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Trinkpäckchen-Faulfrettchen
Im Reisebus zum Schullandheim in Urft gab es drei Arten von Kindern. Erstens, Kinder mit muttergeschmierten Broten: Doppelte Stullen mit Butter und Käse oder Butter und Gesichtswurst. Zweitens, Kinder mit mehrgängigen Menüs: Kalte Schnitzel oder Frikadellen mit Kartoffelsalat, geschälte und entkernte Apfelviertel, meistens braun, manchmal in durchsichtige Folie gewickelt, eine Packung Haribo zum Teilen. Drittens, Kinder mit Fünfmarkstücken, mit denen Bockwürstchen, Raider und Yps an der Raststätte gekauft wurden. Alle drei Arten von Kindern hatten Trinkpäckchen. Die hatten winzige Plastikstrohhalme an die Rückseiten geklebt, mit Klebstoffplacken, die man abknibbeln und mit den Fingernägeln zu Splittern auseinanderknipsen konnte. Und dann musste man den Strohhalm mit dem spitzen Ende zuerst aus der knistrigen Hülle drücken und in das silberne Loch bohren, dabei nicht zu fest quetschen, sonst kam der Orangensaft rausgepieselt.
Es gab drei Arten von Kindern im Bus – und mich.
Meine Mutter hatte am Tag zuvor gesagt: „Vergiss nicht, dir was zu essen einzupacken.“
Ich blickte finster in den Kühlschrank. „Wir haben nur Gouda!“
Meine Mutter zog ihren gelben Mantel an, der nach Mutter und Zigaretten roch, der Platz hatte, dass man mit rein konnte, der sich um einen schloß wie ein Tipi. „Ich lass dir Geld da. Du kannst zum Aldi gehen und Leberwurst kaufen. Wir brauchen eh noch Brot.“
„Kann ich mir auch Trinkpäckchen kaufen?“
„Du kannst Orangensaft kaufen und ihn in deinen Becher füllen.“
Mein Becher! Ich hatte ihn mir im Wander- und Klettergeschäft selbst ausgesucht. Schön sah er aus, blau mit gelben Kringeln um den Deckel. Der Schraubverschluss saß nie wieder so schön gerade und dicht wie an diesem Tag im Wander- und Klettergeschäft. Und diesmal ging es um was. Mein Hasenrucksack sollte nicht so fies riechen wie mein Schulranzen.
„Aber Orangensaft im Becher ist nicht dasselbe wie Trinkpäckchen.“
„Stimmt, Trinkpäckchen ist Orangensaft mit Wasser und Zucker und viel Plastikmüll drumrum.“
Es war hoffnungslos. Nachdem meine Mutter zum Spätdienst gefahren war, ging ich zum Aldi, wo ich an den Paletten mit den lachenden Sonnen stehenblieb und dann weiterlief. Leberwurst und ein eingeschweißtes Roggenmischbrot ist nicht viel zu tragen. Es war ein schönes Gefühl, sich den runden Laib, der kein echtes Teekesselchen war, unter den Arm zu klemmen und den Berg runter zu rennen. Man musste sich nur vorbeugen und die Beine laufen lassen.
Beim Abschiedswinken fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, Brote zu schmieren und Orangensaft in den Becher zu füllen. Ich saß neben meiner besten Freundin, der dicken Nadine mit der Schweinenase und den schönen langen, blonden Haaren. Sie gehörte auch zu keiner der drei Kinderarten. Wie jeden Tag hatte sie ihrer dicken Mutter mit der kaputten Hüfte und keinem Mann Geld aus dem Portemonaie gestohlen und sich am Kiosk eine gemischte Tüte für zwei Mark gekauft. Sie gab mir ein paar Gummischlümpfe und Brauseufos ab. Und Lena, die zur ersten Kinderart gehörte, schenkte mir ein Brot, das aussah wie Leberwurst, in Wirklichkeit aber Teewurst war und scheußlich schmeckte. Sowas konnte passieren, wenn eine Mutter schmierte. Sie gab mir auch von ihrem Trinkpäckchen ab. Aber in so einem Päckchen ist nicht viel drin, da musste ich mich verteilen, von Sitzreihe zu Sitzreihe gehen und fragen: „Kann ich einen Schluck aus deinem Trinkpäckchen haben?“ Viele Kinder ließen mich trinken, natürlich nicht Andi und seine doofen Freunde, aber die meisten. Die Fahrt war lang. Wenn jemand in großzügiger Stimmung war, hob er sein Päckchen hoch und rief „Trinkpäckchen“, dann kam ich und holte mir einen Schluck ab.
Manches in Urft war gut, anderes schlecht, das meiste mittel. Das Schullandheim hatte einen Stall mit Kühen und Ziegen, aber wir durften nicht alleine rein. Nur mit dem Referendar und der hatte nur gute Schuhe mitgenommen. Wenigstens saß die gefleckte Katze immer draußen. Wir wanderten mit Frau Pate und ihrem Mann, der Richter mit Zwirbelbart war und uns faul und langsam schimpfte. Wir suchten Fossilien, Dinosaurierknochen, und fanden ein paar Kiesel mit Schneckenabdrücken. Das Großartigste war, dass ich mir eines Tages am Frühstückstisch den halben Daumennagel mit dem Käsehobel bis ins Fleisch hinein abhobelte und von Frau Pate ins Krankenhaus gefahren wurde. Ich bekam einen Verband mit Netzstrumpf drumherum, der bald grau wurde. Wir aßen alle das gleiche Essen, auch komische Sachen wie rote Grütze mit Vanillesoße. Für die Rückreise bekamen wir Proviantbeutel. Das waren braune Papiertüten mit zwei Käsebroten und einem ungeschälten und ungeschnittenen Apfel. Für alle das gleiche. Dazu durften wir uns eine große Flasche Sprudelwasser mitnehmen. Keiner hatte mehr Trinkpäckchen übrig.
Auf der Rückfahrt bewarfen wir uns mit den nutzlosen Äpfeln, bis der Richter uns anschnauzte. Nadine und ich lasen Wendy, da rief es plötzlich von vorne: „Trinkpäckchen!“ Das war Andi und er hielt einen Sunkist-Beutel hoch, hundertmal wertvoller als ein normales Trinkpäckchen. Ich quetschte mich an Nadine vorbei und lief durch den schaukelnden Bus zu Andi hinüber. Er grinste und fragte: „Willst du was abhaben?“ Seine Freunde lachten. Ich sagte „Ja“ und erwartete, dass er eine Bedingung stellen würde. Vielleicht müsste ich ihn eine Brennnessel auf meinem Arm machen lassen. Ich war bereit für den Schluck mit Schmerz zu zahlen, aber er sagte nur „hier“ und gab mit den Beutel. Ich zog lange an dem dünnen Strohhalm. Wenn man nur einen Schluck hat, muss man gut und schnell saugen können. Aber da war was verkehrt. Ich spuckte den Saft auf den Boden und schmiss Andi den Beutel an den Kopf, dass es nur so spritzte. „Du Arschaffe! Der ist faul!“, schrie ich und stürzte mich auf Andi, warf ihn zu Boden und riss ihm Haare aus seinem gelockten Nackenschwänzchen. Wir kugelten über den Boden und boxten uns in die Bäuche, da erhob sich ein Gesang: „Trinkpäckchen-Faulfrettchen! Trink_päck_chen-Faul_frett_chen!“
Das Silbenklatschen hatten wir gerade erst in Deutsch gelernt.
„Was ist da hinten los?“, fragte der Busfahrer in das Mikrofon. Obwohl ich noch kämpfte, konnte ich sehen, dass Nadine mitsang: „Trinkpäckchen-Faulfrettchen!“
Ich rief: „Halt’s Maul, du fette Kuh!“
Da hielt sie die Klappe und drehte ihr rotes Schweinegesicht zum Fenster.
Der Richter riss mich und Andi an den Armen hoch. Das war schlimmer als Brennnessel. Er richtete: Andi musste vorne bei ihm und Frau Pate sitzen und ich musste den Saft aus dem dunkelrot gewürfelten Reisebusteppich schrubben, mit einem Schwamm, der im Notfallkotzeimer neben dem Fahrer aufbewahrt wurde.
Ich war noch immer am Putzen, als der Richter die erste Zeile vorsang: „Die Wissenschaft hat festgestellt, festgestellt, festgestellt, dass Coca Cola Ei enthält, Ei enthält.“ Und die Klasse sang hinterher: „Drum trinken wir auf jeder Reise, jeder Reise, jeder Reise, Coca Cola eimerweise, eimerweise.“
Da fuhr der Bus um die Ecke und mir wurde schlecht.