nach Watte im Mund klingt. Eine blutige Quelle sprudelt mir entgegen und jemand schreit. Meine schneeweißen Handschuhe lassen mich wieder an Schneewittchen denken. Mira, dein Opa ist kein Mörder!
Als ich weiter schneiden will, halten sie mich fest. Ich kann immer noch einschüchternd klingen, wenn es sein muss und brülle sie an. Bei mir werden die Regeln eingehalten. Ich bin nicht nett. Nicht, wenn es funktionieren soll. Also mache ich weiter, bis mir der jüngste von ihnen gegen die Brust schlägt. Ich fasse es nicht! Ausgerechnet dieses dürre Kerlchen. Ich könnte sein Vater sein und er wagt es, so mit mir umzugehen!
„Herr Beermann, sie kommen jetzt mit!“
Ich will ihm an die Gurgel gehen, aber dann sehe ich die anderen. Wie sie mich anstarren. Hat denn keiner mehr Respekt? Ich weiß, dass sie tuscheln. Die meisten wollen mich nicht mehr dabei haben. Trotzdem schneidet niemand so perfekt wie ich!
Erst Roberts Kopfschütteln stimmt mich um. Sein strenger Blick zerdrückt mein Herz und macht mich wieder zum Schüler. Er hat in meinen Abgrund geblickt. Wäre der Griff des neuen nicht so stark, würde ich zusammen brechen.
„Los, kommen sie mit raus!“, sagt er. Seinen Namen weiß ich nicht. Sie kommen und gehen immer so schnell. Als sich die Schleuse ratternd schließt, führt er mich zur Sitzbank für die Angehörigen. Er zwingt mich zum Setzen und zieht den Mundschutz hinunter. Meinen lasse ich auf.
„Herr Beermann ich muss das jetzt fragen“, seufzt er. „Sind sie betrunken?“ Ein Kopfschütteln schaffe ich, aber es ist sinnlos. Alle haben das Zittern meiner Finger gesehen, bevor ich den Dünndarm verletzte. Minimalinvasiv, maximal desaströs.
Es ist wohl so weit. Am Tag des jüngsten Gerichts verliest ein Assistenzarzt meine Sünden.
„Sie wissen, dass ich das melden muss!“ Die junge Stimme klingt weit entfernt.
Natürlich wird er es melden. Er hat noch eine Karriere vor sich. Robert hätte es vielleicht anders geregelt, aber der muss da drin jemanden am Verbluten hindern. Danach wird er sich wohl fragen, wie gut wir uns wirklich kannten. Sollen sie mich ausrangieren, dann hören wenigstens die Bereitschaften auf. Mira freut sich, wenn ich ihr wieder vorlese. „Opa, was riecht hier so komisch?“, hat sie mich gefragt. Sie hat große, braune Augen, die klug blicken können. Darum fiel mir keine passende Antwort ein, als ich die Whiskeyflasche wieder in den Schrank stellte.