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Tiefseeangeln
Frühmorgens fuhr Ernest mit dem Jeep auf der Hauptstraße Richtung Stadt, um Dichtschlämme für den Keller zu kaufen. Er summte ein Lied, dessen Melodie ihm so vertraut war, dass er manchmal glaubte, Tonabfolgen daraus in seiner Alltagssprache wiederzuerkennen. Aber wenn er darüber nachdachte, erinnerte er sich weder an den Text noch wo er es zum letzten Mal gehört hatte. Altwinter, 5km verkündete ein löchriges Schild.
Taufeuchter Nebel zog in Schwaden durch die Küstenwälder. Wie eine glänzende Schlange wand sich die Straße dem Meer entgegen. Die Feuerwehr hatte die Sturmschäden nicht geräumt, sodass er nur im Zickzack vorankam. Ernest stellte auf Allradantrieb um, weil er an mehreren Stellen in den Graben ausweichen musste.
Die wahren Ausmaße des Unwetters erahnte er erst bei der Bootswerkstatt. Das Gebäude war auf der einen Seite um mindestens Metertiefe abgesackt. Ihm fiel Silvans Kombi auf, der mit versunkenen Reifen im Feld stand. Im letzten Moment lenkte er auf den verschlammten Weg ein. Der Jeep schlingerte mit dreckspritzenden Rädern hin und her. Vor dem Tor der Werkstatt brachte er ihn zum Stillstand.
Ernest stieg aus. Atmete die diesige, von Salz und Tang geschwängerte Luft. Spürte Wassertröpfchen in seinen Nasenhöhlen und im Hals. Der Sturm letzte Nacht hatte Äste gegen das Dach der Werkstatt gefegt und Schindeln des Nachbargebäudes schwammen im Morast. Das gedämpfte Raunen der Wellen verstärkte die Monotonie der Nebelbänke. Das Wellblechtor war aufgeschoben. Ein Korallenmuster aus Rost zog sich über die Front, weil Silvan an bestimmten Stellen Grundierung und Decklack ausgespart hatte. Witterungskunst nannte er das.
Der Matsch unter Ernests Winterstiefeln war glitschig. Breitbeinig stand Silvan am Bug eines weißroten Rennboots und bearbeitete das Fiberglas mit einem Schwingschleifer. Wasser und Schlick waren in die Werkstatt geflossen und hatten den Bootstrailer samt seiner Last quer gestellt. Die umgekippten Regale wirkten wie vom Meer ausgespuckt. Irgendwo hinter den leeren Stapelwägen dröhnte und saugte eine Schlammpumpe, vermischte sich mit dem Surren der Schleife.
Ernest trat neben Silvan und klopfte mehrmals gegen den Bug. Als Silvan ihn bemerkte, rutschte er beinahe mit dem Schleifblatt ab. Sein Atem ging hektisch in Wolken. Einen Augenblick dachte Ernest, sein Freund würde ihm gleich die erhobene Schleife ins Gesicht drücken.
Silvan stellte die Maschine aus und zog die Sicherheitsbrille von der Nase. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn und die Wangen waren gerötet. „Scheiße, hast mich vielleicht erschreckt!“
Ernest versuchte ein Grinsen. „Schon wieder am ranklotzen?“
Silvan winkte ab, legte die Schleifmaschine in ein Gestell neben dem Boot. Auf der Regalfläche lagen mehrere Akkus, ein Eimer Abbeizmittel, Handschuhe und Atemschutzmasken mit zerkratzten Gläsern. „Bist ganz schön früh unterwegs.“
„Du aber auch“, sagte Ernest. „Wichtiger Kunde?“
Silvan strich mit der Hand über die Schleifstelle. Ein Abbild des Quetzalcoatl zog sich vom Bug bis zum Heck des zweisitzigen Rennboots. „Nein, nein. Ist meins. Dachte, ich kriegs noch flott, bevor ... na, du weißt schon.“
„Ganz der Alte!“ Ernest lachte aufrichtig. „War schon damals so, bei der Flut in der Schule.“
„Was?“
„Als du noch mal reingegangen bist, um das Modellboot zu holen? Ich seh heute noch vor mir, wie der Feuerwehrkommandant durchdreht.“
„Ach so, ja.“ Nun lächelte Silvan müde. Unter seinen wässrigen Augen hingen dicke Tränensäcke. „Was verschafft mir die Ehre?“
„Hab deinen Kombi draußen gesehen.“
„Wie schwer hat’s euch getroffen?“
„Ist schlimm diesmal, oder?“, fragte Ernest.
„Ich bin es mir ja gewohnt, dass die ganze Scheiße hier reinfließt ... Aber das hier? Das ist eine andere Liga.“
„Bei uns steht’s Wasser im Keller trotz Pumpe knöcheltief. Und der Geräteschuppen, der ist hinüber. Paar Ziegel hat’s abgedeckt, aber tropft ja eh ständig in den Dachboden. Muss nach Altwinter in den Baumarkt.“
„Sag mal, wie willst du das denn anstellen?“
„Wie, was anstellen?“
„Na, in die Stadt.“
„Bin doch mit dem Allrad hier.“ Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter.
„Da ist alles Land unter. Führt kein Weg mehr rein seit gestern Abend.“
„Ach was ...“
„Hab‘s im Radio gehört.“ Im Regal stand ein altes Gerät, dessen Lautsprecher eingedellt waren. Ein verblichener roter Kleber mit der Aufschrift -50% befand sich daran. „Irgendein Sender vom Inland.“
„Die wissen mehr als wir, mh?“
Silvan wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Barbara hatte gestern echt Bange, dass es uns das ganze Haus zusammenfaltet“, fuhr Ernest fort. „Ist aber soweit standhaft geblieben. Also beide, Barbara und das Haus.“
„Ist absurd, oder Ernest?“, fragte Silvan. „Wenn man sich das mal überlegt.“
Ernest schüttelte den Kopf.
„Die ganzen Algen, Seepocken, das Schwemmholz ... Der Mangrovenschlick ... Jetzt hat’s scheinbar ganz Altwinter erwischt. All dieser Scheiß staut sich hier an.“ Er legte eine Hand flach an die Schläfe. „Wie Kopfschmerzen, die nicht mehr weggehen.“
„Mmh.“
„Eben. Siehst du’s denn nicht? Auf uns alle wartet doch ein nasses Grab! Und was tun wir? Machen einfach weiter wie bisher!“
Ernest warf ihm einen finsteren Blick zu, als würde er erst jetzt darüber nachdenken. Dann nickte er zögerlich. „Hast ja recht.“
„Entschuldige. Manchmal wächst einem die Sache über den Kopf.“ Silvan tastete über die Brusttasche seines Overalls. Dann hielt er inne und klopfte Ernest auf die Schulter. „Jetzt mach nicht so ein Gesicht.“
„Du aber auch.“
Silvan zog einen Mundwinkel nach oben. „Lass uns rausgehen und eine rauchen.“
Sie standen vor dem meeresseitigen Tor und rauchten. Die Ausläufer der Wellen überspülten die Spitzen ihrer Stiefel. Das Sonnenlicht war trüb, wie durch einen schmutzigen Sedimentfilter betrachtet. Ein verwaschener Fleck im Nebel. Kälte kroch übers Wasser und Ernests Beine hinauf.
„Das Boot da drin“, sagte er und klopfte mit dem Zeigefinger gegen die Zigarette. „Was hast du damit vor? Wozu die Mühe?“
„Ablenkung. Ich halt‘s kaum mehr aus zu Hause.“
Ernest schnippte den Stummel in die Fluten. Das Wasser war fast schwarz. Schwer rollte es heran, unermüdlich und stetig. Sandkörner glitzerten darin. Er dachte an letzte Nacht. „Wie kommst du zurecht?“
„Geht schon.“
„Sonst komm hoch zu uns. Ist echt kein Problem.“
„Ich weiß das zu schätzen, ehrlich“, sagte Silvan. „Aber ich geh nirgendswohin mehr. Hab mir an der letzten trockenen Stelle in der Werkstatt eine Matratze hingelegt.“
„Du schläfst hier?“
Silvan zuckte mit den Schultern und zog an seiner Zigarette.
„Wieso?“, fragte Ernest vorsichtig. Doch Silvan rauchte schweigend weiter, als hätte er ihn nicht gehört. Mehrmals wollte Ernest nachsetzen, unterließ es aber. Musterte seinen Freund. Die schütteren Haarsträhnen unter der Mütze, die Bartschatten auf Wangen und Kinn. Wassertröpfchen hingen darin. Sein Hals hatte dunkle Flecken.
„Wie geht‘s der Barbara und dem Kind?“, fragte Silvan und riss ihn aus seinen Grübeleien. „Kommen die klar?“
„Mmh, ich weiß nicht recht.“
„Wie kannst du das nicht wissen?“
„Komme selten zur Ruhe in letzter Zeit. Barbara meint, ich sei wütend und frustriert, fresse das alles in mich rein. Ich müsse zu mir selbst zurückfinden.“ Er machte eine Pause. „Damit wir wieder eine Familie sein können. Tomi zuliebe.“
„Verstehe.“
„Dabei suche ich doch nach einem Weg.“
„Ja.“
„Sie kann nicht noch ein Kind verlieren.“
„Du auch nicht.“
Ernest fuhr sich durchs kurze Haar, strich mit den Fingern über die kahle Stelle am Hinterkopf. „Ich träume seltsames Zeug. Von einem Boot, gestrandet am Riff. Es ist, als würde ich ertrinken, dann schlage ich wild um mich. Manchmal wache ich am Boden auf und hab keine Ahnung, wo ich bin.“
„Das ist der Stress. Trinkst du wieder?“
„Nein, ich hab doch längst aufgehört.“
Silvan nickte, zündete sich die nächste Zigarette an und lehnte gegen das Tor. Sein Blick war starr in das Grau gerichtet. Auf dem Gesicht ein Ausdruck, als überlege er, was es noch zu sagen gab. „Will sie nicht weg?“
„Wir haben darüber geredet. Ist irgendwie Teil dieses ganzen Widerspruchs. Einerseits hat sie eine Heidenangst hierzubleiben, andererseits will sie ums Verrecken nicht gehen.“
„Wieso?“
„Es ist wegen ihm.“
„Wegen Tomi?“
„Sie will ihn trauern lassen. Er spüre hier eine Verbindung zu seinem Bruder. Faselt ständig was von einer spirituellen Brücke und so einem Quatsch.“ Ernest biss sich auf die Unterlippe. „Ihn in dieser Phase aus seinem Umfeld herauszureißen, das sei nicht gut für die geistige Entwicklung.“
Silvan lachte trocken und mied seinen Blick.
„Jedenfalls bleiben wir vorerst.“
„Das solltest du ihr ausreden. Für mich ist das kein Problem. Ich kann hierbleiben. Aber du hast Verantwortung.“
„Kennst die Barbara doch. Die ist stur wie ein Bock.“
Ernest blickte auf die Kiefer, die den Bootskran um Haaresbreite verfehlt und ein schartiges Loch in die Blechwand gerissen hatte. Geborstene Äste ihrer Krone ragten in die Werkstatt. Im Wasser dümpelte eine zerschmetterte Holzkiste. Langsam holte sich das Meer die Werkzeuge. Ernest riss sich von dem Anblick los. Ließ seinen Blick stattdessen über das Trockendock schweifen. Nieselregen fiel wie Nadeln, begleitet von einem Geräusch, als würde Wasser verdampfen. Das Dock war leer.
„Dein Katamaran ist fort“, sagte er.
Silvan machte eine wegwerfende Handbewegung. „Glaubst du mir nie.“ Er zündete sich den nächsten Glimmstängel an. „Gestern Nachmittag ist einer vorbeigekommen. So ein Schicki-Micki war das. Mit Anzug und Krawatte und allem. Hatte eine Tasche dabei, wie ein Anwalt oder so. Sah ganz durcheinander aus.“
„Mmh.“
„Dreckig war der. Als wäre er durch den Schlamm gerobbt. Hat gezittert wie Espenlaub. Konnte den kaum verstehen, aber eines war klar. Der wollte den Katamaran haben, um jeden Preis. Bot mir fünfundsiebzigtausend.“
„Bringt doch jetzt auch nichts mehr.“
„Hab ich mir auch gedacht. Hing ja sehr an dem Boot. Aber weißt du, fiel mir im Endeffekt unendlich leicht, es wegzugeben. Als hätte ich es all die Jahre gehegt und gepflegt, damit es am Schluss einen einzigen Zweck erfüllt.“
„Welchen Zweck?“
„Zusammen mit dem Typen hab ich sie seeklar gemacht. Dann ist er mit voller Drehzahl dem aufziehenden Sturm entgegengefahren.“
Ernest ließ seinen Blick schweifen. Aber da war nichts als die Wogen des Nebels und das Rauschen der Wellen, einschläfernd und träge. Der schattenhafte Umriss eines Pelikans stürzte ins Wasser und tauchte nicht wieder auf. „Was wollte der da draußen?“
„Keine Ahnung, hab nicht gefragt.“
„Der hat alles kommen sehen.“
„Weißt du, heute denke ich, vielleicht habe ich es nur geträumt.“
So standen sie da und wussten beide nicht, auf was sie warteten. Ein langes Schweigen zwischen ihnen. Die Pumpe gurgelte und plätscherte. Es roch nach Diesel und Moder. Das Tageslicht ein Schimmer in ihren Augen und auf dem schmutzigen Wasser. Die leere Zigarettenpackung warf Ernest in die Fluten. Mittlerweile ließ der Nebel keine zwanzig Meter Sicht mehr zu.
Irgendwann zog die Ebbe das Meer zurück, die Pumpe stotterte und verstummte, und die darauffolgende Stille war allumfassend. Nur in Ernests Ohren blieb ein Schwappen, als wäre sein Kopf voller Wasser. Wenn er sich konzentrierte, hörte er noch etwas anderes. Das Blubbern von Schlammlöchern und ein gedämpftes Platschen und Schlagen in der Ferne.
„Hörst du das?“, fragte er.
Silvans Blick war verklärt, so als wäre er gerade eben erwacht. „Was meinst du?“ Er zuckte mit den Schultern. „Da ist nichts.“
„Bin gleich zurück“, erwiderte Ernest und stapfte durch den Schlamm in den Nebel. Je weiter er ging, schwerfällig und mühsam, weil er mit jedem Schritt ein oder zwei Kilo Matsch mit anhob, desto träger wurde sein Atmen. Als würde die Luft dichter, voller, und feine Tropfen liefen seinen Hals hinunter und blieben an den Bläschen in der Lunge hängen. Ernest hustete und spuckte einen Schwall eiskaltes Wasser aus. Bevor er die Werkstatt und seinen Freund nicht mehr sehen konnte, drehte er sich noch einmal um. „Hast du eine Taschenlampe?“, rief er.
„Ja!“
„Hol die mal!“
Er wartete, stapfte auf und ab, um die Taubheit aus den Zehen zu vertreiben. Die Zeit verstrich in Bahnen, die er nicht erfassen konnte. Vielleicht wartete er nur eine Minute oder zwanzig. Der Nebel dämpfte seine Wahrnehmung, bis er sich fühlte, als stehe er am Grund eines Lochs und das kleine Rund über ihm wurde immer kleiner und enger.
Er dachte an Tomi, der so gerne mit Gabriel durch das Dorf gezogen war. Die selbstgebastelten Laternen wippten vor ihren Gesichtern. Wie sie klingelten, um nach Schokolade und Bonbons zu fragen, was sie nun nie wieder würden tun können. In seiner Erinnerung machte ihnen niemand auf.
Er dachte an Barbara, wie er zurück zu ihr unter die Decke geschlüpft war und sich an sie geschmiegt hatte, sie über den Arm streichelte. Bis ihm bewusst wurde, dass sich ihre Haut kalt und glitschig und schwammig anfühlte und er sich entsetzt abwendete, einen fischig-säuerlichen Gestank in der Nase.
Ernest kniff die Augen zusammen. Silvans Maglite leuchtete zittrig zu ihm herüber. „Wo willst du denn eigentlich hin?!“
„Schauen, was die Flut zurückgelassen hat! Ich geh nur soweit, dass ich das Licht noch sehen kann.“
Silvan antwortete nicht. Der Kegel der Taschenlampe zuckte ungeduldig hin und her, wie eine Aufforderung: Na, dann mach halt. So schnell es der Schlamm zuließ, stapfte Ernest weiter, wandte sich von Zeit zu Zeit um, damit er das Licht nicht aus den Augen verlor. Doch bald hatte er den Punkt überschritten, an dem der Strahl der Maglite zu einem Teil des kaum differenzierbaren Graus geworden war.
Mit schmatzenden Schritten drehte er sich einmal um sich selbst und wusste nicht, in welcher Richtung die Werkstatt lag. Was hätte beunruhigend sein sollen, erschien plötzlich seltsam vertraut und eine Gleichgültigkeit erfüllte ihn, die beinahe tröstlich war. Er fühlte sich losgelöst von seinem Körper, ganz leicht, als beobachte er sich selbst, schaue mit fremden Augen auf das Chaos in seinem Kopf.
Das Platschen und Schlagen steigerte sich, und schließlich sah er, wovon es herrührte. In tiefen Schlammlöchern zappelten silbriggraue Fische, die verzweifelt versuchten, sich aus ihren Gefängnissen schwindenden Sauerstoffs zu befreien. An einigen Löchern blieb er stehen und schaute zu, wie der zähe Schlick aus ihren Kiemen floss, rhythmisch, beständig, und er fragte sich, wann ihre Herzen und Arterien davon verstopften. Und wann Barbara und Tomi dasselbe drohte, was bereits Gabriel zugestoßen war.
Der Schlamm steckte voller Muscheln und kleine Krebse wuselten vor Ernests Stiefeln davon, vergruben sich im blubbernden Untergrund. Ernest fiel es schwerer, seine Füße zu heben. Eine Müdigkeit überfiel ihn, als würde er schlafwandeln. Eine konfuse Luzidität, der er ausgeliefert war.
Vor sich erkannte er das Licht der Maglite. Ihr Strahl blieb beständig, als würde er zwar auf die Lampe zugehen, Silvan sich aber gleichzeitig von ihm entfernen. Aus dem Nebel schallte ein schwacher Ruf. Ernest überlegte, aber er konnte die Stimme niemandem zuordnen. Wahrscheinlich war es Silvan, der ihn zurücklotsen wollte. Die dicken Nebelwände verfremdeten jeden Laut. Ernest schleppte sich weiter, bis alle Kraft in seinen Beinen schwand.
Der Lichtkegel der Maglite wirkte jetzt vervielfältigt, als bestünde er aus Dutzenden Quellen. In Ernests Kopf drehten die Lichter auf ein grelles Zentrum zu. Hinter seiner Stirn hämmerte es und die Sicht verschwamm. Als er die Augen wieder öffnete, erhob sich vor ihm das schwarze Riff.
Wellengang brandete dagegen und plätscherte durch Lücken im Gestein, löste versteinerte Polypenskelette, spülte sie mit sich. Das Riff atmete öligen Schlick durch poröse Korallenformationen. Riesenschwämme glänzten feucht und Röhrenwürmer zogen sich zusammen, streckten ihre Rüssel in den Nebel. Schwarze Raucher pusteten Rußpartikel wie die Schornsteine einer Fabrik.
Auf dem Rücken des Riffs hatte sich ein Boot verkantet. Er erkannte es sofort an den Silhouetten der Möwen auf dem hölzernen Bug. Eine verblasste Erinnerung ans Barracuda-Angeln und an die einsamen und alkoholisierten Nächte in der Koje durchzog seinen überforderten Geist. Die Suche nach seinem verlorenen Sohn und die Schuldgefühle, die er am Grund des Ozeans versenken wollte.
Plötzlich realisierte er, wovon die vielen Lichter herrührten. Anglerfische hielten ihre biolumineszierenden Laternen aus Wasserlöchern. Gespenstische Mäuler besetzt mit viel zu langen Fangzähnen öffneten und schlossen sich in den Schatten des Riffs. Stumpfe Teleskop-Augen glotzten ihn an.
„Hallo?“
Das Rufen kam von oben, vom Boot. Ernest hielt die Hand an die Stirn und schaute hoch, wo er eine kleine Gestalt wahrnahm, die über die Reling hing. In der einen Hand hielt sie einen eisblauen Eimer, aus dem Wasser schwappte. „Papa, hier oben!“, rief Tomi, seine Stimme unendlich weit entfernt. „Du musst mir helfen! Das Wasser läuft überall ins Boot!“
Ernest wollte nach vorn stürzen, über das scharfkantige Riff klettern, bis er sich Hände und Knie blutig schürfte, und seinem Sohn zurufen, er solle weitermachen, weitermachen und durchhalten, bis er ihn erreichte und sie gemeinsam einen Weg hinunter fanden. Stattdessen blieb er stehen, schaute zu, wie Tomi den Eimer hektischer entleerte, seine Kraft kaum mehr ausreichte, das Plastik über die Reling zu heben. Wie das Wasser gegen den Rumpf klatschte.
Ernest begann das Schlaflied zu summen, dessen Melodie ihm bereits auf der Fahrt zur Werkstatt auf den Lippen gelegen hatte, und verwundert überlegte er, ob er damit den Jungen oder sich selbst beruhigen wollte. Schließlich ließ Tomi den Eimer fallen und er klapperte zwischen eine Spalte im Riff. „Papa! Ich kann nicht mehr! Es ist alles voller Wasser!“
–
„Papa, Papa! Hilf mir! Ich glaube, Gabri atmet nicht!“
–
„Bitte, Papa!“
–
„Hey! Hallo? Papa!“
–
„Hey!“
„Hey, was ist los?“
Jemand rüttelte an seiner Schulter und zog am Jackenärmel.
„Ernest, verdammt, alles klar?“
Er wandte seinen Kopf dem Sprecher zu. Silvan stand neben ihm, eine Hand auf seiner Schulter, in der anderen hielt er die Maglite, leuchtete in den Nebel hinein. Mit zusammengebissenen Zähnen sagte Ernest: „Geht schon wieder.“
„Wirklich? Du siehst bleich aus.“
„Nein, nein, alles gut.“
„Wieso sollte ich die Lampe holen?“
„Ich ... keine Ahnung. Hast du eine Lampe geholt?“
„Du hast mich angebrüllt wie ein Wilder. Scheiße, Ernest, was ist los?“ Silvan knipste die Lampe aus und sah ihn ernst an. Seine Augen waren blutunterlaufen.
„Ich bin übermüdet“, sagte Ernest und strich über den borstigen Kinnbart. „War wohl sowas wie Sekundenschlaf.“
Silvan nahm die Hand von seiner Schulter und steckte die Lampe in eine der Overalltaschen. Eine Weile blickten sie auf die brackigen Pfützen und ihre Gesichter spiegelten sich in Trübnis. Der Nebel floss, verdichtete sich. Ein lebender Organismus, dachte Ernest, der sich wie ein schweres Tuch über mich legt und die Gedanken zu unnachvollziehbaren Strömen aufquellen lässt. Ich darf nicht darauf hereinfallen, muss selbst denken. Nur dann habe ich Kontrolle.
„Es ist okay, Ernest. Darüber nachzudenken, meine ich.“
„Was?“
„Was passiert ist. Aber du kannst es nicht mehr ändern.“
„Ich weiß. Es tut mir leid. Ich war abgelenkt.“
„Ich hatte Angst, du kippst mir aus den Stiefeln.“
Sie schwiegen. Dann sagte Silvan: „Danke, dass du vorbeigekommen bist. Ist ein seltsamer Tag heute.“
Ernest nickte niedergeschlagen. „Ich geh dann mal zurück, wenn ich schon nicht nach Altwinter reinkomme.“
„Ja“, sagte Silvan und knetete seine Nase. Eine klare Rotzträne hing in seinen Schnurrbart. „Musst mir nicht Bescheid geben, solltet ihr weggehen.“
„Doch, das werde ich“, antwortete Ernest, aber es klang nicht überzeugt. Und als Silvan lächelte, fügte er an: „Vor zwei Stunden wollte ich noch den Keller abdichten. Also nimm mich besser nicht beim Wort.“
Silvan streckte ihm die Hand entgegen. In dieser Geste steckte eine Endgültigkeit, die Ernest traf, als hätte ihn sein Freund in die Magengrube getreten. Er nahm die Hand und einen Moment standen die beiden Männer im einsetzenden Regen, bald versunken zwischen Flüstern und Murmeln, die Augen fixiert in denen des andern, und ohne weitere Worte war alles gesagt.
Er hatte Mühe, den Jeep aus dem Schlamm zurück auf die Straße zu manövrieren. Unermüdlich arbeiteten die Scheibenwischer gegen die Regenmassen. Auf halbem Weg kam er an einer Stelle vorbei, an der die Leitplanken geborsten waren und der Leib einer toten Kuh versperrte die rechte Fahrbahn. Ihr massiger Körper wirkte aufgequollen und zerflossen, wie eine riesige Qualle, als wären ihre Eingeweide bis zum Platzen angeschwollen. Er erinnerte sich nicht, ob er schon morgens an dem Kadaver vorbeigefahren war.
Der Regen fiel dünner und die Sicht wurde besser, sobald er die Anhöhe erreichte. Ernest blickte in den Rückspiegel, verfolgte die gewundene Straße, bis sie sich im dichten Küstenwald verlor. Über dem Meer brachen vereinzelte Sonnenstrahlen die Wolken auf, standen wie Säulen aus Licht zwischen Wasser und Himmel. In einer Lücke im Nebel glaubte er zwei weiße Dreiecke zu sehen, die sich aufgrund der Reflexionen deutlich vom nassgrauen Hintergrund abhoben. Die Segel von Silvans Katamaran! Als er wieder hinschaute, nachdem er seine verkrampften Hände ausgeschüttelt und sich eine Zigarette angezündet hatte, waren sie nicht mehr auszumachen, die Lücke im Nebel verschlossen.
Er parkte in der Garage, die er beim Aufbruch in der Früh offengelassen hatte. In den Ecken grassierten schleimiggrüne Algennetze, die den fauligen Geruch eines Moors absonderten. Hinter dem Haus gurgelte die Pumpe im Leerlauf, weil der Keller längst abgesogen war. Ihr Schlauch zuckelte und wand sich wie eine sterbende Schlange. Ernest schaltete den Motor aus und ging ins Haus.
„Barbara, ich hab dir doch gesagt, du sollst die Pumpe ausschalten!“, rief er durch den schattigen Flur. In ein Glas auf der Garderobe tropfte Wasser. „Hallo? Ich bin wieder da! Kein Durchkommen mehr nach Altwinter, da ist alles ...“ Tomi saß am Küchentisch und löffelte Cornflakes aus einer Schüssel. „Hey, Junior. Wo ist deine Mutter?“
Tomi hörte auf zu essen, wandte seinen Blick nicht von der Schüssel. Mit bemüht lockerem Griff fasste Ernest ihn an der Schulter. „Tomi! Ich bin wieder da. Tomi, sieh mich an. Was ist los?“ Sein Sohn wandte sich ab, den dunklen Wasserflecken auf der Tapete zu. Ernest drückte mit den Fingern in sein Schulterblatt. „Sag mir, was passiert ist.“
„Mama schläft schon den ganzen Tag“, sagte Tomi stockend. „Wieso wacht sie nicht auf? Wo ist mein Teddy? Papa, ich kann ihn nirgends finden.“ Es klang so gequält, dass Ernest rasch seine Hand wegzog, verwundert und schockiert darüber, dass er dem Jungen Schmerzen zufügen konnte, und er fragte sich, was schlimmer für ihn sein mochte: Der physische Druck oder der psychische.
„Sie schläft nur“, antwortete er und versuchte, ihm durchs Haar zu fahren, aber Tomi duckte den Kopf weg. „Mach dir keine Sorgen. Ich bin ja da.“
Ein grauer Krebs krabbelte aus den Cornflakes. Fiel über den Schüsselrand und verschwand mit erhobenen Scheren unter das Tischtuch. Seepocken klebten am Kühlschrank. Ernest schwankte und hielt sich an der Lehne von Tomis Stuhl fest.
„Ich geh nach oben und seh nach ihr“, sagte er. „Muss auch was gegen meine Kopfschmerzen tun. Wie geht’s dir?“
Tomi antwortete nicht, starrte weiter die Wand an. Sieh mal, wie stark der Junge ist, sagte sich Ernest, er weint nicht mal. Er ging zur Treppe, die in den ersten Stock führte. Oben war die Tür zum Schlafzimmer angelehnt und das schwache Licht der Nachtlampe drang durch den Spalt. Die Stufen waren rutschig und Ernest musste sich am Geländer festhalten.
„Vielleicht leg ich mich auch etwas hin, Tomi. Bin hundemüde.“
Nach dem Erklimmen der Stufen fühlte er sich erschlagen, obwohl die Treppe nur kurz war. Auf dem Absatz rief er über die Schulter: „Du weißt, nur drinnen spielen, ja? Deinen Teddy suchen wir danach, versprochen.“ Dann stieß er die Tür zum Schlafzimmer auf. Die dunklen Vorhänge waren zugezogen und wogten leicht im Wind, der durch das gekippte Fenster strich. Auf dem Bett lag Barbara, eingewickelt in die Decke, ihr braunes Haar verteilt auf dem Kissen, eine Hand daneben.
„Barbara“, flüsterte er. „Ich bin wieder da. Liebling, schläfst du?“
Sie murmelte etwas Unverständliches, aber das reichte ihm als Bestätigung. Natürlich forderten die Umstände nach dem Sturm auch bei ihr ihren Tribut. Das war ganz normal und Erholung jetzt wichtig. Einen klaren Kopf. Tomi machte sich viel zu viele Gedanken für ein Kind seines Alters.
Ernest ging ins Badezimmer, öffnete das Arzneischränkchen und schluckte zwei Aspirin. An der Innenseite des Spiegels perlte Wasser ab und er konnte sein Gesicht nur als verwaschenen Schemen erkennen. Zurück im Schlafzimmer legte er sich zu Barbara ins Bett. Streichelte über ihre kalte Hand.
Da bemerkte er das Kettchen, dass sie eng um die Finger gewickelt hatte. Es war Gabriels Nickelkettchen, die mit seinem Namen. Behutsam löste er es von ihrer Hand und hielt es sich im Licht der Nachtlampe vors Gesicht. Barbara protestierte stöhnend, zog die Decke enger um sich. Die Buchstaben G-A-B-R-I-E-L pendelten hin und her und Ernests Arme wurden schwer. Er steckte das Kettchen in die Brusttasche, faltete die Hände darüber. Dämmerte in einen Zustand zwischen Wachsein und Schlaf, die Grenzen so fließend wie die Vorhänge in der Zugluft oder der Schlick vom schwarzen Riff. Während er an die Holzbalken der Decke starrte, überkam ihn das Gefühl, er würde in der Matratze versinken.
Die Maserung der Holzbalken hatte sich verändert. Ernest blickte an ein tiefhängendes Hanfnetz, in dem Konserven hingen. Sein Rücken schmerzte. Unter ihm erfühlte er eine dünne Matratze, die auf einer Pritsche lag. Sachte schwankte der Raum hin und her und Ernest hörte Wellen gegen Holz schwappen, nah bei seinem Ohr. Mit einem Ruck erhob er sich, blinzelte träge, sein Kopf war schwer. Er suchte Halt an der Wand. Dies war die Koje seines Boots. Mit steifen Gliedern stieg er die drei Stufen an Deck. Die reine, eisige Luft raubte ihm den Atem und er hielt sich an der Reling fest, verschnaufte für einen Moment.
Klare Sicht für geschätzt eine Seemeile im Osten und Westen. In dieser Entfernung erhoben sich Nebelwände, die so dicht und unbeweglich waren, dass sie festgefroren wirkten. Die Meeresoberfläche lag spiegelglatt. Der Außenborder schwieg und das Boot trieb still dahin. Ernest starrte stumpf aufs graue Meer.
Ein heller Ruf riss ihn aus seiner Lethargie. Sich an der Reling entlangtastend, ging er Richtung Bug. Vor dem Boot schwamm das Bett. Seine Frau lag darauf und schlief. Das Laken und die Decke waren pitschnass, überzogen mit Algen. Tomi rüttelte an Barbaras Schulter. „Mama! Wach auf! Wach auf!“
„Tomi, Junge!“, rief Ernest außer Atem. „Warte! Ich hole ein Seil!“
Kopflos stolperte er an Deck umher. Anstelle eines Seils fand er einen weißroten Rettungsring. Mit klammen Fingern griff er danach und mühte sich zurück zur Bootsfront. Stolperte beinahe über den eisblauen Eimer und kickte gegen ihn. Klackernd fiel er über Deck und platschte ins Wasser. Den Rettungsring warf er hinterher. „Tomi! Halt dich am Ring fest! Du musst dich festhalten und zu mir paddeln, ich zieh dich hoch! Tomi!“
Sein Sohn reagierte nicht. Stattdessen rüttelte er weiter an Barbaras Schulter. Sie erwachte und schälte sich aus der algenverschleimten Bettdecke. Ernest schrie unverständlich. Ein Brennen verbreitete sich in seinen Lungen. Barbara manövrierte sich in eine sitzende Position und flüsterte Tomi etwas ins Ohr. Dann zog sie unter der Decke zwei Ruder hervor und führte sie ins Wasser. Mit erstaunlich kräftigen Schlägen begannen sich Ernests Frau und sein Sohn von ihm zu entfernen.
„Wartet ...“ Über seine Lippen kam nur ein heiseres Flüstern. Hilflos blickte er dem davontreibenden Bett und den beiden Passagieren nach. Bald waren sie nur noch ein schwarzer Punkt am Horizont. Ernest wandte sich ab, vergrub das Gesicht zwischen seinen Händen und stand zitternd da, unfähig irgendetwas zu unternehmen. Er wollte zum Außenborder, ihn anwerfen und den beiden hinterherfahren, doch es blieb beim Gedanken.
Ein intensives Licht blendete ihn durch seine Finger und er nahm die Hände weg. Weit vor dem Boot wippte eine riesige Laterne auf und ab, berührte beinahe die Meeresoberfläche. Sie hing an einem Stab, der sich in der Weite des wolkenlosen Himmels verlor. In ihrem Licht erkannte Ernest, dass die festgefrorenen Nebelwände ihn getäuscht hatten, stattdessen waren es solide Mauern. Gefertigt aus einem Material, das ihn an Stahl-Emaille erinnerte. Sein Boot und er befanden sich nicht auf See, sondern in der Mitte einer immensen Badewanne, deren Kopf- und Fußende kaum auszumachen waren.
Die Laterne glitt über das Wasser, kam auf ihn zu. Nun sah er, dass der Stab von einer Hand gehalten wurde, deren einzelne Fingerglieder mindestens so lang waren wie sein Boot. Er stellte sich vor, die Hand würde sich zur Faust ballen und auf ihn hinuntersausen. Im diffusen Raum oberhalb der kilometerhohen Badewannenränder zeichnete sich ein gigantischer Schatten ab. Zuerst dachte Ernest, eine Faust würde tatsächlich ihn und sein Boot zerschmettern, aber dann wurde immer deutlicher, dass es sich um das Antlitz des Riesen handelte, der die Laterne hielt. Ernest umklammerte die Reling und konnte nichts weiter tun, als die Fratze anzustarren, die zunehmend an grauenvollen Details gewann, je näher der Kopf dem Badewannenrand kam.
Rechts und links der vier Nasenlöcher, aus denen sich schmutzigbraune Wasserfälle ergossen, thronten zwei kreisrunde Scheiben, die das Licht in Prismen aufbrachen. Dahinter dunkle Riffkrater und in ihnen tausende Stäbchen, die sich wie Anemonen in Strömen milchiger Flüssigkeit bewegten, ihre Sehzellen auf ihn ausrichteten. Die ins Mikroskopische vergrößerten Augen eines Tiefseefischs. Ernests Sohn Gabriel war zurückgekehrt aus der Finsternis der Abyssalzone, verformt und zerquetscht von einem Druck von mehr als sechshundert Bar.
Dazu öffnete und schloss er seinen schiefen Mund mit Überbiss, zeigte meterlange Säbelzähne, zwischen denen sich Seegrasgeflechte verfangen hatten. Tief im finsteren Rachen leuchteten die Kiemenschlitze und warfen einen Schimmer auf den Fischfriedhof in seiner Kehle. Einige der Tiere zappelten und sprangen auf, versuchten sich zurückzukämpfen, weg vom gurgelnden Abgrund seines Schlunds.
Ernest stürzte zum Heck. Am Außenborder drückte er den Choke-Knopf, stellte den Gashebel auf Start. Dann begann er wie wild am Seilzug zu reißen, aber der Motor sprang nicht an. Die Laterne schwankte haarscharf am Heck vorbei und Funken wirbelten durch die Luft. Ernest versuchte es erneut. Diesmal stotterte der Motor und nach einem weiteren hektischen Zug am Seil knatterte und schoss er, lief dann ruhig. Sofort stellte Ernest den Gashebel auf volle Kraft.
Das Boot bewegte sich keinen Meter. Getrieben von Panik schaute Ernest über die Reling, fiel beinahe vornüber, hielt sich mit einer Hand fest. Im trüben Wasser erkannte er den Schemen des schwarzen Riffs. Der Kiel hatte sich hoffnungslos zwischen den Zacken des Riffrückens verkantet. Das Holz knackte gefährlich und Ernest erwartete jeden Moment, dass der Rumpf splitterte und barst.
Die Gabrielkreatur streckte ihren Arm aus, über das Boot hinweg. Kurz darauf hörte Ernest ein Rauschen, noch viel mächtiger als das des Sturzregens von letzter Nacht. Sein einstiger Sohn hatte den Wasserhahn geöffnet. Eine Flutwelle wanderte über den Horizont, baute sich weiter und weiter auf. Der Außenborder kämpfte um Ernests Leben, während er nur starrte. Doch das Riff gab nicht nach. Allein die Flutwelle, mittlerweile schätzte Ernest sie auf gute zwanzig Meter Höhe, würde das Boot befreien können.
Doch dann erkannte er, dass die Welle die kleinere Bedrohung war. Der Tiefseegabriel lehnte über den Wannenrand und öffnete den Schlund weiter als es seine monströse Anatomie ohnehin vermuten ließ. Sein Kopf war nur noch Maul und Zähne. Die Laterne wippte davor, als wolle sie Ernest anlocken. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn und er sah der herannahenden Flutwelle entgegen, in Erwartung des unausweichlichen Moments, wenn sie das Boot erreichte und er in den Rachen seines Sohnes gespült würde, von ihm verschluckt, wie Jona vom Wal.
Mit einem Ächzen fuhr er hoch. Das Laken stank nach kaltem Schweiß. Er wühlte sich aus der Decke und rollte vom Bett. Suchte nach seinen Kleidern über dem Stuhl, aber da merkte er, dass er sich gar nicht entkleidet und mitsamt den Schuhen im Bett gelegen hatte. Die Temperatur war gefallen und ihn fröstelte.
Aus dem Badezimmer hörte er den Wasserhahn. Die Angeln des Spiegelschränkchens quietschten. Er hechtete zur Tür und legte ein Ohr daran. Seine Frau summte leise. Die Melodie des Lieds, das ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. „Barbara“, flüsterte er, aber sie hörte ihn nicht. „Barbara!“ Er drückte die Klinke nach unten. Abgeschlossen.
„Du bist zurück“, drang ihre Stimme gedämpft zu ihm.
„Barbara, was machst du da drin?“ Er rüttelte an der Klinke.
„Ich mach mich nur etwas frisch.“
„Ich hör den Wasserhahn laufen.“
„Wie gesagt, ich mach mich etwas frisch. Ist das etwa verboten?“
„Es ist die Badewanne.“
„Ich nehm ein Bad, na und? Ich brauch bisschen Entspannung. Und weißt du was, Ernest? Du trägst nicht gerade dazu bei.“ Sie lachte.
„Wo ist Tomi?“, fragte er.
„Liebling, Tomi ist unten und spielt mit seinen Bauklötzen.“
Ernest wandte sich Richtung Treppe und rief: „Tomi?!“
Keine Antwort. Nur das Rauschen des Wasserhahns. Unter dem Türspalt bildete sich eine Pfütze.
„Verflucht, willst du das ganze Haus unter Wasser setzen?!“
Keine Antwort.
„Ich weiß, dass Tomi bei dir da drin ist. Mach auf, verdammt!“
„Nein.“
„Lass mich rein!“ Er hämmerte gegen die Tür. Als sie immer noch nichts erwiderte, fügte er schnaufend an: „Du hast recht. Ich war zu selten da. Bin rückfällig geworden. Hab mich rumgetrieben. Ich hielt es nicht mehr aus, euch in die Augen zu sehen.“
„Dass du wieder trinkst, war mir längst klar.“
„Bei der Feuerwehr gab‘s jede Menge Getuschel seit Gabris Tod. Das verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn die Kollegen dich hinter deinem Rücken fertigmachen?“
„Wie naiv du bist! Ganz Altwinter mied uns doch. Was meinst du, was die Leute dachten, als du auf den Polizeiposten musstest? Mehrmals? Und dann diese schmierigen Reporter vom Altwinter Express, die uns nicht mehr in Ruhe ließen? Die seltsamen Blicke im Supermarkt, das werde ich nie vergessen ...“
„Wieso streiten wir uns? All das spielt längst keine Rolle mehr.“
„Wenn man dabei zusieht, wie jemand ertrinkt, dann ist das Mord.“
„Das Verfahren war falsch! Der leitende Ermittler hat sich höchstpersönlich bei mir entschuldigt! Willst jetzt etwa du mir ein Motiv anhängen?!“
„Ich weiß nicht, Ernest, mach ich das? Wie fühlt es sich denn an?“
„Was den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung angeht ... Ich habe dafür bezahlt. Ich will doch nur, dass wir wieder eine Familie sind.“
„Ernest, du meinst immer, alles sei so einfach. Du bist ein unverbesserlicher Egoist.“
„Bitte, lass es mich wieder gut machen.“
„Das kannst du nicht!“
„Du wirst jetzt die Tür aufmachen, oder ich trete sie ein!“
„Lass mich in Ruhe! Hau ab! Verzieh dich!“
Ernest rammte seine Schulter gegen das Holz. Die Tür blieb standhaft. Nach zwei weiteren Versuchen lehnte er sich schwitzend dagegen, schlug noch einmal mit der Faust zu. „Ich tu dir nichts“, versuchte er es auf anderem Weg, „ich will doch nur mit dir reden.“
„Dann sag, was du zu sagen hast.“
„Öffnest du dann die Tür?“
„Ich hör dich sehr gut.“
Barbara summte das Lied und nun fiel Ernest ein, woher er es kannte: Früher hatte sie Tomi und Gabriel damit in den Schlaf gewiegt. Ernest sackte gegen die Tür und konnte sich kaum aufrecht halten. Mit den Fingern strich er über das Holz, als suche er nach Halt oder als probiere er, so zu seiner Frau durchzudringen. Plötzlich hörte sie zu summen auf. „Also was ist?“
„Es tut mir leid.“
„Das ist mir egal“, antwortete sie. „Für deine Floskeln ist es zu spät. Seit Gabriels Tod warst du nie mehr derselbe. Aber nicht deswegen verabscheue ich dich. Ich verabscheue dich, weil du unfähig warst, deinen Sohn zu retten, und mir das Gefühl gegeben hast, ich sei schuld daran. Was war ich eine dumme Kuh.“
„Nein, du kannst nichts dafür! Tomi kann nichts dafür!“
„Das ist jetzt vorbei. Geh einfach.“
„Wir müssen beide damit leben. Es ist derselbe Schmerz.“
„Bist du fertig?“
„Nein, warte!“
„Ich leg mich jetzt in die Wanne. Mach doch, was du willst.“
Erneut legte Ernest sein Ohr gegen die Tür. Barbara begann wieder zu summen und Ernest stellte sich Tomi vor, auf einem kleinen Schiffchen inmitten der überlaufenden Wanne und wie das Wasser ins Innere floss, wie er mit seinem winzigen eisblauen Eimerchen keine Chance hatte, die Fluten zu bewältigen.
„Hör auf“, flüsterte Ernest. „Barbara, bitte hör auf ...“
Die Antwort bestand nur aus einem Plantschen und Platschen unter dem Rauschen des Wasserhahns, wie das Schlagen der Schwanzflossen.
„Es wird alles gut, wie du es dir gewünscht hast.“ Ihre Stimme klang jetzt sanft, ohne jegliche Aggression oder Unruhe. Verträumt, als würde sie einschlafen oder wäre sonst wie weggetreten. „Bald können wir wieder zusammensein. Was deinen Vater betrifft ...“
„Lass die Finger von Tomi!“, keuchte Ernest. „Tomi, Junior, hörst du mich? Du musst dich wehren! Gott, mein Junge, wehr dich doch!“ Ernest begann zu schreien. Das Hämmern gegen die Tür hallte als dumpfe Schläge in seinem Kopf. „Nimm den Eimer! Tomi, du musst den Eimer nehmen und das Wasser wegschöpfen!“
Und Barbara begann leise zu singen: „Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen, am Himmel hell und klar. Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Wiesen steiget, der weiße Nebel wunderbaaaar ...“
Angst und Wut bündelten sich zu purer Verzweiflung und die trieb Ernest die Treppe hinab. Morsche Bretter brachen unter seinen Tritten. Er blieb hängen und knallte unten so wuchtig gegen den Wandschrank, dass dessen Tür splitterte. Blut lief aus einer Wunde über seinem rechten Auge. Sein Hals brannte. Ernest humpelte in die Garage und setzte sich mit zitternden Händen hinters Lenkrad. Erst da merkte er, dass er immer noch schrie, ob laut oder nur innerlich, war für ihn nicht mehr zu unterscheiden.
Die Fahrt zur Werkstatt musste er blindlings bewältigen. Der Jeep rollte durch den zum Schneiden dicht gewordenen Nebel, die Scheinwerfer machtlos. Holperte über Hindernisse, die Ernests Vorstellungskraft überstrapazierten.
Silvan und sein weißrotes Rennboot waren verschwunden. Sein Freund hatte ihm einen Brief hinterlassen. Ein einzelnes Blatt Papier unter das Radio geklemmt, gekrakelt in kaum lesbarer Schrift, fleckig vom Wasser. Ich wusste, dass du zurückkommst. Vergib mir meine Abwesenheit, aber sei nicht traurig. Wir sehen uns hoffentlich bald wieder. Du findest mich am schwarzen Riff. Ernest las den Brief mehrmals, ließ ihn dann fallen, wo er auf den Wellen davontrieb.
Dann kämpfte er sich durch das Tor und das Meer riss ihn beinahe von den Füßen, weil es ihm die Stange eines löchrigen Schilds gegen die Schienbeine schmetterte: Altwinter, 5km. Mit letzter Kraft hievte er sich auf das Trockendock, kniete auf den feuchten Stein.
Vom Geruch von Moder und Salz schwindelte ihm. Er tastete nach Gabriels Namenskettchen in der Jackentasche. Seine Finger waren steif, eine angenehme Taubheit breitete sich von ihnen aus. Die schwarzen Wasser leckten unaufhörlich am Fundament. Und das Schlaflied summend, legte Ernest sich hin, wartete auf die Flut.
- Quellenangaben
- Der Mond ist aufgegangen (Text von Matthias Claudius, 1778)