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Spuren

Monster-WG
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18.06.2015
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Spuren

Im Death Valley gibt es Steine, die wandern. Spuren zeigen den Weg, den sie zurückgelegt haben, zwanzig, dreißig Meter, manchmal mehr. Es muss der Wind sein, der die Brocken bewegt, doch niemand weiß, wie er das tut. Manche sagen, es geschehe nur, wenn es regne.

Sie fuhren über den Townes Pass in das Tal. Auf einem gelben Schild am Straßenrand stand, man solle die Klimaanlage ausschalten, der Motor drohe zu überhitzen. Sie gehorchten. David saß auf dem Beifahrersitz und studierte die Karte, die der Nationalpark-Broschüre beilag. Danach verstaute er beides im Handschuhfach und blickte nach draußen. Ockerfarbener Fels. Gelbe Grasbüschel, als habe man ausgefranste Pinsel in die Erde gesteckt. Lautlos glitt der Camaro über den Asphalt. Eine nach Leder riechende Raumkapsel, die ihre Insassen so sehr behütete, dass es kein Draußen mehr gab. David drehte sich um und zählte die Wasserflaschen, die auf den Rücksitzen lagen. Alles gut. Am Abend würden sie in Las Vegas sein.
„Stovepipe Wells“, sagte er.
„Ja?“ Es klang, als sei sie soeben erwacht.
„Noch mal tanken. Und Kaffee?“
„Klar.“
„In etwa dreißig Meilen.“
„Okay.“
Im Wageninnern war es noch immer angenehm kühl. Majlen begann leise zu singen. In a minute there, I lost myself, I lost myself. Es war seine Schuld. Er hatte nur diese eine CD gekauft, bevor sie losgefahren waren. Nun war Radiohead in ihrem Kopf und würde ihn nicht wieder verlassen, bis der Urlaub vorbei war. Er machte das Beste daraus, sang mit und traf die Töne ebenso wenig wie Majlen. Sie drehte den Kopf und lächelte. Hinter der Sonnenbrille waren ihre Augen nicht zu erkennen. Es war ein gutes Lächeln, dachte er, sicher ein gutes Lächeln.

Das hellgraue Dach von Stovepipe Wells glänzte im Licht des späten Vormittags. Sie parkten vor dem Gebäude, kein Schatten. Als sie aus dem Wagen stiegen, war David, als erhielte er einen Schlag ins Gesicht. Trockene Wüstenluft, die man nicht einzuatmen wagte, aus Angst, sich die Kehle zu versengen. Er schloss die Augen.
„Scheiße, ist das heiß.“
„Findest du?“, sagte Majlen.
Im Innern gab es einen Souvenirladen und ein winziges Restaurant. Es duftete nach gebratenem Speck. Sie zählten fünf an die Wand gehängte US-Flaggen, setzten sich an die Theke und bekamen wässrigen Kaffee von einer Frau ausgeschenkt, die aussah, als habe man ihrem Körper sämtliche Flüssigkeit entzogen.
„Where are you going?“, fragte die Frau.
„Las Vegas“, sagte Majlen.
Die Frau blickte zur Decke, ein weißer Schleier überzog die Iris ihrer Augen. Vielleicht ist sie blind, dachte David. Aber wie hätte sie dann Kaffee servieren können?
Las Vegas sei kein guter Ort, sagte die Frau. Es sei besser, wieder umzukehren. Sie meine es ernst, da gebe es nichts zu grinsen. Daraufhin hob sie den rechten Arm, als wolle sie einen Eid schwören. Dort wohne der Teufel, sagte sie, und beinahe habe er sie gekriegt, aber nur beinahe. Sie schnalzte mit der Zunge, zog ihr T-Shirt hoch und drehte sich einmal um die eigene Achse. Die Tanzeinlage wurde von zwei Männern, die in einer dunklen Ecke des Diners saßen, mit einem Kichern quittiert.
„Was soll das?“, flüsterte Majlen.
„Sieh doch hin.“ Schlecht verheilte Narben auf Bauch und Rücken, schrundige Spuren der Gewalt.
„Ach so.“ Und etwas lauter: „We’d like to pay now.“
Während Majlen den Wagen tankte, blickte David noch einmal zurück auf das Gebäude. Der Eingang war von großen Holzfässern flankiert, deren ursprüngliche Verwendung sich ihm nicht erschloss. Daneben ein paar Stühle und weiter links, hinter dem Parkplatz, sah er eine Schaukel.

Als sie wieder losfuhren, stand die Sonne im Zenit. Im Wagen war es heiß geworden. David ließ mit einem Knopfdruck das Seitenfenster nach unten gleiten. Es half nichts.
„Schalten wir die Aircondition wieder ein?“, fragte Majlen.
„Die stellen die Schilder wohl kaum zum Spaß hin.“
„Meine Güte! Wir fahren einen Chevrolet.“
„Ich hab's dir ja gesagt.“ David fasste sich an den Hals, formte die Hand zu einer Kralle und begann zu röcheln.
„Hä?“
„Das werden meine letzten Worte sein.“
„Ja. Sehr lustig.“ Kein Lächeln erkennbar. David ahnte nichts Gutes. Er drehte den Schalter und bald darauf kitzelte kühle Luft die Haare an seinen Unterschenkeln.
„Alles klar?“, fragte er.
„Ja.“
„Die Frau war ziemlich schräg, nicht?“
„Mhm.“
„Woher hat sie wohl die Narben?“
„Keine Ahnung. Interessiert mich nicht.“
Majlen zog ihr Programm durch. Drei Wochen Schweigen. Grübeln. Wie immer, wenn ihr ein Urlaub Zeit zum Nachdenken gab. David hatte sich bemüht. „Die Golden Gate ist nebelfrei, schau mal.“ Keine Antwort. „Ich hätte nicht gedacht, dass Chinatown so groß ist.“ Nichts. Er kam sich vor wie ein Vierjähriger, der seiner Mutter auf die Nerven ging. Manchmal hatten sie sich gestritten, immerhin. Das erste Mal, als sie in Zürich das falsche Terminal angesteuert hatten – sag mal, wie kann man dreiundzwanzig mit zweiunddreißig verwechseln? – und der Flieger nach San Francisco beinahe ohne sie abgehoben wäre. Auch gestern. Kurz nach Yosemite hatten sie zweimal wenden müssen, weil er die Karte nicht richtig interpretiert hatte, und Majlen nannte ihn einen verdammten Kretin. Ein Kretin mit Uniabschluss, erwiderte er und dann brachen sie in Lachen aus und später meinte Majlen, sie hätte in dieser Situation selbst den lieben Gott persönlich einen Idioten genannt. Ein kurzer Moment des Glücks, längst aufgezehrt vom Tal des Todes. Hier herrschte die Sonne. Gab Leben und ließ es verdorren. Der Gott der Wüste. Oder die Göttin? David wusste nicht, was besser passte, aber es spielte keine Rolle, fand er. Majlen hatte wieder zu singen begonnen, in genau der Lautstärke, die man wählt, wenn man alleine ist. I lost myself, I lost myself.

Sie überholten ein Wohnmobil, ein schwerfälliges weißes Ungetüm mit aufgeschraubter Satellitenschüssel. Kein Gegenverkehr. Dann kam Furnace Creek, hohe Palmen umsäumten das Anwesen, eine Oase mitten im Staub. Majlen bremste ab. Hinter dem langgezogenen Gebäude konnte man leere Liegestühle erkennen. Im Juli gab es niemanden, der hier Halt machte, der Ort gehörte den Raben, die reglos im Schatten des Vordachs hockten und mit ihrem pechschwarzen Gefieder der Evolutionstheorie widersprachen. Ein Rätsel, wie diese Vögel überleben konnten. Majlen beschleunigte den Wagen wieder und David überlegte, was er zu ihr sagen konnte.
„Kristallwörter?“, fragte er schließlich. Kristallwörter waren auf den ersten Blick unauffällig. Doch wenn man sie näher betrachtete, wenn man sie gegen das Licht hielt, sie ein paar Mal wiederholte, ganz schnell aussprach oder ganz langsam, wie ein Walkman, dessen Batterien zur Neige gehen, dann begannen sie auf einmal zu glitzern. Er war für die gezischten und gepressten Laute zuständig, Majlen für die gedehnten.
„Rhabarberkuchen“, sagte sie nach einigem Überlegen.
„Rehkitz.“
„Muttermal.“
„Schabernack.“
„Baby.“
„Finster.“
„Baby.“
„Hattest du schon.“
„Ich weiß.“
Er schwieg, das Spiel war zu Ende. David schloss die Augen und versuchte, ein wenig zu schlafen.

Sie erreichten Zabriskie Point. Der Aussichtspunkt lag etwas oberhalb der Straße, sie stiegen aus und quälten sich auf die Anhöhe, je eine Literflasche Wasser in der Hand. Sand drang in Davids Schuhe, seine Füße brannten, die Sohlen waren zu dünn. Schweiß rann in seine Augen. Oben angekommen, blickten sie auf die Wüstenlandschaft. Brauner Fels, Stein, Sand. Keine Pflanze, kein Leben.
„Siehst du die Risse? Als habe man in den Fels gekritzelt“, sagte David. Keine Antwort. Majlen blickte zu Boden. Dann nahm sie seine Hand.
„Was ist?“, fragte er.
„Gekritzel“, sagte sie. „Mein Großvater hat jeden Tag Briefe geschrieben. Im Jahr, bevor er starb. Er saß da, kerzengerade, mit ernstem Gesicht, beinahe feierlich. Und schrieb und schrieb.“
„An wen?“
„Es war nur Gekritzel, David. Wellenlinien. Seitenweise. Die Betreuer haben ‚gut gemacht‘ gesagt und ‚wir schicken es ab‘ und seine Schulter getätschelt. Danach haben sie's weggeworfen.“
„Okay.“
„Man schreibt und schreibt und nichts macht einen Sinn.“
Majlen hatte zu weinen begonnen, ihre Hand, die in seiner lag, verkrampfte. David dachte nach.
„Ich ahne, worauf das hinausläuft“, sagte er.
„Ach ja?“ Sie drehte sich um und ging zurück zum Auto. David hatte Mühe, ihr zu folgen. Die Haut auf seinen Wangen brannte.
„Aahh, schön kühl“, sagte er, als er in den Wagen stieg, aber es war zu spät.
„Ich will das jetzt klären.“ Majlen steckte den Zündschlüssel ins Schloss und verschränkte die Arme.
„Hier?“
„Ja, hier. Wieso nicht?“
„Du schweigst mich zehn Tage lang an und auf einmal willst du reden? Nach einem Schlüsselerlebnis am Zabriskie Point?“
„Ach, David. Alles ins Lächerliche ziehen. Bravo! In Wirklichkeit hast auch du nicht gesprochen. ‚Schau mal da!‘ und ‚Sieh mal, wie schön!‘ So reden Neunzigjährige. Immerzu plappern. Aber wenn es um Grundsätzliches geht, bleibst du stumm.“ Sie schlug mit der Faust gegen seinen Oberarm.
„Na gut, reden wir.“
„Okay.“ Sie startete den Wagen und fuhr los. „Warum willst du keine Kinder?“
„Das habe ich nie gesagt.“
„Was denn? Erklär's mir, David. Was hast du gesagt?“
„Dass ich's mir vorstellen kann.“
„Und?“
„Reicht das nicht?“
„Und ich kann mir vorstellen, auf dem Mars zu leben. Nein, das reicht nicht. Wir sind jetzt drei Jahre zusammen. Ich hab' dir von Anfang an gesagt, woran du bist.“
„Ach, Quatsch!“
„Darüber will ich nicht streiten. Du weißt, was ich will. Ich hab's dir gesagt, du hast genickt und seither lenkst du ab.“
„Das muss überdacht werden.“
„Ja, das muss es.“ Die Straße verlief schnurgerade, gegen den Horizont wurde sie schmaler und schmaler und in der Ferne flimmerte die Luft, als beherberge sie Antworten auf alle Fragen der Welt. Das war eine Illusion und David wusste es.
„Das Leben ist sinnlos, also machen wir ein Kind? Das ist nicht wirklich dein Argument, oder?“, sagte er.
„Mach dich nicht über mich lustig. Du sagst jetzt, was Sache ist.“
„Majlen, bitte.“ Er versuchte, ihr eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen.
„Fass mich nicht an.“ Sie trat auf die Bremse, der Wagen kam ins Schlingern und blieb schließlich auf der Gegenfahrbahn stehen. „Antworte, oder ich werfe dich aus dem Wagen.“
„Bist du irre?“
„Ich sag's nicht noch mal.“
David dachte an die Hexe von Stovepipe Wells und an den Teufel, der in Las Vegas auf sie wartete. An die Raben von Furnace Creek. Vielleicht atmeten sie am Morgen, wenn es noch kalt war, tief ein und die Luft kühlte sie den Tag über von innen, bis sie am Abend wieder ausatmeten. Ein vorzeitiges Krächzen und sie mussten sterben.
„Ich möchte schon Kinder“, sagte er dann.
„Aber?“ Majlen hatte die Sonnenbrille abgenommen und starrte ihn an. David schloss die Augen. Bilder in rasender Geschwindigkeit. Ein Vorgeschmack auf diesen Film, der angeblich vor dem Tod abläuft und das gesamte Leben zusammenfasst. Er sah Majlen, wie sie ein Glas gegen die Wand warf. Wie sie mit dem Oberkörper wippte und an ihren Haaren riss. Wie sie auf dem Balkongeländer stand.
„Ich weiß nicht, ob du eine gute Mutter sein kannst.“ Er atmete aus.

Majlen fuhr den Wagen weg von der Straße, Schotter knirschte unter den Reifen. Dann stoppte sie.
„Steig aus.“
„Bitte?“
„Du steigst jetzt aus.“ Sie löste den Sicherheitsgurt, griff nach einer Flasche, die auf dem Rücksitz hinter ihm lag, und warf sie ihm in den Schoß.
„Lass uns vernünftig reden.“
„Genug geredet.“ Sie stieg aus, ging um den Wagen herum und riss die Tür auf seiner Seite auf. „Warum bist du mit mir zusammen?“
„Was jetzt?“
„Arschloch!“ Sie packte ihn am T-Shirt, ihre Fingernägel gruben sich in seinen Nacken „Du kommst jetzt da raus.“
„Okay.“ Er stieg aus und sie standen sich gegenüber.
„Was machen wir in dieser gottverdammten Wüste? Was soll das überhaupt? Ich meine, wir beide?“, fragte sie. Sie blickte nach oben, als erwarte sie göttliche Inspiration. Und auf einmal ganz ruhig: „Ums Ficken geht's. Nicht wahr?“
„Ach Quatsch.“
„Doch, doch! Ficken? Ja du, das kann sie super. Ein Kind in die Welt setzten, nein du, das lieber nicht, wie? Dazu ist sie nicht so geeignet, die Irre.“ Sie hob die Hände neben ihren Kopf und streckte die Zeigefinger in die Höhe. Teufelshörner. Dann glitt sie mit der Zunge über ihre Lippen. „Also gut. Komm, ficken wir.“
„Hör auf!“
Aber sie hörte nicht auf. Sie griff unter ihren Rock, zog den Slip aus und warf ihn in den Sand. Dann stieg sie auf die Kühlerhaube und setzte sich darauf.
„Komm, David. Rosa Muschi. So, wie du's magst.“ Sie schob den Rock hoch, spreizte die Beine und er konnte sie tatsächlich sehen, ihre Muschi. Er bekam eine Erektion. David blickte an sich hinunter, als sei es die erste seines Lebens. Dreiundvierzig Grad, kurz vor dem Kollaps, vor sich eine Furie. Und er stand da, mit einem zuckenden Schwanz in der Hose. Sein Sperma würde verdampfen, bevor es rauskäme.
„Aua! Scheiße!“ Majlen sprang auf. „Heiß!“ Sie hüpfte von der Kühlerhaube, klappte den Fahrersitz herunter und warf sich bäuchlings auf die schmalen Rücksitze. Die Wasserflaschen kullerten zu Boden. „Verdammter Idiot!“, schluchzte sie und David wusste nicht, wen sie damit meinte. Sie hatte den Rock noch immer hochgezogen. Ihr Hintern war feuerrot, die Haut sah aus, als platze sie gleich. David schraubte eine der Flaschen auf und goss Wasser über die verbrannten Stellen.
„Aahh!“ Majlen wimmerte noch immer, nun aber mischten sich kurze glucksende Lacher dazwischen. Es klang, als hätte sie Schluckauf. „Verdammter Idiot“, sagte sie.
„Du bist verrückt“, sagte David. „Echt crazy.“
„Und du bist ein geiler Bock.“
Sie beschlossen, nach Furnace Creek zurückzufahren und dort zu übernachten. David übernahm das Steuer. Sand war in den Camaro gedrungen, die Hitze hatte sich festgesetzt, Majlen jammerte.

Zu ihrer Überraschung waren sie nicht die einzigen Gäste. Als sie eincheckten, wurden sie von einem Pärchen mit tätowierten Gesichtern gemustert, das in der Vorhalle saß. Später, als sie ihr Zimmer bezogen, konnten sie nebenan einen Mann husten hören. Die Klimaanlage surrte, sie hatten sie bis zum Anschlag aufgedreht. Eine Flasche Four Roses stand auf dem Nachttisch, der Whiskey schimmerte im einfallenden Abendlicht honigfarben. Majlen hatte daraus getrunken, ohne Glas, als handle es sich um Mineralwasser. Nun lag sie nackt auf dem großen Kingsize-Bett, David kniete neben ihr. Er hielt ihr die Body Lotion vor die Nase, die er aus ihrem Koffer geholt hatte und die nach Rosmarin duftete.
„Soll ich den Typen an der Rezeption fragen? Die haben vielleicht was Besseres. Was Medizinisches.“
„Schon okay“, murmelte Majlen ins Kissen. David schmierte sich etwas von der Lotion auf die Fingerspitzen und trug sie vorsichtig auf.
„Aua!“ Majlen hob den Kopf.
„Sorry.“
„Ist nicht schlimm. Nur diese eine Stelle.“
„Wieso hast du das erst so spät bemerkt? Das frage ich mich die ganze Zeit.“
„Weiß nicht.“ Sie sprach wieder ins Kissen. „Denkst du, ich bin verrückt?“
„Nein“, antwortete er. Kein Zögern. „Es ist die Hitze. Die wühlt sich ins Hirn und dann fließt Strom, wo er nicht sollte. Ich hab‘ den ganzen Tag Todesvisionen gehabt.“ Das war reichlich übertrieben, aber David hoffte, dass es helfe. Er hatte begonnen, ihren Rücken zu streicheln.
„Einmal habe ich versucht, den Nagel meines Zeigefingers abzulösen“, sagte Majlen. „Mit einem Messer.“
„Zsss.“ Er sog Luft zwischen die Zähne, ihm wurde schwindlig.
„Nicht aufhören, David, das ist schön.“ Sie seufzte leise. „Das war lange bevor ich dich kennengelernt habe. Ich war betrunken, weißt du, also so richtig.“
„Okay.“
„Ich sollte dir so was nicht erzählen.“ Sie begann zu summen, so wie man ein Einschlaflied summt, und er küsste ihren Nacken. Dann rollte er sich neben sie und schloss die Augen. Er war müde.
„Mein Slip“, sagte Majlen. „Der liegt immer noch draußen in der Wüste.“
„Macht doch nichts.“ David stellte sich vor, wie ein Rabe hoch zur Sonne flog, das schwarze Stück Stoff im gelben Schnabel. Bevor ich dich kennengelernt habe. Er erinnerte sich, wie er Majlen das erste Mal gesehen hatte, auf einer Studentenparty im Keller eines Freundes. Das Blau ihrer Augen glich der Kühlflüssigkeit, die man im Innern von Eisschränken fand. Ihre Lippen waren schmal, besonders die obere. Unter ihrem Pullover zeichneten sich winzige Brüste ab. Er hatte sich vorgestellt, wie sie ihn küsste, und gespürt, wie sich seine Hoden sanft zusammenzogen, um ihre warme Zustimmung zu geben. Dann hatte er in ihre Augen gesehen und sich vorgestellt, wie sie einem Kätzchen die Kehle durchschnitt. Auch das hatte gepasst. Und die letzten drei Jahre hatten nichts geändert. Meine Majlen, meine irre Majlen, flüsterte er und schlief ein, während er mit den Daumen die Nägel seiner Zeigefinger rieb.

Jemand hämmerte gegen die Tür. Davids Kopf schmerzte.
„You have to check out!“
„One moment, please.“
Die Flasche war bis auf einen kleinen Rest leer, es sah nicht mehr aus wie Honig, sondern wie dunkle Pisse, die auf eine üble Krankheit hinwies. Spuren. Majlen lag neben ihm und schnarchte. Er rüttelte leicht an ihrer Schulter.
„Majlen, wir müssen.“
„Eh?“
„Auschecken.“
„Mir ist schlecht.“
„Okay.“
„Können wir nicht hierbleiben?“
David ging zur Rezeption und bezahlte für eine weitere Nacht. Dann ging er zum Frühstücksraum, bestellte eine Kanne Kaffee und ließ zwei Brötchen mitgehen, die auf einem verwaisten Tisch gelegen hatten. Das tätowierte Paar blickte ihn an, der Mann räusperte sich und sagte, man solle den Dieb halten, worauf er loslachte und sich die Ornamente auf seinem Gesicht zu schiefen Gebilden verzerrten.

Es gab einen Pool. Nachdem sie nochmal eine Stunde geschlafen hatten, holten sie sich eine Cola und stiegen ins Wasser, das ihnen bis zu den Schultern reichte. Die einzige Möglichkeit, sich draußen aufzuhalten. Sie standen nebeneinander, hatten die Arme auf den Rand des Bassins gelegt und starrten in das hellbraune Nichts der Wüste. Majlen trug einen Strohhut und einen türkisfarbenen Bikini. Selbst verkatert sah sie fantastisch aus, dachte David.
„Alles klar?“, fragte er. Besser, er brachte das Gespräch wieder in Gang. Dosiert und vernünftig.
„Wie? Ja, alles gut.“
„Das will mir nicht mehr aus dem Kopf.“
„Was?“
„Das mit dem Nagel.“
„Ja?“
„Ich meine, wie konntest du so was tun?“
„Was?“
„Dir den Fingernagel wegschneiden.“
„Wovon sprichst du?“
„Was du mir gestern erzählt hast.“
„Ich hab' echt keine Ahnung, was du meinst.“
„Warst du so betrunken, dass du nichts mehr davon weißt?“
„Na ja, ich habe die Flasche nicht allein leergemacht, David.“ Sie lachte. David war, als streiche jemand über sein Haar. Er drehte sich um und sah einen Raben, der am anderen Ende des Pools stand und seinen Schnabel mit schnellen Bewegungen ins Wasser tauchte.
„Egal“, sagte er. Die Hitze ließ einen am eigenen Verstand zweifeln.
„Ich habe auch Narben“, sagte Majlen.
„Das weiß ich.“
„Ich spinne manchmal. Ich hab' Krisen.“
„Mhm.“
„Ich bin impulsiv.“
„Ja.“
„Aber ich wäre eine gute Mutter.“
„Okay.“
„Ich würde mein Leben geben, damit es meinem Kind gut geht.“ Majlen sah ihn an. „Nimm die Sonnenbrille ab. Ich will deine Augen sehen.“ David erinnerte sich an die Ärztin, die ihm einen Holzspatel in den Mund geschoben hatte, damals, bevor er sich die Mandeln entfernen lassen musste. Weshalb kamen ihm immer diese seltsamen Gedanken?
„Und?“
„Du glaubst mir nicht.“ Sie drehte den Kopf wieder ab. Er hätte zurücknehmen können, was er gesagt hatte. Aber er wollte aufrichtig sein.
„Es ist nicht einfach.“
„Wieso bist du mit mir zusammen, wenn du das wirklich denkst?“, fragte sie.
„Du bist der faszinierendste Mensch, den ich kenne.“
„So eine verfluchte Floskel!“ Sie schlug mit der Hand aufs Wasser.
„Wenn du es so siehst.“ David ließ sich nicht beirren. „Ich denke, wir sollten warten.“
„Warten, worauf?“
„Bis es dir besser geht. Bis du stabiler bist“, sagte er. Sie sah ihn an, ließ etwas Wasser in ihren offenen Mund fließen, schloss den Mund, das Wasser rann über ihr Kinn. Dann tauchte sie unter. Sie schwamm zur anderen Seite und stieg aus dem Pool.
„Gehen wir essen“, sagte sie, während sie nach einem Handtuch griff, um sich die Haare zu trocknen.

Sie saßen einander wortlos gegenüber, der Kellner war sehr freundlich. Rinderschädel hingen an der Wand, in der Ecke wachte ein Adler, er sah ziemlich echt aus. Sie bestellten eine Flasche Four Roses, die sie mit aufs Zimmer nahmen. David blickte auf die Uhr, nahm ein paar Schlucke und legte sich aufs Bett. Fünf Uhr nachmittags. Er schlief ein, während Majlen noch im Bad war.

David schreckte hoch. Kalter Schweiß bedeckte seine Stirn, es war dunkel und viel zu kalt im Zimmer. Er suchte nach einer Decke. Dann hörte er einen Wagen wegfahren und er wusste instinktiv, dass er nach einem Zettel suchen musste. Er machte das Licht an und fand ihn direkt neben sich liegen. Es waren nur fünf Zeilen.

Wenn du so über mich denkst,
kann ich nicht mehr mit dir sein.
Nimm du den gebuchten Flug.
Ich werde früher fliegen.
M.

Er rannte nach draußen, doch er sah nicht einmal mehr die Rücklichter des Camaros. David setzte sich auf den Parkplatz. Kein Geräusch, nichts. Noch nie hatte er einen solch klaren Sternenhimmel gesehen. In der Schule hatte er ein paar Sternbilder gelernt, aber jetzt fiel ihm keines mehr ein. Er ging zurück ins Zimmer und legte den Zettel in die Bibel, die im Nachttisch lag, der richtige Ort für Majlens Worte, wie er fand. Zwischen altem und neuem Testament. Dann trank er den Whiskey leer und packte seine Sachen. Das Flugticket hatte sie ihm in den Koffer gelegt. Geld, Pass, alles da. Er war sich sicher, dass sie nach San Francisco zurückgefahren war. Nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, legte er sich aufs Bett. Keine seltsamen Gedanken mehr, sein Kopf war leer.

Als es dämmerte, ging er zur Straße. Zunächst wartete er vor dem Gebäude, dann aber ging er in Richtung Zabriskie Point, nicht zu weit, er konnte Furnace Creek noch immer sehen. Das verlieh der Sache eine gewisse Dramatik und erhöhte die Wahrscheinlichkeit, mitgenommen zu werden. Zwei Wagen in einer Stunde, ferne Lichter zunächst, dann näher und näher kommend, an ihm vorbei. Der nächste Fahrer hatte Mitleid. Es saß in einem alten Ford.
„Las Vegas?“
„Okay.“ Der Mann rümpfte die Nase, als David seinen Koffer auf die Rückbank wuchtete. Er setzte sich nach vorne, der Mann spuckte aus dem Fenster und fuhr los. David blickte in den Seitenspiegel. Sanftes Morgenlicht, weiche Sandhügel, nicht zu dieser Welt gehörend. Nur die Steine hinterließen Spuren, in diesem Tal, das Gott aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte. David lehnte sich zurück und schloss die Augen. In ein paar Stunden würde er in Las Vegas sein. Und dort durfte der Teufel mit ihm tun, was er wollte.

 

Hallo Peeperkorn,
schön, dass die Geschichte noch mal hochgespült wurde, denn so kam ich auch in den Genuss, sie zu lesen.
Was mir bei deinen Geschichten oft auffällt, ist, dass du Menschen aus dem Alltag elegant mit eindrucksvollen Bildern verwebst, die mich zum Teil an bekannte Filmszenen erinnern. So werden die Charaktere noch plastischer und extremer. Das gefällt mir ausgesprochen gut, zumal es in keinster Weise abgegriffen auf mich wirkt.

Dieses ganze Wüstensetting mit seinen extremen Bewohnern erinnrt mich - um mal wieder mit Lynch zu kommen - sehr an Wild at Heart oder auch an Stone's Natural born killers, obwohl die Charaktere ganz anders gestrickt sind und David auf den ersten Blick erstmal ganz solide wirkt.

Der Aufbau lässt ja auch erstmal nichts Außergewöhnliches vermuten. Sie spricht zwar nicht, aber ich weiß ja noch nicht, warum, und dann, als das mit dem Baby kommt, ist sie erstmal nur eine gewöhnliche Zicke, die unangebrachterweise einen Streit vom Zaun bricht. Da rolle ich noch mit den Augen. Aber dann, als die Szene kommt, wo sie auf die Kühlerhaube steigt, bekomme ich Angst. Wozu ist die noch alles fähig?
Das hast du toll aufgebaut von bisschen schräg über nervig bishin zur unberechenbaren Psychotikerin.
Klar hab ich da am Anfang gestutzt und gedacht, warum verbrennt die sich nicht, aber das hast du dann ja geschickt gelöst und ihr ambivalentes Verhalten mMn sehr gut auf den Punkt gebracht, ich kenne diese Frau. Und ich kenne auch David, der versucht, auf sie zuzugehen, ehrlich ist, in der Hoffnung, er kann vernünftig mit ihr reden. Was dann gegen ihn verwendet wird. Wochenlang lässt er sich von ihr anschweigen, dann ist plötzlich alles gut, sie lässt sich von ihm eincremen und haut dann doch ab. Braucht kein Mensch. Und der arme David denkt wohl, dass irgendwann alles gut wird, wenn er es ihr nur recht macht. Ekliges Machtspiel. Und für beide eine Sackgasse.

Ob es die Szene mit dem Teufel in Las Vegas braucht, weiß ich nicht genau. Sie hat mich nicht gestört, weil sie eben diese Roadmovie-Stimmung unterstreicht, schlittert mMn aber auch knapp am Kitsch vorbei. Zumal die Prophezeiung ja nicht wirklich eintrifft. Zumindest nicht in Las Vegas. Die mystische Stimmung verschärft sie aber allemal.

In den Kommentaren wurde ein paarmal Betty Blue von Philippe Djian erwähnt. ( Hoffentlich habe ich das jetzt richtig geschrieben.) Ja, da sehe ich auch Parallelen. Würde ich dir wärmstens empfehlen, das gefällt dir bestimmt. Gibt auch 'nen Film dazu.

Und hiermit endet mein heutiger Besuch.

Hat mir sehr gefallen.

Liebe Grüße,
Chai

 
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Hallo Chai

Das ist nett von dir, dass du dir die Mühe machst, mir deine Gedanken zur Geschichte mitzuteilen, obwohl sie ja schon etwas älter ist. Ich freue mich sehr darüber, das gibt mir einen kleinen Kick, den ich grad gut gebrauchen kann.

Was mir bei deinen Geschichten oft auffällt, ist, dass du Menschen aus dem Alltag elegant mit eindrucksvollen Bildern verwebst, die mich zum Teil an bekannte Filmszenen erinnern. So werden die Charaktere noch plastischer und extremer. Das gefällt mir ausgesprochen gut, zumal es in keinster Weise abgegriffen auf mich wirkt.

Das freut mich sehr. Ein Nebeneffekt des Schreibens ist für mich, dass ich visueller imaginiere als früher, denke ich zumindest. Wenn zum Beispiel von einer Ortschaft gesprochen wurde, habe ich mir jeweils ein blaues Bahnhofsschild vorgestellt, auf dem der Name der Ortschaft stand – auch wenn ich den Ort kannte. Also, das ist definitiv besser geworden, inzwischen. Und ja, ich orientiere mich sehr am Film. Das zeigt sich auch darin, dass wenn ich eine Szene schreibe, ich mir lustigerweise nicht immer vorstelle, es würde so passieren, sondern ich stelle mir häufig vor, dass ich im Kino sitze und die Szene sehe. So ungefähr.

Der Aufbau lässt ja auch erstmal nichts Außergewöhnliches vermuten. Sie spricht zwar nicht, aber ich weiß ja noch nicht, warum, und dann, als das mit dem Baby kommt, ist sie erstmal nur eine gewöhnliche Zicke, die unangebrachterweise einen Streit vom Zaun bricht. Da rolle ich noch mit den Augen. Aber dann, als die Szene kommt, wo sie auf die Kühlerhaube steigt, bekomme ich Angst.

Schön. Die Kühlerhaubenepisode ist eine meiner liebsten. Ich habe mich mal mit ein paar Texten bei einer Lesebühne beworben und ich durfte tatsächlich lesen, allerdings lieber nicht diesen Text, so der Veranstalter. Und zwar wegen dieser Szene. :D

ich kenne diese Frau. Und ich kenne auch David, der versucht, auf sie zuzugehen, ehrlich ist, in der Hoffnung, er kann vernünftig mit ihr reden.

Habe alles etwas überspitzt und dramatisiert, aber ja, ich kenne die beiden auch.

Ob es die Szene mit dem Teufel in Las Vegas braucht, weiß ich nicht genau. Sie hat mich nicht gestört, weil sie eben diese Roadmovie-Stimmung unterstreicht, schlittert mMn aber auch knapp am Kitsch vorbei. Zumal die Prophezeiung ja nicht wirklich eintrifft. Zumindest nicht in Las Vegas. Die mystische Stimmung verschärft sie aber allemal.

Danke für den Hinweis. Ich habe da schon einiges entschlackt. Düsterkitsch hat Jimmy die erste Version genannt, der Begriff ist mir geblieben, als Warnung. Aber diesen Darling habe ich dann doch nicht töten können, weil real so passiert (Also die Prophezeiung, nicht die Erfüllung). Das ist zwar kein Argument, aber zumindest eine Erklärung.

In den Kommentaren wurde ein paarmal Betty Blue von Philippe Djian erwähnt. ( Hoffentlich habe ich das jetzt richtig geschrieben.) Ja, da sehe ich auch Parallelen. Würde ich dir wärmstens empfehlen, das gefällt dir bestimmt. Gibt auch 'nen Film dazu.
Ich habe das Buch auf ernst offshores Empfehlung hin gelesen, und fand es grandios. Den Film habe ich mir ebenfalls angeschaut, allerdings nur bis zur Hälfte, danach wollte ich nicht mehr, weil ich ja wusste, was noch kommt, und ich mir das nicht noch einmal antun wollte.

Vielen lieben Dank für diesen Kommentar, Chai. Hast mir eine grosse Freude gemacht.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

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