Mitglied
- Beitritt
- 15.02.2003
- Beiträge
- 434
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 26
Sie kommt nicht raus
Sie kommt nicht raus.
Sie sagt, sie kann nicht. Sie könne mir nicht trauen. Ich sei nicht so wie sie. Sie ist das Mädchen mit dem Dachschaden.
Auf den Plakaten, die ich für sie gemalt habe, zerläuft die Farbe. Die wasserfesten Stifte waren ausverkauft. Auf dem einen Plakat steht: Ich lie. Auf dem anderen: - be dich. Ich musste es trennen, meine Buchstaben waren zu groß, zu breit vor allem. So wirkt die ganze Sache leider nicht sehr überzeugend und sogar die Passanten bleiben stehen und lachen. Vielleicht denken sie, ich mache das fürs Fernsehen.
In ihrer Wohnung hat sie keine Stühle. Nur Bücher, die sie im Liegen liest. Essen, das sie im Stehen isst. Dinge, die sie im Laufen tut. Und an Regentagen tropft es von der Decke. In ihrem Dach sind kleine Löcher, durch die man nachts die Sterne sehen kann.
Die Sterne waren ihr egal. Sie lief um mich herum und redete von Suizid. Aber das tun alle. Ich saß auf dem Teppich in der Mitte ihrer Kreise, drehte den Kopf, so weit ich konnte und fühlte mich wie eine Taube, die die ihr zugeteilten Briefe aufgefressen hat und nun zu schwer zum Fliegen ist.
Sie schaute mich nicht an, und wenn ich beide Beine ausstreckte, sprang sie einfach darüber hinweg wie über eine Teppichfalte.
Wir lasen uns gegenseitig Sachen vor. Ich, im Sitzen, psychologische Ratgeber. Sie, im Laufen, ihre Märchenbücher.
Und dann lachten wir, weil es ja nur Märchen waren.
Ich sagte, neunzig Prozent aller Selbstmordversuche misslingen, und sie sagte, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Ich erzählte ihr von meiner Arbeit in der Glückskeksefabrik. Und dass ich meine letzte Lohnerhöhung in Keksen ausbezahlt bekommen hätte. Die ganze Branche stecke in der Krise, das Geschäft mit Glückskeksen gehe schlecht. Das sei allerdings nicht weiter tragisch. Der Job sei ohnehin nur als Übergangslösung gedacht. Und wenn sie endlich raus und mit mir käme - ...
Sie hielt nicht einmal inne, lief einfach weiter ihre Kreise. Wie ein Planet, der um eine Sonne kreist. Vielleicht glaubte sie das. Vielleicht glaubte sie, dass alles hier zusammenfiele, wenn wir uns zu nahe kämen. Dass wir früher oder später implodieren würden, durch diesen ganzen Tiefsinn.
Ich begann zu schwitzen. Ich war die Sonne.
An den besseren Tagen spielten wir Patient und Therapeutin. Unter der Bedingung, dass ich stets Patient war. Weil sie sich viel besser auskenne mit dem, was Therapeuten tun. Und weil sie sonst nicht mitgemacht hätte, natürlich.
Vielleicht möchtest du darüber reden, sagte sie mit verstellter, tiefer Stimme, als spräche da nicht sie selbst, sondern der Frosch in ihrem Hals.
Wenn ich lachte, hatte ich verloren und sie durfte mich einen Spielverderber nennen.
Lach nicht, sagte sie dann streng, wir haben ernste psychische Problöööme.
Komm doch raus, sagte ich, wenn sie besonders gut gelaunt war. Und sie sagte wieder nur: Ich kann nicht. Und dann erzählte sie mir etwas von einem Zeugenschutzprogramm. Sie sei in Gefahr. Sie wisse zuviel. Sie habe das Leben nackt gesehen. Sie dürfe das Haus keinesfalls verlassen. Sie dürfe mich auch nicht küssen. Eigentlich nicht einmal mit mir sprechen. Und es wäre besser, wenn ich jetzt endlich ginge und auch nicht mehr wiederkäme. Nie mehr.
Im Nachhinein war es wohl ein Fehler, dass ich ihre Hauswand mit Gedichten vollschrieb. Vier Graffitidosen verbrauchte ich dabei. Und ebenso viele Tage sprach sie kein Wort mit mir. Solange wie die Maler brauchten, um die Gedichte neu zu überstreichen.
Und dann ging mir auch noch das Geld aus, ich musste mein Fahrrad verkaufen und erstand ein Zelt. Ein sehr billiges Zelt. Der Verkäufer erklärte mir die Vorzüge. Man könne es überall aufstellen und darin schlafen. Ein tolles Zelt, resümierte er. Garantie wollte er mir trotzdem keine geben.
Die Nachbarn beobachten mich. Sie warten darauf, dass der Wind das Zelt umbläst. Es steht zwar noch, aber der Wind macht sich ja auch erst warm, hat noch gar nicht richtig aufgefrischt. Und der Regen wird sicher auch bald mehr. Leider ist der Boden des Zeltes ziemlich undicht. Heute morgen, beim Aufwachen, war mein ganzer Rücken nass. Als hätte ich auf einer Luftmatratze weit draußen auf dem Meer übernachtet.
Ich beobachte ihr Fenster. Ich warte darauf, dass sie die Plakate sieht und etwas dazu sagt. Oder auch nur winkt. Oder nickt. Oder einfach für einen Moment dort am Fenster stehenbleibt. Damit ich sie sehe. Damit ich weiß, dass sie noch da ist.
Sie hat mir versprochen, sich nicht umzubringen. Ich konnte sie davon überzeugen, dass es nach dem Sterben auch nicht besser ist. Dass es keinen Ausweg gibt. Es sei denn, man betrügt das Leben.
Ich wollte nicht, dass sie so wird. So verrückt. Wenn sie doch bloß -.
Aber sie kommt nicht raus. Und die Klingel hat sie abgestellt.
Gestern habe ich mich betrunken. Um Mitleid zu erregen.
Allerdings weiß ich nicht mehr, ob mir das gelungen ist. Generell weiß ich nur noch sehr wenig von gestern.
Bei der Arbeit habe ich mich erkundigt, was man in solchen Fällen tun kann.
Ausräuchern, hat der Kollege an der Schreibmaschine gesagt, der die Sprüche für die Plätzchen tippt und der Klügste von uns allen ist.
Anfangs war mir ein bisschen mulmig zumute, ich bin Nichtraucher und habe selten brennende Gegenstände in der Hand, aber eigentlich ist es leichter als man denkt. Man muss die Dinge einfach anzünden und durchs Fenster schleudern. Der Nieselregen erleichtert die Sache zwar nicht unbedingt, aber mittlerweile geht es schon ganz gut. Die Nachbarn werfen mir bewundernde Blicke zu. Sie stehen da und warten. Auf das Fernsehen, vielleicht.
Durch die Löcher im Dach steigt Rauch auf. Ich fühle mich wie der König der Welt, wie der Held in irgendeinem Film. Ich fühle mich unbesiegbar.
Auf der Rückbank des Streifenwagens geht es eng zu. Einer der Polizisten hat sich neben mich gezwängt. Seine Uniformjacke macht komische Geräusche. Wie wenn man durch tiefen Schnee stapft. Wir benutzen dasselbe Aftershave. Ich muss lachen. Der Polizist lacht nicht. Er macht ein trauriges Gesicht. Ich gebe ihm einen aufmunternden Klaps und sage: Na, das wird schon wieder.
Am Ende hat sich doch alles wieder eingerenkt. Wir sind zwar nicht im selben Trakt untergebracht, können aber trotzdem immer mal wieder ein paar Worte miteinander wechseln. Zum Beispiel wenn alle zusammen Volleyball spielen, jedesmal beim Seitenwechsel. Oder wenn wir in Gruppenarbeit etwas Basteln. Wir dürfen gemischte Gruppen bilden, die Pfleger sind überhaupt sehr nett.
Bei solchen Gelegenheiten sprechen wir vom Ausbrechen. Aber das tun alle und wir müssen beim Gedanken daran kichern.
Wir kommen nicht raus. Nie mehr. Wir sind die mit dem Dachschaden. Unsere Köpfe haben Löcher, durch die wir Sterne sehen können. Tagsüber. Wann immer wir wollen.