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Und überall die Hölle
Am 27. Juli 1943 brachen siebenhundert britische Flugzeuge auf, um einen Bombenteppich von mehr als 100.000 Spreng- und Brandbomben auf Hamburg abzuwerfen. Durch die besondere Wetterlage begünstigt brannte innerhalb von wenigen Stunden ein Großteil des Hamburger Ostens ab. In dieser Nacht erstickten und verbrannten 30.000 Menschen, fast eine Million wurde obdachlos.
„Da draußen steht eine Nonne", rief Thea.
„Ja, ich weiß, Pastor Mackels hat sie angekündigt", erwiderte Theas Mutter Maria, „sie soll reinkommen."
„Oh, entschuldigen Sie bitte, Sie sitzen ja noch alle bei Tisch, ich wollte Sie nicht beim Mittagessen stören."
„Kein Problem, wir sind fertig. Nehmen Sie Platz", sagte Maria, „und Irma, du räumst bitte den Tisch ab."
„Das ist ungerecht, Günter und Thea können auch mal dran sein", maulte Irma, aber sie erhob sich sofort und griff nach den Esstellern und Bestecken.
„Es geht um ihre kleine Thea, wir könnten sie während der großen Schulferien in unserem Franziskus-Kinderheim auf Nordstrand unterbringen. Wir haben da noch einen Platz frei, weil eine Familie mit ihrem Kind nach Ostpreußen umgezogen ist."
„Ich weiß nicht", sagte Maria an ihren Mann gerichtet, „ich hätte gern alle unsere Kinder bei uns. Was meinst du?"
„Darf ich auch mit nach Nordstrand?", bettelte Irma, „du hast mir schon die Kinderlandverschickung nicht erlaubt."
„Ich werde euch nicht auch noch von denen betreuen lassen."
„Aber Mama, alle meine Freundinnen in Tschechien haben erzählt, dass dort keine Bomben fallen. Und die machen so tolle Sachen da, Ausflüge und ..."
„Das kommt gar nicht in Frage. Und jetzt ist Schluss."
„Leider können wir auch nur die Kleinsten in Nordstrand aufnehmen, da ist nur Platz für rund vierzig Kinder und Irma ist mit ihren elf Jahren schon drüber. Tut mir leid."
„Man munkelt, dass die Briten massive Bombardierungen planen", sagte Marias Ehemann, „da ist es besser, wenn wir Thea nach Nordstrand geben. Dann musst du nur mit Irma und Günter in den Luftschutzkeller. Das ist für dich einfacher."
Maria wiegte den Kopf hin und her.
„Meine Frau ist nachts immer allein mit den Kindern. Ich arbeite bei der Bahn, muss die Züge begleiten, die jede Nacht aus Hamburg rausgefahren werden."
„Also gut, schweren Herzens. Ist vielleicht gar nicht verkehrt, wenn Thea mal eine Weile keinen Luftalarm mitmachen muss. Die reden immer noch vom Endsieg und wer wird regelmäßig bombardiert? Wir!"
Nachdem die Nonne gegangen war, sagte Marias Ehemann: „Bitte sei doch in Zukunft nicht so unvorsichtig, vor einer Fremden so über die Partei herzuziehen."
„So weit kommt es noch, dass ich mir in meiner eigenen Wohnung den Mund verbieten lassen muss. Dieser Hitler und sein totaler Krieg. Feiern wir eigentlich Jubiläum, wenn wir den 150. Luftangriff überlebt haben? Fehlen ja nur noch ein paar."
Am 27. Juli stieg das Thermometer, wie an sehr vielen Tagen in diesem ungewöhnlich heißen Sommer, in Nordstrand auf 30 Grad.
„Darf ich ins Wasser? Es ist so furchtbar heiß", bettelte Thea.
„Nein! Heute nicht und an allen anderen Tagen nicht."
„Nur ein bisschen am Rand?"
„Nein, darfst du nicht, dann wollen es nämlich alle. Und wir können nicht auf euch alle aufpassen."
„Nur einmal kurz mit den Füssen, bitte."
„Auch das nicht, Schluss jetzt! Ihr könnt nach dem Abendbrot noch draußen spielen. Aber um Acht seid ihr alle in euren Betten!"
Gegen 20 Uhr befanden sich alle zwölf Mädchen in ihrem Schlafsaal, es kehrte langsam Ruhe ein und die Betreuerinnen zogen sich in ihre Zimmer zurück.
Nachts wachte Thea von dumpf dröhnenden Geräuschen auf. Sie stieg aus dem Bett und blickte durch eines der Fenster des Schlafsaals nach oben, wo ein Flugzeug nach dem anderen über das Heim hinwegflog.
Dieser endlos grollende Motorenlärm erschütterte das Haus so, dass die Fensterscheiben klirrten und es unter Theas Füssen vibrierte.
Alle Mädchen rannten an die Fenster, Liesel, Theas Freundin drängte sich neben sie.
„Das sind die Engländer, gleich werfen sie die Bomben auf uns."
„Nein, Hilfe!", rief Thea und klammerte sich an Liesels Arm, „wir müssen weglaufen."
Aber da stand bereits eine der Betreuerinnen im Raum:
„Ihr müsst keine Angst haben, die bombardieren uns nicht, die fliegen alle weiter nach Hamburg. Sofort wieder ins Bett und schlafen, euch passiert hier nichts."
Die Mädchen folgten nur zögernd, ein paar weinten.
Thea stieg zu Liesel ins Bett und beide Kinder drückten sich ganz dicht aneinander.
„Ich hab‘ solche Angst", flüsterte Thea.
„Ich auch", sagte Liesel.
„Und wenn die ganzen Bomben jetzt alle auf Hamburg fallen?"
„Wer hat dir erlaubt, in einem fremden Bett zu schlafen? So geht das nicht! Aber sofort raus da, ab in dein Bett!", schimpfte eine Betreuerin, die plötzlich neben Liesels Bett stand.
„Ich hab‘ so große Angst", gestand Thea kleinlaut.
„Was? Das will ich nicht gehört haben. Jetzt wird geschlafen!"
Es dauerte lange, bevor das letzte Mädchen endlich in einen unruhigen Schlaf gefallen war, den das ununterbrochene Brummen der Flugzeugmotoren begleitete.
Am 27. Juli hatte auf einem Flugplatz nahe Cambridge Royal Airforce Sergeant Clifford, den seine Kameraden alle wegen seiner roten Haare Redcliff nannten, den Einsatzbefehl erhalten, Hamburg zu bombardieren.
„Flugwetter gut, Sicht gut, kaum störender Wind, unsere Pathfinder werden die Leuchtmarkierungen zielgenau absetzen. Innerhalb dieser farbigen Eckpunkte wird bombardiert", sagte der Offizier beim Briefing.
„Die ersten Bomber werden wieder rund eine Million Stanniolstreifen abwerfen, um das Radar abzulenken. Die Flak wird wieder keine gezielten Schüsse setzen können und die Nachtjäger werden ohne ihre Radarortungen auskommen müssen", fügte er hinzu.
„Das seh ich aber anders", raunte Redcliffs Funker ihm leise zu, „die Deutschen hatten zwar nur noch dichten Zackennebel auf ihrem Radar, aber die verteufelten Nachtjäger haben uns vor zwei Tagen ganz schön eingeheizt."
Redcliff nickte. ‚Die verdammten Auspuffflammen‘, dachte er, ‚die reinsten Einladungen für den Feind.‘
„Die kennen unsere Achillesferse", sagte er, „so klasse die neuen Lancaster sind, aber mir wäre lieber, wir könnten auch nach unten schießen."
„Ihr werdet kaum auf Gegenwehr stoßen", fuhr der Einsatzoffizier fort, „die Nazis haben ihre Lücken in Stalingrad schließen müssen. Die Flakgeschütze sind jetzt mit Kids besetzt. Die schießen nur blind drauf los."
Redcliff hockte am Rand des Flugfeldes im Gras und sah zu, wie seine viermotorige Lancaster betankt und mit Spreng- und Brandbomben beladen wurde, als der Navigator sich zu ihm setzte.
„Das Bomber Command hat Befehl gegeben, dieses Mal nicht aufgelockert in breiter Gefechtsformation, sondern in eng zusammengefassten Wellen zu fliegen. Sollten die Nazis wieder unseren Funkverkehr zur Basis stören, benötige ich die wachsamen Augen der anderen."
„Klar, ich spreche gleich mit den Männern", sagte Redcliff und zog eine Zigarette aus der ihm angebotenen Packung. Er griff in die Hosentasche seines Overalls, um sein Feuerzeug hervorzuholen, aber sein Navigator kam ihm mit seinem zuvor.
„Wir müssen besonders auf die Wirbelschleppen achten, wenn die Maschine nämlich zu sehr durchgeschaukelt wird, könnten sich die Brandbomben verkeilen", sagte der Navigator.
„Ich weiß, am liebsten wäre dir, wir gingen sanft auf Reiseflughöhe und bewegten danach unsere Ärsche keinen Zentimeter mehr bis zum Abwurf der Bomben. Sag mal, kennst du unseren neuen Bordschützen?"
„Nein, nicht persönlich", sagte der Navigator, „hab mich aber schon umgehört, weil ich wusste, du würdest fragen. Er soll okay sein. Die haben ihn zur RAF geholt, weil er ein verdammt guter MG-Schütze ist. Bisschen schrullig ist er schon. Hat da so‘ ne dicke kantige Ausbuchtung in der Brusttasche und ich sag zu ihm ‚Na, ist da dein gesamter Zigarettenvorrat drin oder weshalb beult es sich so?‘ Daraufhin zieht er eine Bibel aus dem Overall ‚Gehört meiner Anne‘, sagt er, ‚die Drecksnazis haben ihr in Coventry eine verpasst und wenn es mich auch erwischt, hab ich sie gleich dabei, um sie ihr zu geben.‘
„Dieser Krieg nimmt jedem was", sagte Redcliff, „dem einen die Braut, dem andern das Leben, und dem Rest jede Illusion."
„Er hat mich übrigens auch über dich befragt."
„So?"
„Wollte wissen, ob du was drauf hast als Pilot."
Redcliff lachte: „Was hast du geantwortet?"
„Ich habe gesagt, es gibt zwei Sorten von Piloten: Die einen sind die Techniker und die sind vielleicht gar nicht mal schlecht und die anderen, das sind die Virtuosen, die in das Fliegen verliebt sind. Die brennen dafür, in der Luft zu sein. Und jetzt darfste mal raten, von welcher Sorte Redcliff ist."
„Du trägst ja ganz schön dick auf, aber danke, dass du so viel von mir hältst."
„Du hast mir zweimal das Leben gerettet, Redcliff. Mit jedem anderen Piloten läge ich jetzt auf dem Grund der Nordsee."
„Irrtum, ich hab nur mein Leben gerettet und da du mit an Bord warst, ließ sich nicht vermeiden, dass du auch am Leben bliebst."
„Der beste Schutz für die Crew ist ein Pilot, der lebend nach Hause will. Wer sonst ist fünfundzwanzig Mal zurückgekommen?"
Redcliff gab keine Antwort. Seine Augen wurden eng, als er an der Zigarette zog.
„Sag mal, der andere Bordschütze, hat der eigentlich immer noch seinen kleinen Lederkoffer mit dem Whisky und der Havanna dabei?"
„Ja", grinste der Navigator, „der beschützt seinen Koffer immer noch, als sei es sein Leben. Wenn er das weiter so durchzieht, müssen wir das Ding bald in die Checkliste mit aufnehmen."
Gegen 22 Uhr kletterten Redcliff und seine sechs Mann Besatzung in die nagelneue Lancaster mit Doppelseitenleitwerk und Geschützstand. Diese Verbesserungen machten das Flugzeug wendiger.
Im Bombenschacht hingen eine zwei Tonnen schwere Bombe, von den Crews „Cookie" genannt und 300 Brandbomben.
Die Bomben sollten innerhalb des markierten Zielgebiets in den Wohngebieten Hamburgs abgeworfen werden.
Die Hamburger betitelten diese sehr langsam vom Himmel herabsinkenden beleuchteten Teile sarkastisch als „Tannenbäume", weil sie eine ähnliche Form hatten und wie beleuchtete Weihnachtsbäume aussahen.
In der Maschine war es stickig und eng. Um sich während des ohrenbetäubenden Lärms der Propeller überhaupt verständigen zu können, waren alle Besatzungsmitglieder mit Kopfhörern und Mikrofon ausgestattet.
Ab einer Flughöhe von circa 3.000 Metern würden sie Sauerstoffmasken aufsetzen müssen.
Unterhalb von Redcliff saß der Bordingenieur, der nacheinander die vier Motoren anließ und ihm ein Zeichen gab, sobald alle vier gleichmäßig auf fast identischer Umdrehungszahl liefen.
„Hab die Startfreigabe erhalten", meldete euphorisch der Co-Pilot, ein blutjunger Bengel von gerade mal zwanzig Jahren.
’Vor fünf Jahren war ich auch so‘, erinnerte sich Redcliff, ‚aber da musste ich noch nicht Bomben auf Wohngebiete werfen.‘
Sie überflogen den Ärmelkanal und Redcliff forderte seine Leute auf, die Sauerstoffmasken anzulegen.
Um das Risiko zu minimieren, vom Boden aus abgeschossen zu werden oder in das Visier eines Nachtjägers zu geraten, begann Redcliff damit, in stetig ausholenden Schwüngen zu fliegen. Er nahm etwas Gas raus, ging leicht in die Schräglage und drückte den Steuerknüppel runter, um ihn danach wieder hochzuziehen.
Ein kräftezehrendes Unterfangen, weil weder Höhen- noch Seitenruder mit einer Servounterstützung ausgestattet waren.
„Mann, Redcliff, ich werd‘ gleich seekrank", lästerte der Navigator.
„Stimmt", steuerte der Bordingenieur bei, „er sieht schon ganz grün im Gesicht aus." Alle lachten.
„Nur Selbstmörder und Idioten fliegen starr geradeaus", sagte Redcliff.
„Außerdem haben wir wertvollste Fracht dabei, wenn ich so an den kleinen Lederkoffer denke, der sich bei unserem MG-Schützen befindet."
„Hat sich also der Inhalt herumgesprochen", konterte dieser, „aber ich sag euch Leute, so einen Whisky habt ihr in eurem Leben noch nicht getrunken."
Plötzlich knallte es ohrenbetäubend. Ein ungestümer, kräftiger Stoß ging durch die Lancaster, der den Steuerknüppel hart wie Beton gegen Redcliffs Hände schlug, den Co-Piloten zur Seite drückte und die beiden Bordschützen mit ihren Schädeln gegen die Längsspanten schlagen ließ.
„Flak", schrie der Navigator, „wir müssen aus dem Scheinwerfergürtel raus."
Redcliff riss sofort die Maschine herum, tauchte rein in das schützende Schwarz der Nacht. Alle Augenpaare suchten in dieser Dunkelheit angestrengt nach Stellen, wo die Lancaster getroffen sein könnte.
‚Bitte nicht die Tanks‘, dachte Redcliff, ‚bitte auch nicht die Motoren.‘
„Kein Motorenleistungsabfall, Temperaturen in der Norm", kam die rettende Nachricht des Bordingenieurs, als hätte er Redcliffs Gedanken gelesen.
„Alles okay bei euch?", fragte Redcliff und bekam von allen positive Rückmeldungen.
‚Verdammt‘, dachte er, ‚so schnell kann es gehen. Da pinselt so ein Flakjunge mal eben mit seinem Scheinwerfer ziellos den Himmel durch und schon haut uns der nächste seinen Zufallstreffer in die Flanken.‘
„Geschoss könnte den Bombenschacht getroffen haben", mutmaßte der Bordschütze.
„Wir haben unser Ziel gleich erreicht", sagte der Navigator.
„Leicht auszumachen", sagte Redcliff, „ganz Hamburg brennt."
‚Es ist zwar alles andere als einfach, in 15.000 Fuß Höhe eine vollständig verdunkelte Stadt überhaupt auszumachen, aber jetzt in dieses Inferno weitere Brandladungen zu werfen? Das überlebt doch keiner mehr da unten", dachte Redcliff. ‚Aber wenn wir uns weigern, kommen wir alle vor’s Kriegsgericht.‘
„Wir überfliegen in zehn Sekunden die Abwurfposition", teilte der Navigator mit.
Eine Bombe benötigt circa eine halbe Minute, ehe sie aus 4.000 Metern kommend auf dem Grund aufschlägt. In einer parabelförmigen Kurve wirbelt sie herab, wird vom Luftwiderstand gebremst, von den Seitenwinden abgelenkt und wenn sie ein Dach abdeckt, ein Stockwerk durchlöchert, ist der Bomber, der sie abgeworfen hat, schon längst mehrere Kilometer weit weg auf dem Rückflug.
Der Bombenschacht der Lancaster öffnete sich, um zunächst den „Cookie" herabfallen zu lassen, danach klappte der Schacht mit den rund 300 Brandbomben auf, die wie an Bindfäden gehalten gleichmäßig hintereinander Stück für Stück niederfielen.
‚Von wegen Hafenanlagen zerstören und die U-Boot-Produktion auslöschen, so wie es laufend in unseren Zeitungen steht‘, dachte Redcliff, ‚das gehört seit zwei Tagen der Vergangenheit an. Jetzt haben wir Befehl, ganze Stadtteile auszuradieren. Und was passiert dann? Sie werden dasselbe mit uns machen.‘
Aber diese Gedanken, die ihm ein flaues Gefühl im Magen verursachten, schob er beiseite, dafür war jetzt nicht der geringste Raum, um darüber nachzudenken. Sie befanden sich auf dem Rückflug, der genauso gefährlich war wie der Hinflug.
Am 27. Juli heulten drei an- und abschwellende Sirenensignale um 23.40 Uhr: Fliegeralarm. Der Klang war den Hamburgern vertraut und das, was nun folgte, war Routine.
Die drückende Sommerschwüle hatte etliche nicht fest schlafen lassen. Sie wurden auf der Stelle wach. Viele hatten sich bereits bekleidet ins Bett gelegt und schlüpften nun schnell in die Schuhe. Das Luftschutzgepäck, meist ein kleinerer Koffer mit all den wichtigen Papieren, Lebensmittelkarten, Geld, Schmuck und Medikamenten stand griffbereit im Korridor einer jeden Wohnung.
Theas Familie lebte im vierten Stock eines Hauses in der damaligen Hamburger Straße im Stadtteil Altona-Nord. Den Drahtfunk, eine besondere Möglichkeit, über das Radio noch vor den Sirenen gewarnt zu werden, hatte man nicht genutzt, um Stromkosten zu sparen. Der Familie wäre sonst aufgefallen, dass der wegen seiner beruhigend, fast schon einschläfernden Stimme Onkel Baldrian genannte Nachrichtensprecher eine ungewohnte Formulierung gewählt hatte: „Achtung! Achtung! Sehr sehr! starke Anflüge auf Hamburg. In wenigen Minuten fallen die ersten Bomben. Suchen Sie die Luftschutzkeller auf."
Weil Theas Vater nachts arbeitete, war es ihre Mutter, die dafür sorgte, dass Günter und Irma aufwachten und auf der Stelle in den Luftschutzkeller eilten. Ihr strenges Regiment hatte dazu geführt, dass zeitraubende Diskussionen, speziell mit ihrem dreizehnjährigen Günter, der oftmals bei Fliegeralarm liegen bleiben wollte, nicht mehr stattfanden. Beide Kinder fügten sich, rannten die vier Etagen herunter, aus dem Haus heraus, über einen kleinen Hinterhofgarten in einen gesonderten, vom Haus getrennten Luftschutzkeller.
Als sie den Schutzraum erreicht hatten, befanden sich dort erst zwei weitere Personen. Ein Soldat auf Fronturlaub, der seine im ersten Stock wohnenden Eltern besuchte. Ein Nachbar, der im dritten Stock wohnte. Von diesem wussten die Kinder, dass er nicht an Gott glaubte, weil er stets darüber lästerte, dass sie sonntags regelmäßig in die heilige Messe gingen.
„Wo, sind die anderen aus dem Haus?", fragte Maria den Nachbarn aus dem dritten Stock und an den Soldat gerichtet: „Wo bleiben Ihre Eltern denn?"
Sie bekam keine Antwort, denn die Bombardierung begann mit solch einer Wucht, dass die Welt zusammenzustürzen drohte.
Die Kellerinsassen schwiegen in lähmender Angst, die Hölle draußen war um so lauter: Rasend wildes Flakfeuer, dieses unaufhörliche Taktaktaktak, das Heulen fallender Sprengbomben, das Krachen und Splittern, das Bersten und Poltern, das Knallen und Scharren und unheimliche Pfeifen und dazwischen das nicht enden wollende tiefe Brummen der Bomber.
Die elfjährige Irma klammerte sich panisch an den Arm ihrer Mutter. Ihr war egal, dass sie gleich getadelt würde. Aber in dieser Nacht kam von ihrer Mutter kein zurechtweisendes: „Beherrsch dich, du blamierst mich!" Irmas zwei Jahre älterer Bruder Günter blickte nur starr auf seine Schuhe. Er hatte Ober- und Unterkiefer fest aufeinandergepresst, weil er sonst vor Panik mit den Zähnen geklappert hätte.
Die Versteifungen des Kellers knarrten, die Wände knirschten, als würden sie sich verschieben, bei jedem Bombenabwurf bebte der Kellerboden.
Das bleiche Gesicht des Soldaten zeigte sein Entsetzen, er schüttelte immer wieder den Kopf. Dann presste er hervor: „Das ist ja grauenvoll, an der ganzen Front habe ich so was nicht erlebt." Das Kellerlicht fing an zu flackern.
Die Bombeneinschläge rückten immer näher. Immer wuchtiger zu hören, als krachte ein Riese mit gewaltigen Stiefeln in die Häuser und bewegte sich auf ihr Haus zu.
Der Nachbar aus dem dritten Stock fiel unvermittelt auf seine Knie und faltete die Hände zum Gebet. Panisch flehte er: „Herrgott hilf!" ‚Wenn so einer jetzt betet‘, dachte Irma, ‚dann sind wir hier verloren.‘
„Mutti, wir werden sterben", schrie sie und zog bei jeder Detonation den Kopf ein. Mörtel löste sich von der Kellerdecke.
Bomben, die treffen, hört man nicht mehr. Aber diese letzte Bombe, die den Keller traf, hörten die Eingeschlossenen. Ein Fauchen, eine dumpfe unbarmherzige gewaltige Detonation und der Keller war innerhalb einer Sekunde mit rotem Backsteinstaub vernebelt.
Der Riese war angekommen.
Das Kellerlicht, das wie durch ein Wunder nicht ausgegangen war, schaffte es nicht, den dicken roten Schleier zu durchdringen.
Alle husteten, verschluckten sich an der roten Luft.
„Raus, wir müssen hier raus, die Bombe hat vielleicht einen Zeitzünder", sagte wer und die Männer zogen mit vereinten Kräften die Stahltür auf. Doch dahinter rutschten ihnen Schutt, Geröllbrocken, Steine, Holzbalken entgegen.
„Die Treppe ist verschüttet. Hier kommen wir nicht raus. Wir müssen zum Nachbarkeller durchbrechen."
Die Männer schlugen mit Axt und Beil die dafür vorbereitete Öffnung in die Wand. Die auf der anderen Seite der Kellerwand in der Dunkelheit sitzenden Insassen halfen, sie durch das Mauerloch zu sich herüberzuziehen. Maria hatte ihren Notkoffer fest an sich gepresst und nicht aus der Hand gegeben, als sie in den Nachbarkeller durchrutschte. Er enthielt die Lebensgrundlage der gesamten Familie. Dass dies ihre einzige Habe war, wusste sie in diesem Moment noch nicht.
„Unsere Treppe ist auch verschüttet", sagte jemand aus dem Nachbarkeller, „aber man holt uns hier gleich raus."
Als man sie aus einer Öffnung hochgezogen hatte, stand die dreiköpfige Familie ratlos auf der Straße. Es war Nacht und alles in rußgeschwärzten Nebel getaucht. Hinter ihnen ihr brennendes Haus, vor ihnen auf der gegenüberliegenden Straßenseite das lichterloh in Flammen stehende Fotogeschäft, das eine so immense Hitze ausstrahlte, dass man nicht stehenbleiben konnte. Ihnen bot sich ein furchtbares Bild. Die gesamte Straße war zugeschüttet mit Steinen, Geröll, Staub, Asche, Glassplittern, Schutt. Brennende Papierfetzen flogen umher, setzten sich auf Haut und Kleidung, suchten gierig nach Nahrung. Die meisten Häuser brannten, waren zum Teil schon zusammengebrochen. Fassaden waren einfach auf die Straße gekippt. Überall beißender Brandgeruch, der den Atem nahm. Die Augen brannten vom Rauch. Die Lungen stachen. Wohin sollten sie nun?
Sie liefen die Hamburger Straße entlang bis zur Ecke Langenfelder Straße, in der irrigen Hoffnung, dass man doch einfach nur um die Hausecke biegen müsste, um in Sicherheit zu sein. An der Ecke angekommen, sahen sie ihren Irrtum. Auch diese Straße war ein einziges Flammenmeer, das durch Rußschwaden hindurchleuchtete.
Unerträgliche Hitze trieb sie von diesem Flächenbrand zurück, Qualm, der sie zwang, die Augen zuzukneifen und am liebsten nie wieder zu öffnen. Wie ein brausender Orkan peitschten Glutwinde über das Kopfsteinpflaster, zogen brennende Balken mit sich, wirbelten Latten und Dreck, Steine, Scherben auf, entzündeten stämmige, noch vor Stunden gesunde dicht belaubte Bäume. Sie mussten umkehren.
„Zur Schule in der Arnkielstraße, die haben dort einen großen Schulhof, der ist groß, da kann es nicht brennen", rief Maria beiden Kindern zu.
Sie rannten auf die Hamburger Straße zurück, an ihrem nun lichterloh brennenden Haus vorbei und Maria wäre fast der Länge nach hingefallen, als sie einen verzweifelten Blick in den vierten Stock hinaufschickte, wo ihre Wohnung von den gefräßigen Flammen vertilgt wurde.
An der nächsten Ecke schrie jemand „Halt! Die Fassade schwankt schon." Vor ihren entsetzten Augen stürzte die obere Hälfte einer Hausfront mit donnerndem Getöse auf die Straße. Der dunkle Rauch der Brände färbte sich für ein paar Sekunden hell. Die Fassade hatte die Oberleitungen der Straßenbahn mit sich gerissen, sie mussten über diese Drähte steigen, die sich wie lange Würmer wanden und bösartige Stolperfallen bildeten. Maria war bereits ein ganzes Stück vorausgelaufen, hatte ihre Kinder zurückgelassen, als Irma unvermittelt vor einer dieser Schlangen wie angewurzelt stehenblieb. Sie blickte ausdruckslos in das lodernde Feuer eines brennenden Hauses. "Komm", brüllte Günter und wollte sie mit sich ziehen. Aber Irma hatte ihren Beutel mit Brot und Salami, den sie gehorsam bis eben getragen hatte, achtlos fallengelassen und rührte sich nicht. Die Strahlhitze des brennenden Hauses sengte tief in ihren Lungen, die verkrusteten Augen waren ein einziger Schmerz, sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, quälendes Halskratzen. Und ihre Kräfte hatten sie verlassen. Ihr Bruder begriff, was mit ihr los war. Wusste instinktiv, dass sie den Kampf, überleben zu wollen, aufgegeben hatte. Rabiat boxte er sie in den Rücken, weckte ihre Wut auf seine Schläge und mobilisierte damit einen kleinen Rest Willen in ihr. An seiner zerrenden Hand stolperte sie mehr, als dass sie ging, weg von den höllischen Flammen, weiter die Straße hinauf, immer wieder nach links oder rechts ausweichend, um den niederstürzenden Gesteinsbrocken zu entwischen. Aber dann war jäh Schluss. Die Straße, die zur Schule führte, bestand nur noch aus brennenden Häusern, an ein Durchkommen war nicht zu denken.
Sie retteten sich zusammen mit ihrer Mutter in ein noch intakt erscheinendes Haus, getrieben von peinigendem Durst. Vor Stunden hatten sie noch im vierten Stock eine gemütliche Wohnung besessen, jetzt war alles vernichtet und ihre Wünsche reduzierten sich einzig und allein auf einen Becher Wasser.
Sie stiegen in dem noch unversehrten Treppenhaus die Stufen zur ersten Wohnung hoch und öffneten sie. Sie war wie alle Wohnungen bei Bombenalarm gemäß der Hausordnung nicht abgeschlossen, damit die Luftschutzhelfer jederzeit ungehindert löschen konnten. Im selben Moment kamen auch ihre Bewohner aus dem Luftschutzkeller nach oben und das Wunder geschah: Es sprudelte munter Wasser aus dem Hahn in der Küche, als gäbe es da draußen kein Inferno.
„Wir wollen in die Schule Arnkielstraße, aber kommen hier nicht durch und die Langenfelder Straße ist auch ein einziges Flammenmeer", sagte Maria mit angsterfülltem Blick durchs Küchenfenster.
„Sie können über unseren Hinterhof gehen, der Zaun dort grenzt an die Schule, ich hole schnell die Axt und mache dort den Weg frei", sagte der Hausherr.
So schlüpften sie durch dieses in den Zaun geschlagene Loch auf den Schulhof.
„Oh Gott, die Schule brennt ja auch!", sagte Maria entsetzt, als sie das Gebäude erblickte.
Draußen stoben die Funken nur so um sie herum, sie mussten sich gegenseitig laufend die Kleidung abklopfen, damit sie nicht Feuer fing.
Als die kleine Familie in dem Luftschutzkeller der Schule eintraf, hatten schon an die zweihundert Leute dort Unterschlupf gefunden. Hier hofften sie, endlich etwas ausruhen zu können.
Das Feuer der Schule hatte sich jedoch auf die Turnhalle ausgebreitet, die sich direkt vor dem Luftschutzkeller befand. Die Luft im Keller wurde immer stickiger und verbrauchter. Da die Motoren für die Belüftung nicht funktionierten, aber dringend Luft in den Keller hineingebracht werden musste, bedienten zwei Männer eine für diesen Fall vorgesehene Handkurbel. Günter beteiligte sich an dieser kräfteraubenden Tätigkeit. In der Zwischenzeit hatte die in Flammen stehende Turnhalle eine so ungeheure Strahlhitze entwickelt, dass niemand mehr aus dem Keller herausgelangen konnte. So befanden sich die drei für Stunden in einer Falle.
Irma saß neben einem Mädchen, das immer wieder in Schüben weinte und bei dem es die Erwachsenen aufgegeben hatten, es zu trösten. Es kümmerte niemanden mehr. Jeder Einzelne war froh, noch am Leben zu sein.
„Was ist denn passiert?", fragte sie.
„Meine Kaninchen auf dem Balkon", schluchzte das Mädchen, „ich hatte dort zwei weiße im Stall, die sind bestimmt verbrannt."
Und da weinte auch Irma, weil sie die Vorstellung, dass diese schutzlosen Kaninchen nun auf so grausame Weise umgekommen waren, unendlich traurig machte. Die in Flammen stehende Turnhalle verschlechterte die Luft im Luftschutzkeller dramatisch. In dem Raum wurde es durch den Rauch immer dunkler. Es ließ sich nur beißender Rauch in den Keller kurbeln. Es entspann sich ein Streit darüber, ob man lieber nicht mehr Luft hinein sog oder es trotz des unerträglichen Qualms tat, um nicht ersticken zu müssen.
Morgens gegen sechs Uhr war die Turnhalle komplett abgebrannt, es konnte aber wegen der Hitze immer noch niemand aus dem Keller heraus. Sie mussten noch Stunden verharren, bis die Hitze sie durchließ.
Obwohl herrlichstes Sonnenwetter war, blieb Hamburg an diesem Tag dunkel. Eine gigantische Rauchwolke verdeckte die Sonne. Noch gegen Mittag benötigte man elektrisches Licht, um sehen zu können. Die kleine Familie beschloss, in den Schrebergarten der Tante Tine zu fliehen. Sie hofften, dass es dort nicht brannte.
Auf ihrem Weg sahen sie dicke Ascheschichten auf den kahlen Bäumen, die in dieser Nacht alle Blätter abgeworfen hatten. Und sie sahen Tote, gegen Mauern und Bäume gelehnt, ausgestreckt auf dem Gehweg, friedlich am Bordstein sitzend. Neben sich aufrecht stehend ihre Koffer mit dem Allernotwendigsten. Als warteten sie geduldig darauf, dass sich ihre Besitzer gleich wieder erheben, um mit ihnen weiterzugehen.
Am Morgen des 28. Juli hatte sich auf Nordstrand die bedrückende Stimmung wie eine bleischwere Decke auf die Kinder gelegt. Sie wollten wissen, ob die Bomber wirklich alle nach Hamburg geflogen waren und was dort passiert war. Die Betreuerinnen wichen aus und versuchten, die bohrenden Kinderfragen in eine andere Richtung zu lenken. Sie hatten jedoch nicht damit gerechnet, dass siebenjährige Kinder, die um ihre Eltern und Geschwister bangten, sich zu kleinen Erwachsenen verwandelt hatten, die beharrlich und unablässig weiter drängten und ihnen keine Wahl ließen.
„Es gibt keine Telefonverbindung nach Hamburg und auf Post müssen wir warten", sagte eine der Frauen.
„Ich will zu meiner Mama", weinte eines der Kinder und ein weiteres folgte.
„Das geht aber nicht", erwiderte eine der Betreuerinnen.
„Warum geht es nicht? Warum hast du geweint?"
Am Horizont in Richtung Hamburg hatte sich ein seltsames Phänomen gezeigt. Während auf Nordstrand der Tag einen klaren blauen Sommerhimmel hervorbrachte, war über Hamburg gleich einem Vulkan eine glutrote Haube mit einer sich darüber hochauftürmenden dunklen Wolkendecke zu sehen.
„Ganz Hamburg ist kaputt gemacht worden", platzte es aus einer der Frauen heraus, „alle sind tot."
Mit diesem Satz löste sie ein nicht mehr zu bändigendes Entsetzen und Weinen unter den Kindern aus, die sich nicht mehr beruhigten, sondern immer tiefer in Verzweiflung gerieten.
Thea und Liesel saßen auf der Bettkante und hielten sich an den Händen fest.
„Ich bin so traurig", schluchzte Thea und drückte sich an Liesel.
„Und mein Bauch tut weh."
„Ich hab auch so Bauchweh", sagte Liesel ganz leise.
„Du hast wenigstens noch die Greta, die dir dein Papa geschenkt hat", sagte sie zaghaft.
„Ich habe nichts von meinen Eltern."
„Warte", sagte Thea und kniete sich neben das Bett, holte ihren kleinen, braunen Pappmasché-Koffer darunter hervor und ließ dessen Klappverschlüsse aufschnappen.
„Du darfst mit ihr spielen", und sie drückte Liesel die kleine Puppe in den Arm.
„Da ist ja ein Foto von deiner Familie", Liesel zeigte auf das im Innendeckel des Koffers klebende Schwarz-Weiß-Foto.
„Ja, da sind wir alle drauf", sagte Thea und Tränen liefen ihr die Wangen herunter, „Papa hat es mir da reingeklebt, damit es nicht verloren geht."
„Was macht ihr beide da?", fragte eine Betreuerin, „das Bett ist nicht zum Spielen da, pack deinen Koffer sofort weg, Thea! Und beeilt euch, es ist Zeit für unseren Nachmittagsspaziergang."
Thea ging an der Hand einer der Frauen. Gemeinsam wanderten sie auf den kleinen Deich, um auf die Nordsee zu gucken. Aber das in der Sonne glitzernde Wasser konnte Thea nicht mehr begeistern, sie drehte sich weg. Plötzlich schnellte ihr Zeigefinger in Richtung der Landstraße.
„Guck mal, genauso sieht die Uniform meines Papas aus."
„Man richtet nicht den Zeigefinger auf fremde Menschen!"
„Aber die sieht genauso aus, wie bei Papa, der ist nämlich Zugschaffner." Gebannt ließ Thea diesen Mann, der immer näher kam, nicht aus den Augen.
Und dann riss sie sich von der Betreuerin los.
„Papa", schrie sie und rannte so schnell den Deich herunter, dass sie ins Stolpern geriet. „Papa!", rief sie und flog in die Arme des Mannes, der sie hochhob und an sich drückte.