Sinn des Lebens, oder: Survival of The Fittest
Die Frau stand alleine an einer Klippe. Weit und breit nur trostlose rostrote Wüste, ab und zu huschte eine Eidechse zwischen den vereinzelten trockenen Sträuchern. Die Klippe fiel steil ab und als die Frau hinab schaute, konnte sie keinen Grund erkennen. Es schien als wäre dieser Ort das Ende ihrer Welt. Sie stand da und wartete. Lange geschah nichts Nennenswertes. Der Himmel war überzogen mit grauen Wolken. Ab und zu ein Windstoß. Niemand war hier um bei der Frau zu sein. Sie war komplett alleine.
Irgendwann akzeptierte sie diese Tatsache. So wollte sie sich auf den staubigen Boden setzen und warten. Keine Gedanken darüber, worauf sie warten wollte. Aber als sie sich hin hockte, erschütterte plötzlich das Bild dieser Wüste, die vertrockneten Sträucher bebten, die dunklen Wolken zogen sich auf einmal zusammen, die Frau hörte ein tonloses Summen. Weiter geschah nichts. Doch die Frau brach in Tränen aus. Warum? Sie wusste nicht wie sie hier her gekommen war, wo sie hin wollte, was sie überhaupt vor hatte. Aber sie war so einsam. Sie hatte kein Ziel mehr, denn sie konnte keinen Weg erkennen. Sie brach zusammen, kraftlos lag sie auf dem Boden und kleine Steine drückten Muster in ihre Wange. Der Staub mischte sich mit ihren Tränen und bildete kleine rostrote Klümpchen, die an ihrem Gesicht klebten. Letzte Gefühle erschütterten sie, sie bebte ein letztes Mal, dann bewegte sie sich nicht mehr. So lag sie da am Rand dieser riesigen Klippe, nirgends Wasser, nirgends Leben. Sie starb, einsam, an diesem Ort.
Der Körper war schon eine Weile dabei, zu verwesen, als ein buntes Chamäleon, das in dieser Wüste umher wanderte, trockene Blätter eines Strauches in der Nähe der Leiche fraß. Ein Rascheln war dabei zu hören. Als das Chamäleon weiter kroch, kam es zu der toten Frau. Es begann an ihrer bleichen, stinkenden Haut zu knabbern. Da erhob sich der Geist der Frau aus dem für sie inzwischen nutzlosen Körper und fragte das Chamäleon:
„Was tust du da? Hast du keine Scham? Ergötzt du dich in dieser Art an meinem Körper!“
Das Chamäleon sagte nichts. Es biss sich nur weiter Stücke der Leiche ab, bis es fast beim Herzen war.
„Du widerst mich an. Wie kannst du anderes Leben so schänden?“
„Du meinst, ich schände dein Leben? Welches Leben?“, erwiderte das Chamäleon, genervt von dem dummen Geist der Frau.
„Du hast dein Leben kampflos aufgegeben, einfach so weggegeben, abgegeben. Also hole ich mir was ich brauche und was ich will, bevor der Lauf der Dinge genauso mit mir verfährt wie mit dir!“
Und bevor der Geist der Frau noch irgendetwas erwidern konnte, kam ein Windstoß und zerstörte diesen Schatten des Menschen, der einst in dem toten Körper gelebt hatte. Ein winziges Pfeifen war zu hören, als das Schicksal, unanfechtbar, seinen Lauf nahm.
Das Chamäleon nahm sich was es brauchte und setzte anschließend seinen Weg fort. Wohin sein Weg führte? Niemand weiß es. Vielleicht bestand sein Weg darin, sich nicht still zu setzen und zu warten. Vielleicht war sein Weg, den Weg anderer zu nutzen. Vielleicht ging das Chamäleon nur, weil es den Weg der toten Frau nutzen konnte. Sie hatte ihn abgegeben.
Vielleicht aber führte sein Weg auch zu einem uns unbekannten Ziel. Doch wie sollte ein Tier ein Ziel haben? Es hinterfragt das Leben doch nicht. Es tut was es tut. Wir sehen keinen Sinn. Doch es geht seinen Weg. Und die Frau war tot.