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- 15.03.2008
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Tricks
"Du bist sein Freund, du kennst ihn. Wird er bleiben?"
"Ich weiß nicht", sagte er. "Frag ihn."
Robert sah aus dem Fenster. Über schneebedeckte Hügel und den hohen schwarzen Zaun entlang, zu der einzigen Bewegung in seinem Sichtfeld: Die fand innerhalb des umzäunten Grundstücks der Maiers statt: Ein schwarzer Hund lief im Radius einer festgestellten Leine um einen Pflock. "Die Hügel sind Markus und ich damals runtergerodelt", erinnerte Robert.
"Ja ... ", sie lächelte. "Lang ist es her."
"Ich sehe den Schlitten noch vor mir", sagte er. "Er war mit vielen roten Äpfeln beklebt. Manche Details vergisst man anscheinend nie."
Sie folgte seinem Blick, ein kleines Zittern durchlief ihren Körper, dann drehte sie sich weg. "Und manches lässt sich nicht vergessen", sagte sie. Er hörte ihre Schritte, dann die Tür.
Robert duschte, zog frische Sachen an und ging zwei Etagen tiefer. In den Keller, zu Markus. Der saß im Schneidersitz vor der Playstation und ließ gerade eine Zigarette in eine fast leere Bierflasche fallen. Es zischte leise. "He", sagte Robert und fläzte sich in einen Sessel.
"Wie läufts?", fragte Markus, während er den Joypad bearbeitete. Seine Spielfigur zog einen Autofahrer aus einem vor einer Ampel parkenden Straßenkreuzer, stieg ein, und fuhr über die rote Ampel und durch die Straßen. "Deine Alte nervt", sagte Robert. "Sie macht Anspielungen auf das, was damals gelaufen ist. Hoffentlich will sie nicht darüber reden."
Markus lachte. "Besser du simulierst Interesse. Sie ist die Hausherrin, mein Freund. Du schläfst unter ihrem Dach und frisst ihre Vorräte."
"Wir sind schon zu lange hier", sagte Robert.
Markus Spielfigur schlich durch ein halbverfallenes Haus und ballerte mit einer abgesägten Schrotflinte auf abgerissene Gestalten. "Nach dem Geburtstag des Alten", sagte er, "können wir verschwinden."
"Ja klar", sagte Robert. "Deswegen sind wir hier."
"Samstag ist es so weit", sagte Markus. "Morgen, glaub ich."
"Keinen Tag länger", sagte Robert.
Lise schaufelte mit Reggae im Ohr Trampelpfade zu Garage und Briefkasten, machte die Eisschicht vor dem Garagentor mit dem Spaten kaputt, bis es sich wieder öffnen ließ, und ging mit Lola, der schwarzen Labradorhündin, spazieren. "Hi Ma", sagte sie zu Hedwig, als sie mit Lola durch die Küche ins Haus kam. "Was gibts heute?"
Mittag
"Kannst du dir nicht mal was Vernünftiges anziehen? Ein Mindestmaß Respekt kann nicht zu viel verlangt sein."
"Wir sind doch unter uns", sagte Markus, "der Alte ist unterwegs. Wir müssen uns nichts vormachen. Lise trägt ja auch kein Galakleid."
"Lise hat bis eben gearbeitet."
"Ma, rumhängen ist auch harte Arbeit. Ihr macht euch keine Vorstellung, wie viel Mühe es gekostet hat, den jetzigen Verwahrlosungszustand zu erreichen. Und wie viel Überwindung es braucht, den zu erhalten, trotz der zwanghaften Ordnungsvorstellungen, die hier so herrschen. Man kann jeden Tag sein Leben ändern - das zu wissen ist furchtbar lästig."
"Ach, Markus", sagte sie, "mach doch nicht so ein Riesenfass auf. Setz dich bitte einfach nicht in deinem sabschigen Bademantel an den Mittagstisch ... Guten Appetit."
Sie löffelten schweigend ihre Suppe. "Schmeckt", brummelte Robert zwischendurch.
"Die ist toll geworden", sagte Lise, "Heiße Kartoffelsuppe ist bei dem Wetter genau das Richtige."
"Hauptsache", sagte Hedwig, "du bist zu Papas Geburtstag ordentlich angezogen. Ich habe dir was rausgelegt, probiere bitte ob es passt. Dass du auf der Feier nicht rumläufst wie ein Strauchdieb."
"Ja klar, Ma, kein Problem. Mit dem entsprechenden Kostüm werde ich mich auch leichter in meine Rolle einfühlen können. Wir können wetten, der Alte wird versuchen, mich als erfolgreich hinzustellen und diesen Erfolg als seinen zu verkaufen. Das kann er wenigstens: Lügen und verkaufen", sagte Markus.
"Bitte Markus", sagte seine Mutter. "Lass das."
"Mich würde es freuen", sagte Lise, "wenn wir dich wieder öfter zu Gesicht bekommen würden."
Markus lächelte sie an und löffelte den letzten Rest Suppe aus. Als er aufstand, reichte seine Mutter ihm ein Kuvert. "Vom Vater", sagte sie.
Robert und Markus
Robert beobachtete von seinem Zimmer im ersten Stock Lola, die den Zaun ablief und ihre Nase immer wieder in den Schnee steckte. Sie suchte nach den Löchern, die sie gegraben hat, um nach draußen zu kommen. Aber die Löcher waren alle wieder zugeschaufelt und der Boden mittlerweile gefroren.
Markus legte sich hin, fand aber keinen Schlaf. Das wiederaufgenommene Sinnlosgespräch hatte einen verdrängten Erinnerungsbereich stimuliert. Und eine Argumentationsmaschinerie in Gang gesetzt, die jetzt lief.
Markus ging ins Badezimmer. Das Kellergeschoss war sein Reich, das hatten die Eltern auch während seiner fünfjährigen Abwesenheit nicht geändert, alles stand an seinem Platz, er benutzte ein Stück Seife, das vor ungefähr 1500 Tagen das letzte Mal in seiner Hand gelegen hatte, mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der die alten Argumente über seine Zunge gingen.
Beim Rasieren fiel ihm auf, wie krank er aussah. Das liegt an dem künstlichen Licht, erinnerte er sich, diese kalten Neondeckenleuchter. Der Alte hat diese Leuchter einbauen lassen, damit ich krank davon werde, jeden Tag mein Gesicht in diesem Unlicht zu sehen, das allem die Farbe und Vitalität raubt. In dem Badezimmer seiner Eltern fand er das Licht nicht so kühl und fahl, sich selbst nicht blass und grau, dort war vitales Licht, in dem die Wangen rosig wirkten und die Zähne strahlender.
Contenance, ermahnte er sich.
Markus klopfte den Rasierer im Waschbecken aus, entfernte die Reste von Rasierschaum mit dem Handtuch und ging in sein Zimmer. Zog eine Jogginghose über, warf sich den fleckigen Bademantel um die Schultern und schaltete die Playstation an.
Robert klopfte und kam herein. "Klebt der an dir?", fragte er. "Du ziehst den Kaftan ja gar nicht mehr aus."
"Warum sollte ich."
"Lass uns heute abend Filmchen kucken. Ich habe Lise gefragt, sie will auch kommen. Mal schauen, ob man ein vernünftiges Wort mit ihr reden kann, wenn wir unter uns sind. Die war doch auch mal ein lässiges Mädchen, das kann doch nicht alles weg sein", sagte Robert.
"Keine Ahnung", sagte Markus, "sie ist meine Schwester."
Seine Spielfigur machte ein paar Sätze Krafttraining, dann ließ er sie in einen Learjet einsteigen und flog über die Canyons eines virtuellen Amerika in den Sonnenuntergang.
"Aber das mit dem Gelaber würd ich sein lassen, echt", sagte Robert. "Schalt mal nen Gang runter. Du hast dich doch gar nicht unter Kontrolle, allein was du am Mittagstisch von dir gegeben hast, dabei waren dort nur wir. Das wird eine Sternstunde der Lächerlichkeit, wenn du mit solchen Klugheiten bei deinem Alten ankommst."
"Tja", sagte Markus, "da hab ich mich in was verstiegen."
"Glaubst du, am Geburtstagsabend kannst du auf dem Teppich bleiben - wenn der Alte dich rumzeigt wie ein Wundertier?"
Markus schüttelte den Kopf und landete den Jet auf einer staubigen Piste. Die Spielfigur stieg aus und ging in einen Hangar, wo Markus speicherte.
"Ich muss mich zusammenreißen. Tun, was er von mir will, damit ich kriege, was ich von ihm will."
"Du prostituierst dich", sagte Robert. "Aber das ist schon in Ordnung. Ich würde euch sogar das Mieder schnüren, Madame Ungefällig, und in die illustre Abendgesellschaft stoßen. Irgendwo muss das Geld ja herkommen ..."
"Was ist eigentlich mit deinen Alten", fragte Markus.
"Funktioniert nicht", sagte Robert. "Gib mal Geld, ich fahre in die Stadt, bisschen Dope und den Film holen." Markus fand einen zerknitterten Fünfziger in einer Tasche des Bademantels und gab ihn Robert.
Robert fand Markus Mutter vor der Garage, wo sie den Neuschnee wegschippte. "Warte, Hedwig", sagte er, "ich helfe dir." Er nahm den zweiten Schneeschieber und schob die weiße Decke zu kleinen Haufen am Rand der Auffahrt zusammen. "Du solltest dir nicht so viel zumuten."
"Danke", sagte sie, "aber man muss schon bisschen was machen. Ich bin ja kein Invalide, nur weil ich alt bin."
"Nein, nein", sagte Robert, "das sagt ja auch niemand. Aber um Hilfe bitten ist keine Schande, oder?" Hedwig sah ihn überrascht an.
"Lass mich das mal zu Ende machen", sagte Robert, "Jetzt habe ich den Schneeschieber schon in der Hand, das soll sich auch lohnen."
"Das ist nett", sagte sie, stellte ihr Werkzeug neben die Eingangstür und klopfte die Stiefel auf der Fußmatte ab.
"Sag mal, Hedwig. Kann ich nachher deinen Wagen haben?", fragte Robert. "Ich muss ein paar Kleinigkeiten besorgen." Sie sah ihn scharf an, nickte müde und sagte, dass er ja wisse, wo der Schlüssel hänge.
Mit und ohne Korsett
Lise rauchte ohne zu inhalieren und beobachtete Markus, der mit halbgeschlossenen Lidern auf den breiten Flachbildschirm linste und sich Chips zwischen die fettglänzenden Lippen schob. Robert lachte sich halbtot, und keuchte, dass er gleich sterbe, wenn der Streifen so weitergehe. Tatsächlich war gerade jemand gestorben. Im Film.
Ein junger Edelmann hatte seinen besten Freund zur Rede gestellt, weil er glaubte, dass der mit seiner Verlobten geflirtet hätte. Der Freund meinte, ihr keine schönen Augen gemacht zu haben, das wäre auch unnötig, weil sie offen für jeden sei. Das war der Anlass für das Duell im nebligen Morgengrauen. Mit zwei kreuzhässlichen Sekundanten, irgendwo in der Provinz des zaristischen Russlands. Die Treffsicherheit des jungen Edelmannes war eindeutig nicht so ausgeprägt entwickelt wie sein Ehrempfinden - jetzt lag er mit einem recht harmlos aussehenden Loch in der Stirn auf den hölzernen Bohlen des Stegs, tot.
Tragisch, das alles, dachte Lise. Sie konnte sich dabei aber nicht so recht entscheiden, ob das eigentlich Tragische in diesem Raum die Verwicklungen der russischen Seele in Liebe und Tod waren oder Markus und Robert in ihrem natürlichen Umfeld erleben zu müssen.
"Bist du beim Geburtstag des Alten auch da?", fragte Markus.
"Was für eine Frage", sagte sie. "Natürlich bin ich da. Und du – wo bist du eigentlich gerade?"
Konnte sein, dass er zwischen seinen Lidern verschlafen zu ihr rüberschielte, das ließ sich nicht zweifelsfrei feststellen. "Somewhere out of order", sagte er und hielt den Joint Richtung Robert. Der kaute auf der Unterlippe und sah zu, wie der überlebende Duellant mit gramvollem Gesicht neben dem Erschossenen kniete. Die Kamera schwenkte zu einer jungen Frau, die hinter einem Baum verborgen alles beobachtete.
"Robert!", rief Lise und registrierte befriedigt sein Zusammenzucken. Er schüttelte den Kopf und meinte, er bräuchte einen Kaffee.
"Du siehst noch ziemlich frisch aus", sagte er und kuckte Lise an. Die lächelte.
"Kann nicht klagen", sagte sie.
"Wie hältst du das hier eigentlich die ganze Zeit aus?", fragte Robert. "Du warst doch auch mal cool und hattest vernünftige Ansichten. Und jetzt gehst du brav arbeiten, machst Hausfrauenjobs, diese ganze Normaloscheiße", sagte er, "Womit macht man dich gefügig?"
"Fügen?", lachte Lise. "Was für ein Unsinn!"
"Trotzdem bist du auf diese Scheiße reingefallen ... wie jeder. Verräter und Dummköpfe, alle miteinander."
"Du hältst Respektlosigkeit und Ignoranz immer noch für Tugenden! Beeindruckend ist daran nur deine Lernresistenz."
"Die haben dich verbogen, Lise", sagte er, "die Gesellschaft und das ständige Hiersein haben dich krank gemacht." Sie schüttelte den Kopf und rieb ihre Augenhöhlen.
"Was treibt euch beide überhaupt her?", fragte sie. "Nach dieser kleinen Ewigkeit – was ist passiert?"
"Der Alte wollte mich auf seinem Geburtstag haben", nuschelte Markus.
"Und, was hast du davon?"
"Wa-Was meinst du?", fragte er. "Ich komme zu Papas Geburtstag, für eine Versöhnung. Das weißt du doch."
"Woher der Sinneswandel?", fragte sie. "Warum willst du dich versöhnen? Nachdem du es fünf lange Jahre nicht einmal für nötig gehalten hast, eine Karte zu schreiben oder anzurufen."
Markus fingerte nach der Chipstüte, steckte sich eine Hand voll der gewürzten Kartoffelscheiben in den Mund und kaute krachend.
"Markus hat das immer zu schaffen gemacht", sagte Robert. "Er hat oft von euch gesprochen, vor allem von dir, Lise, wagte es aber nie, sich zu melden."
Lise sah Markus an, der nickte und stellte den Fernseher lauter. Im Film wurde gefeiert. Die Geliebte des totgeschossenen Duellanten hatte ganz rote Wangen und fächerte sich hektisch Luft zu, während sie mit einem anderen Provinzadligen kicherte. Der Duellsieger sah den beiden zu, nur ein scharfer Knick des rechten Mundwinkels verriet eine Gemütsbewegung.
Nachdem sich die Unerfüllbarkeit seiner spät entdeckten Sehnsucht herausgestellt hatte, in einer offenherzigen Szene voller Wollen ohne Dürfen, war der Duellsieger und Filmheld eine Prachtstraße in Sankt Petersburg hinuntergelaufen, im Vordergrund liefen die Textbänder des Abspanns über den Bildschirm. Lise schaltete den Fernseher aus. Sie war als einzige noch wach. Und betrachtete im matten Licht zweier Lavalampen das feist und aufgeschwemmt wirkende Gesicht ihres Bruders, um dessen Mund es fettig glänzte.
Ich würde dich gerne öfter hier sehen, hatte sie am Mittagstisch gesagt. Das war ein Vorschuss gewesen, für den er noch etwas tun müsste. Sie überlegte jetzt, ob sie sich tatsächlich freuen würde, ihn hier zu haben, in diesem Haus und ihrer aller Leben. Was er hier wollte, ob man ihm trauen konnte, ob er sich selbst trauen konnte. Nachdem sie einige irrationale Momente gegen den Impuls ankämpfen musste, den schlafenden Robert zu ohrfeigen, knipste sie die Lampen aus und ging in ihr Zimmer.
Anprobe
Markus probierte die herausgelegten Sachen an: schwarze Anzughose, weißes Hemd und dunkelblaues Jackett. In der neuen Hülle fühlte er sich, das überraschte ihn, gut. Vergessen für den Moment seine verächtlichen Statements über den Alten, das Lustigmachen über die Show. Er sah sich im Spiegel und fand schick, was er sah. Markus lächelte sein Spiegelbild an, machte eine halbe Drehung und hob den Jackettsaum, um den Sitz der Hose zu prüfen. Sitzt.
Quer schoss ihm der Gedanke in den Kopf, wie es wäre, wieder hier zu leben. Er könnte bei seinem Vater in der Firma arbeiten, wie es früher der Plan des Alten gewesen war. Markus würde einen eleganten Wagen fahren, in einem Haus wohnen und, warum nicht, irgendwann Frau und Kinder haben. Markus im Konjunktiv-Modus, in der Verbindung von Möglichkeitswelt und Outfit spürte er das seltene Gefühl von innerer und äußerer Kongruenz. Seine Lebenswidersprüche lösten sich auf - bis es klopfte.
"Ja", sagte Markus. Seine Mutter kam herein, über dem Arm ein paar frische Handtücher. Hedwig lächelte, als sie ihn sah. "Wie hübsch das aussiehst", sagte sie. Hedwig kam auf ihn zu, strich über den linken Oberarm, Schulter und Rücken und hob dann schnell das Jackett, um zu kucken, wie die Hose am Hintern sitzt. "Mama!", beschwerte sich Markus und spürte den Kopf heiß werden.
"Entschuldige", sagte sie ungerührt. Genau wie früher, dachte Markus und dass sie es beim nächsten Mal wieder tun würde, wenn er nicht aufpasste. "Du ahnst gar nicht, wie viele Sorgen wir uns gemacht haben." Hedwig legte eine Hand auf seine Schulter.
"Sorgen?"
"Ja. Vater auch, obwohl er getan hat, als wäre nichts. Aber ich weiß, was in ihm vorgeht."
"Wann kommt er zurück?", fragte Markus.
"Er kommt heute abend direkt aus China zu dem Hotel. Der Sturkopf hat es sich nicht nehmen lassen, alles selbst zu organisieren." Sie seufzte.
"Es ist sein Jubiläums-Geburtstag, die Geschäfte laufen gut, alle feiern ihn, du machst einen ordentlichen Eindruck – er wird milde gestimmt sein."
"Glaubst du denn, er will das?", fragte Markus.
"Ja. Ich habe mit ihm gesprochen. Er wird sich einer Versöhnung nicht in den Weg stellen."
Fahrt zum Hotel
Dann, am Abend, die Fahrt zum Hotel. Der Vater hatte einen Wagen mit Chauffeur bestellt, entgegen ihrer Wünsche, niemand wollte das, aber der Vater. Es war ja sein Ehrentag.
Jetzt in einer Stretchlimousine, sie saßen nebeneinander, nicht einmal die Hälfte der Sitzplätze war besetzt. Auf der anderen Seite des Innenraums waren Bar, Fernseher und Kühlschrank. Eine Flasche Schampus in einem Eiskübel.
Peinlich, dachte Lise, so ein Auto, peinlicher, für eine Fahrt damit fünfhundert auf den Tisch zu legen, am peinlichsten, dass sie drin saßen. Sie registrierte ihre verkrampfte Sitzhaltung und begann die Schultern zu kreisen.
Markus war ganz unruhig, er würde gerne etwas mit den Händen machen, ihm fehlte der Joypad, oder mit Robert zu quatschen oder – ich wäre gern woanders, irgendwo anders, dachte er.
Ihn fiel die Idee an, dass er mittlerweile gut in diese Umgebung passte, die er früher so gehasst hatte. Falschheit und Genusssucht hatte er vor Jahren vor allem der Welt seines Alten zugeschrieben. Jetzt saß er in diesem absurden Fahrzeug, überdachte sein geliebtes Feinbild und glaubte es wiederzuerkennen in den eigenen verweichlichten Zügen, die sich im Fenster spiegelten.
Der Gedanke trieb vorbei, verwirbelte zu flirrendem Schwarz, der Farbe der hohen Hecken, an denen vorbei sie durch den späten Abend fuhren, scherenschnittartig hoben sich gegen den etwas helleren Himmel die Spitzen und Piken der Zäune im Villenviertel ab, stachelbewehrt, genau wie der zweieinhalb Meter hohe Stahlzaun der Maiers. Um Menschen draußen zu halten, dachte Markus, oder drinnen, je nachdem. Aber, aber.
Was für einen perfiden Plan hat sich der Alte eigentlich ausgedacht, überlegte er. Warum treffen wir ihn erst auf der Feier und warum habe ich ... und Lise, ja, dachte er, die haben mich abgelenkt, aber auch das könnte Teil ihres Plans, mich - wer weiß, was die mit mir vorhaben.
Konzentrier dich Mann!, heute abend, da bist du an einem Scheideweg, zurück zur Fam... Oder weiter nach Irgendwo, Treibenlassen - ich weiß nicht, ob.
Markus versuchte sich das Gesicht seines Alten vorzustellen, flüsterte die Worte vor sich her, die er ihm sagen wollte, oder er wollte die Worte vor sich herflüstern, die Lippen bewegten sich. Konzentrier dich! aber keine Worte, kein Gesicht, nur phonetische Fetzen und Bildstücke, die aus irgendwelchen Tiefen emporstiegen, das darfst du nicht vermasseln, das Gesicht seines Alten, wie ging das noch mal, letzte Abfahrt, kein Gesicht schälte sich heraus, nur eine starre Maske, nein, eine dunkle Masse, eine schwarze Wand, die immer näher kam, immer.
"Markus!", schreckte ihn Mutters Stimme aus dieser düsteren Meditation. Er sah, wie sie ihm ein Glas Champagner reichte, automatisch griff er danach, umfasste den dünnen Stiel mit drei Fingerkuppen, sein ganzer Arm zitterte, der Inhalt des etwas zu vollen Glases schwappte bedrohlich. Dann, ein Fleck auf der Hose.
Lise zog die Augenbrauen hoch, reichte eine Serviette. Markus wollte danach greifen, kriegte aber diesen Arm nicht unter Kontrolle, hielt mit der freien Hand seinen Zitterarm am Ellbogen fest, dann ging es. Hilflos sah er zu, wie seine Mutter die Serviette nahm und auf dem Fleck herumwischte. Auf dem Oberschenkel, nah an seinem.
Markus grinste dümmlich. Lise wollte das nicht sehen, sah aus dem. Die Mutter meinte, so, fertig, war doch gar nichts. Markus spürte Nässe durch die Hose sickern. Er unterfasste das Gläschen wie einen Kelch mit beiden Handflächen, und schlürfte es mit einem langen Schluck leer. Hedwig rang sich ein Lächeln ab, das in ihrem verspanntem Gesicht schrecklich falsch wirkte und stieß mit Lise an, deren Profil Markus hektischer Blick im Vorbeiflug als versteinert meldete. Er schloss die Lider, machte Zähl- und Atemübungen, und hatte sich, als der Wagen hielt, wieder einigermaßen unter Kontrolle.
Die Feier
Sie hielten in einer freien Parktasche direkt vor dem Hotel. Ein livrierter Page eilte herbei und öffnete nacheinander die Türen. Hedwig stieg zuerst aus, nachdem sie ihr Partylöwengrinsen aufgesetzt hatte, vor dem Markus sich als kleines Kind gefürchtet hatte. Er hatte diesen wiederkehrenden Traum in der Kindheit gehabt, Mama, die ihm eben noch aus einem Buch vorlas, dreht sich kurz weg, reagiert verräterisch lange Sekunden nicht auf die piepsige Stimme des Kleinen, und wenn sie sich zurückdreht.
Lise setzte als zweite ihren Fuß in den Abend, schlicht und klassisch, im kleinen Schwarzen, sie lächelte zurückhaltender, man könnte es kühl nennen, aber nein, sie war nur verhaltener, vorsichtiger.
Und Markus - machte eine gute Figur. Eigentlich wie jemand, der dafür geschaffen ist, dachte Hedwig, als sie einen kurzen Blick auf ihr Sorgenkind warf. Aber Sorge war im Moment augenscheinlich nicht nötig, er machte einen soliden bis guten Eindruck. Markus ging mit festen Schritten, lächelte gelassen, als wäre er es.
Er war es. In welches Chaos sein Innenverkehr vorher auch ausgebrochen war – er empfand es nur noch als schwammiges Etwas, einen kleiner werdenden Punkt aus verwirbelndem Rot und Schwarz. Jetzt herrschte Ruhe, nun fühlte er sich wie am richtigen Ort zur richtigen Zeit, auf diesem roten Teppich, freundlich dem Pagen zunickend, als wäre er in dieser Welt zu Hause.
Die Brasserie, das Hotelrestaurant, war hell erleuchtet, festlich geschmückt; durch die großen Fenster erkannte Markus ein langes Buffet, mit Köchen alle sieben Meter, die strahlten, ihre Hüte in vor der Hüfte gefalteten Händen haltend; Grüppchen von Menschen in Smoking, Galakleidern und solchem Zeugs; mit Gläsern in der Hand standen sie um diese kleinflächigen und hochbeinigen Rundtische herum, die scheinbar nur für diese Parties erfunden worden waren.
Er spürte seinen Schwung, sah die Flügeltüren mit den Messingknäufen, hinter denen das Reich seines Alten begann, und ging unwillkürlich etwas langsamer. Links und rechts hakte man sich ein. Meine Frauen, dachte Markus und freute sich, wie schön das Jetzt harmonierte, wie gut er in diese Form passte. Markus dachte beim Hineingehen, dass er seinen Vater nicht nach Geld fragen wird, um seine Rückkehr nicht mit billigen Begierden zu entweihen, sondern das Versöhnungsangebot des Alten anzunehmen, als wäre es das Einzige, was ihn interessierte.
Aber erst die Reden. Die drei waren ziemlich spät eingetroffen, die Feier war schon in vollem Gange. "Ungewöhnlich", flüsterte Markus.
"Sicher", raunte Lise zurück, "Ich weiß auch nicht, warum Paps es so eingerichtet hat." Jetzt wechselten sich alte Freunde und Geschäftspartner bei der Beweihräucherung des Alten ab, der mit dem obligatorischen Glas an einem Tisch stand, neben einer dreißig Jahre Jüngeren. Er hatte die obersten Hemdknöpfe über dem breiten Brustkorb geöffnet, als ob er Hitze hätte, schwarzes Drahthaar auf gebräunter Haut; seine goldene Nickelbrille saß etwas schief auf der Nase, die Haare waren leicht durcheinander. Der Baron nach einer schnellen Nummer im Stroh des Reitstalls, dachte Markus.
Der Jubiliar registrierte seine Familie sofort, als hätten spezielle Sensoren angeschlagen. Er lächelte Hedwig und Lise zu und hob das Glas. Markus schien es, als verliere sein Lächeln Wärme, als er es Markus, seinem Sohn widmete. Der kämpfte gegen das altbekannte Gefühl, ein Klischee oder einen Pappkameraden zu sehen, wenn er seinen Alten sah, und zwang sich zu einem Lächeln.
Sie stellten sich an einen Tisch und wappneten sich gegen die zu erwartenden Lobreden. Jeder Gratulant schien sich genötigt zu fühlen, eine mindestens viertelstündige Laudatio zu halten, um gegenüber dem Gastgeber oder im Vergleich zu den Vorrednern nicht schlecht dazustehen. Man ließ die Zuhörerschaft durch endlose Wortwüsten wandern, allerdings ohne die eleganten Schwünge der Dünen, dafür mit einer kantigen Bürokratensyntax, die nie etwas wagte, und wenn sie doch etwas wagte, es sogleich verlor.
Alle steuerten die mehr oder weniger gleichen Oasenpunkte an, große Stationen im Laufe eines groß gewordenen oder geredeten Lebens: des Alten erstes Moped, mit dem er als Vierzehnjähriger Kartoffeln von den umliegenden Bauernhöfen aufgekauft und am Rande von Wochenmärkten für einen lächerlich geringen Aufpreis verkauft hatte. Ausbeutung und -bildung als Handelsgehilfe, Klassenbester. Heirat. Eröffnung eines kleinen Ladengeschäfts in der Krenstraße, für das sein Schwiegervater ihm das Startkapital gepumpt hatte. Ab da schneller Aufstieg zum Ausbeuter, nebenbei Ausbilder. Fernstudium, nebenbei Eröffnung der ersten Filiale.
Jeder seiner ehemaligen oder aktuellen Weggefährten versuchte noch einmal ein besonderes Licht auf dieses oder jenes Ereignis zu werfen, ein witziges Detail, eine besondere Beobachtung; und was seines Vaters Leben an Details, Feinheiten und Witz missen ließ, versuchten die Redner mit überschwänglichem Lob zu übertünchen. Markus wurde warm und schnell heiß, als er die Platitüden hörte und dachte, dass es Sprechern wie Zuhörern gleichermaßen peinlich sein müsste, wenn die Biographie einen derart grellen Anstrich bekam, als wäre sie eine unmögliche Verwandte, die man eigentlich verschweigen müsste, deren tatsächliches Gesicht unter den Schichten Bunt und Grell verborgen werden soll.
Aber irgendwann waren alle Redner fertig, der Letzte wurde begeistert von der niedrigen Tribüne geklatscht – nach dem langen Marsch durch die Wüsten in den Rednerköpfen hatte Markus Durst.
Er holte Gläser für sich und seine beiden Ladies, wie er neckisch und ein bisschen stolz sagte, stieß mit ihnen noch einmal an, dieses Mal sozusagen in vollem Effekt - untadelige Garderobe und Haltung und von den Lippen kam nichts als lockere Konversation. Ihr Gespräch streifte jedes Thema nur sanft wie mit Flaumflügeln, um sofort in eine andere Richtung gelenkt werden zu können, wenn jemand Feinnerviges von der Berührung gereizt würde, ohne dass es zu ernsten Konsequenzen wie Gesichtverziehen oder sogar einem bösen Gedanken gekommen wäre. Ich werde mich mal zu dem Alten aufmachen, dachte er gelöst. Wann, wenn nicht jetzt. Worauf warten.
Er sagte es wie nebenbei, und seine Frauen nahmen es auch so auf, beschwerten das leichthin Gesagte nicht mit seiner eigentlichen Bedeutung, so blieb alles Federflug. Flaumweich waren Markus Schritte über das Parkett. Er steuerte zum Tisch des Alten, lächelte die extrovertierte, junge Frau an, die über ein bescheidenes Witzchen des Alten hemmungslos lachte - ganz Dekolleté und wallende Haare und aufgerissener Mund.
Neugierig beschaute sie ihn, den Neuankömmling. "Mein Sohn", stellte der Alte wie selbstverständlich vor. Ein guter Anfang, fand Markus, sagte "Hi Paps" und wendete seine Aufmerksamkeit ihr zu, die neugierig fragte ("du hast einen Sohn? Wie konnte mir das entgehen – du hast ihn verheimlicht, du Schuft!" [sektseliges Kichern] "und", fragte sie, "was machst du, woher und wieso, wie ist dein.....").
Markus hielt sich an das Prozedere. Breitete die erdachte Biographie aus, die sein Vater ihm in dem Brief nahegelegt hatte. Studium an der Eliteschmiede, aussichtsreicher Job bei einer Multimilliardenunternehmung, Frau und Kinder in Amerika. Er setzte ein paar hübsche Anekdoten und Details, die er ausgedacht, aufgeschrieben und zwei-, dreimal gelesen hatte – Farbtupfer. Nicht zu viel, ermahnte er sich. Man muss sich in die Rolle hineinspielen, darf nicht mehr daran denken, dass man spielt, aber trotzdem hellwach sein, nicht übertreiben, sich nicht von dem Schwung des Anfangserfolgs davontragen lassen. Im Hinterkopf die eigene Identität mitdenken, den Kern bewahren. Auf der Hut sein vor den Lebensfragmenten, die manchmal wie verschiedene Kontinentalplatten aneinanderstoßen und Beben auslösen; und vor den Leerstellen dazwischen, die sich mit einem Mal öffnen können, und das Gespräch verschlingen wie eine Erdspalte den Wanderer.
Aber die besondere Rolle dieses Abends war ihm auf den Leib geschneidert, die anzunehmen fiel leicht. Sein zweites, ungelebtes Leben, der für ihn vorgesehene Werdegang. Jetzt, in diesem Umfeld, mit den passenden Schuhen, trug sie ihn. Was für ein Schub. Die Energie von zwei Leben! Alles schien möglich.
Der Alte strahlte mit dem Sohn um die Wette, klopfte ihm zwischendurch auf die Schulter. Ja, es sei ein Jammer, dass man so weit voneinander entfernt lebe, aber so sei der Lauf der Welt, Kinder gingen in die Ferne und machten ihr Glück auf der anderen Seite der Erde, gerade heutzutage.
Er fasste Markus vertraulich um die Taille, führte ihn im Saal herum, zeigte nebenher ein selbstgeschossenes und -zubereitetes Wildschwein, das auf einem Silbertablett auf dem Buffett lag, davor dessen gereinigter Schädel - Markus meinte in dieser Zurschaustellung einen Wesenszug des Alten zu erkennen, der ihn schon immer verstört hatte. Seine makabren Scherze, das Durchschimmernlassen der elementaren Macht zu töten. Markus hatte seit seiner frühen Jugend den Verdacht genährt, der Alte sei einer, der innerlich eine Grundsatzentscheidung zum Bösen getroffen hatte und seine Umwelt erfolgreich darüber hinwegtäuschte.
Der Alte zeigte ihn herum, wie Robert geweissagt hatte, wie ein Wundertier, prahlte mit dem erdachten Lebenslauf des Sohnes, der sich nicht gewundert hätte, wenn er sein Gebiss hätte zeigen sollen. Einige alte Geschäftsfreunde behaupteten, den jungen Mann zu erkennen, sich noch gut an ihn erinnern zu können, sie hätten schon immer gewusst, dass aus ihm etwas werde, dass Markus seinen Weg mache, überrasche niemanden. Im Gegenteil, blendeten sie auf.
Auf dieser Bühne waren das nur Spotlights, die den Auftritt des verlorenen Sohnes begleiteten. Falsches Licht passt zu falschem Spiel, dachte Markus und hielt sich unauffällig an der Tischkante fest, als ihn ein Dolch-Gefühl über die Ungeheuerlichkeit seines Tuns streifte und etwas entzwei schnitt. Ein Spalt wie ein Maul drohender Reflektion.
Markus fürchtete, das Reflektionsmaul werde das Possenspiel verschlingen und sein wahres Selbst in all seiner nackten Mickrigkeit wieder ausspeien. Der gefürchtete Gedanke. Du darfst nicht bedenken, was du tust, dachte Markus und übers Nichtdenken sollst du ebenfalls nicht denken, denn dann denkst du das Denken mit. Handele.
Man sah ihn schon fragend an, noch waren die Gesichter erwartungsvoll, der junge Mann braucht eben etwas länger für die Antwort. Sie lächelten weiterhin. Markus dachte Denken und Nichtdenken im Kreis, während er die Momente vorbeiziehen sah.
Aber da war noch ein anderer Markus, der ungelebte, der wirklich werden wollte, der warf ihm ein Seil von der anderen Seite des Abgrunds zu und Markus lief los, fand in der Bewegung das Gleichgewicht und balancierte hinüber, zu dem Mensch von morgen, der er sein würde, jetzt schon war - konversierend und elegant die Räume greifend.
Man staunte, zog ihn ins Gespräch, räumte ihm Redezeit ein. All die alten Geschäftsleute, mittelhohe Amts- und Regierungsmenschen, sie gaben ihm die Chance, sie zu beeindrucken, wollten an diesem Abend gerne von ihm, dem Sohn des Alten, beeindruckt werden. Und Markus nutzte jede einzelne.
Bei dem Genmaterial, sagte einer, und lachte schallend den Alten an, konnte ja nichts schiefgehen. Der rieb seinen großen festen Bauch und meinte, das seien eben alles Muskeln und Samenstränge, in seiner Familie würden Kraft und Erfolg vererbt.
Einmal sah Markus Lise und seine Mutter, die ins Gespräch vertieft waren. Aufgeregt tuschelten sie miteinander, offensichtlich ging es um ihn, denn als Lise seinen Blick bemerkte, verstummte sie, winkte dann aber und lachte, wie seine Mutter, die mit ihren Fingern das V zeigte. Alles wird gut, dachte Markus, hier will ich sein, so ein Mensch kann ich sein, all das andere, das kenne ich.
"Vater", sagte er in einer ruhigen Minute, "dass es sich so richtig anfühlt - nach all diesen Jahren! Ich bin so glücklich, dass du dich einer Versöhnung nicht in den Weg stellst."
Der Vater neigte den Kopf, linste über den Rand seiner Brille mit undeutbarem Augenausdruck. Griff in eine Hemdtasche und zog eine lange dünne Zigarre hervor, musterte sie mit Kennerblick und glühte sie mit einem schweren silbernen Feuerzeug an. Paffte zwei-, dreimal und mit Genuß Rauch und ein paar Gedanken aus ...
"Du bist eben ein zutiefst verlogener und schwacher Mensch. Warst du schon immer."
Markus wurde blass. "Was soll das?", zischte er. Die gefälschte Biographie - das war dein Plan!"
"Ich habe nie behauptet, deinen Idealistentugenden einen hohen Stellenwert einzuräumen. Im Gegensatz zu dir. Ich bin mir treu geblieben. Du dir nicht."
"Das ist so ekelhaft", sagte Markus ohne Betonung. "Ich werde auf den Tisch kotzen müssen."
"Nein", lächelte der Alte. "Das wirst du nicht tun. Du wirst meinen Scheck nehmen."
Der Alte nahm Scheckbuch und Füller aus seiner anderen Hemdtasche. Markus bekam den Eindruck einer Performance. Als wäre der ganze Abend einstudiert und stand schon fest, bevor er den Raum betreten hatte. Das späte Eintreffen, die langen Lobreden, das Herumführen, sein eigenes Gelingen in dieser fremden Haut, die Zigarre, das Scheckbuch, jeder einzelne Satz. Was wussten die Frauen?, schoss ihm in den Kopf.
"Hier", sagte der Alte und reichte ihm den Geldzettel. Markus nahm ihn, ohne auf die Zahl zu schauen, faltete es in der Mitte und steckte es in die Innentasche des Jacketts. Sah zu Lise und Mutter rüber. "Ich habe versprochen, mich einer Versöhnung nicht in den Weg zu stellen", bestätigte der Alte und reichte ihm die Hand, "betrachte dich bitte als versöhnt. Und sieh zu, dass du verschwindest. Ich werde dir auch dabei nicht im Weg stehen", er nickte Richtung Ausgang. "Und kehre nicht wieder. Für uns bist du gestorben, als du damals das Haus verlassen hast, nach dieser indiskutablen Geschichte, von der du nicht mehr glauben sollst, ich kennte sie nicht. Ich habe nur nie etwas dazu gesagt. Wozu mit einem Toten reden?" Sein Vater lächelte.
Markus sah zu Lise und Hedwig hinüber. "Geh nicht zu den Frauen. Erspare ihnen wenigstens diesen Kummer." Markus drehte sich wortlos um und ging durch die immer noch bewegte Feier nach draußen. Ein kühler Luftzug brachte ihn ein Stück weit zu sich: Markus nahm den Scheck und zerknüllte ihn in der Faust. Im Ohr den Klang seiner Schritte, die ihn von der Feier entfernten.