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Schwalbensommer

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07.09.2014
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Schwalbensommer

Zuerst schrie Nicole die Katze des Nachbarn an. Aber die fühlte sich gar nicht gemeint, so ungerührt, wie sie ihre Pfote leckte. Zu Recht. Denn nicht sie war es, die den Schwalbenküken auf dem Pflaster den Tod gebracht hatte. Überall verstreut lagen die Brocken des zerplatzten Nestes, dazwischen die kleinen Leiber. Hoch oben unter dem Dachüberstand klebten dunkle Ränder an der Fassade, dort wo wochenlang die Schwalbeneltern ein- und ausgeflogen waren. Auch jetzt umflatterten sie die Stelle, als gäbe es dort noch etwas zu tun. Sonst war es still im Garten.
Vielleicht war das Nest abgerissen, als sie ihren Mann beim Frühstücken beobachtet hatte. Oder eben erst, während sie gepackt hatte. Langsam setzte sie den Koffer ab.
Eines der Küken drehte den Kopf ein wenig, zuckte mit den Flügelansätzen. Und dann noch eins.
„Oh, nein“, murmelte Nicole. „Ihr habt doch gar keine Chance.“ Aber als die Katze aufstand, sich dehnte und auf den Weg machte, stürzte sie zu den beiden Überlebenden und nahm sie hoch. Ihr Gewicht war kaum spürbar, nur die winzigen Krallen kitzelten auf der Haut, als sie sich in ihre Handkuhle duckten, die Augen geschlossen, die grauweißen Federn wie Flusen. Nicole schien es, als könnte sie ihren Schock fühlen, die Betäubung nach dem Aufprall aus fünf Metern Höhe.

Mit dem Ellbogen drückte sie die Klinke der Hintertür auf und rief nach ihrem Mann. Aus seinem Büro kam keine Reaktion. Nachdem sie mehrfach gegen die Tür getreten hatte, riss er sie auf, Kopfhörer um den Hals geklemmt. Seine Augen lagen noch tiefer in den Höhlen als sonst.
„Was gibt’s? Bist du fertig mit Packen?“
Dann sah er, was sie in den Händen hielt.
„Aha. Die Katze.“
„Nein, das Nest ist abgestürzt. Da liegen noch drei tote Küken.“
„Ja und jetzt?“
Sie wollte wieder irgendwo gegentreten, schreien, aber das kleine Leben in ihren Händen vertrug keine weitere Erschütterung.
„Haben wir irgendeinen Karton? Die Eltern flattern da noch rum. Vielleicht füttern sie sie noch.“
„Jetzt hast du sie ja schon angefasst.“
„Ja, weil die Katze da rumläuft. Was hätte ich denn machen sollen?“
„Die Katze hätte das Problem gelöst.“
Jetzt schrie sie doch: „Dann geh halt wieder in deine Butze!“
„Gut.“ Er schloss die Tür.

In einen Erdbeerkarton legte sie Brocken des Nestes, damit es vertrauter wirkte. Dabei ekelte sie sich vor den Maden und kleinen, schwarzen Käfern, die sich im Lehm bewegten. Dann stellte sie den Karton nach draußen auf eine Fensterbank, unerreichbar für die Katze. Die Küken saßen eng aneinandergedrückt, vielleicht froren sie. Nicole stand zweifelnd davor, holte ein Handtuch, um sie abzudecken, nahm es wieder weg, damit die Vogeleltern ihre Küken finden könnten.
Wieder einmal dachte sie an Julian. Eigentlich war es nicht der heutige Julian, den sie vermisste, sondern der Schuljunge, für den das eine aufregende Sache gewesen wäre. Er wäre losgesaust, Fliegen fangen, hätte recherchiert und ihr ständig von seinen Ergebnissen berichtet. Aber Julian war jetzt schon ein halbes Jahr in Rostock. Sie machte ein Foto und schickte es ihm, mit der Unterschrift: “Rettungsaktion für abgestürzte Schwalbenbabys“.
Als sie den Küken nachmittags mit der Pinzette Fliegen hinhielt, sperrte das eine den gelben Schnabel auf und nahm die Fliege an. Das andere blieb verkrümmt sitzen, den Schnabel geschlossen, was ihm einen beleidigten Ausdruck gab. Der kleine Brustkorb hob und senkte sich hektisch. Von Zeit zu Zeit zuckten beide, schüttelten sich und schlugen mit den Flügeln. Nicole ersetzte die Lehmbrocken im Karton durch Küchenkrepp und brachte ihn ins Badezimmer. Abends lag ein Küken regungslos da. Über seine Augen hatten sich dünne Häutchen gezogen. In ihre Traurigkeit schob sich ein Gedanke: Wären doch bloß beide gleich mit dem Aufprall gestorben. Doch dann legte das zweite Küken den Kopf in den Nacken, sperrte den Schnabel auf und piepste um sein Leben.

„Nur fürs Protokoll: Erst willst du abhauen, weil du es unerträglich findest, dass ich einen gebrauchten Zahnstocher auf dem Tisch liegenlasse. Und jetzt bleibst du doch, weil du mich brauchst, um ein Schwalbenbaby zu retten.“ Thomas stand mit verschränkten Armen an der Spüle gelehnt.
„Ich bleibe, weil ich das Schwalbenbaby retten will. Was du dazu tust, bleibt dir überlassen.“
„Nimm es doch mit zu deiner Schwester.“
„Wo soll ich denn da bitte Fliegen fangen?“
„Was ist mit Regenwürmern? Körnern?“
„Fressen Schwalben nicht. Das muss was sein, was gerade noch geflogen ist.“
„Aha, und wie stellst du dir das morgen vor, wenn du Dienst hast?“
„Ich frage Nina. Ich sage ihr, dass du zwar da bist, aber dass du mit dem Küken nichts zu tun haben willst.“
„Du willst mich als Arschloch hinstellen.“
„Was soll ich denn machen?“
Wie er sich zusammenriss, durchatmete.
„Ruf doch im Tierheim an.“
„Hab ich schon.“
„Und?"
„Ich soll das Küken unter einen Busch setzen. Andere Tiereltern hätten auch Kinder.“
Er lachte auf.
„Wusste ich, dass dir das gefällt“, sagte sie.

Die Welt war fliegenfrei, morgens um sechs. Zum Verzweifeln fliegenfrei. Mit der Klatsche in der einen und einem Glas in der anderen Hand lief Nicole durch den Garten, suchte den Fenchel ab, die Kiwi, die sich über der Pergola wölbte.
Im Badezimmer piepste das Küken, seit Nicole aufs Klo gegangen war. Obwohl sie sich leise herangeschlichen hatte, hatte es sofort seinen Kopf unter dem Flügel hervorgezogen und losgelegt. Sein Betteln hatte sie dazu gebracht, in Nachtshirt und Shorts nach draußen zu stürzen, wo sich heute ein heißer Tag ankündigte. Im Gewächshaus, in dem in diesem Jahr nur ein paar Tomatenpflanzen vertrockneten, fing sie eine einzige Fliege. Zugleich hofften dort viele Spinnen in ihren Netzen auf Beute, genau wie die Schwalben hoch oben am Himmel, alle schienen zu warten und Nicole wartete heute mit ihnen.
Eine halbe Stunde später lag die weiße Hauswand in der Sonne und jetzt saßen sie da, schwarze, fette Brummer, benommen von der Nacht und noch viel zu träge, um sich zu retten, wenn die Klatsche auf sie niederging. Und sie, die schon manche Fliege behutsam durch das Fenster nach draußen geleitet hatte, zählte triumphierend die Leichen in ihrem Glas.

Thomas putzte sich die Zähne, während sie fütterte. Sobald sich die Pinzette mit der Fliege näherte, erhöhte das Küken die Piepsfrequenz, reckte den halbnackten Hals, schluckte zweimal und riss den Schnabel wieder auf.
„Das wäre was für Julian gewesen“, sagte sie.
„Hat der sich noch mal gemeldet?“
„Ich habe ihm ein Foto von dem Küken geschickt.“
„Und?“
„Daumen hoch und Smiley.“
„Aha.“
„Willst du nochmal gucken, wie das mit der Pinzette geht?“
„Nee, das kriege ich gerade noch hin.“

Leichter wurde es mit den Heimchen aus der Zoohandlung. Sie lebten in einer Plastikdose, wurden zwei Stunden tiefgefroren, dann schnitt Nicole die Beine ab, wegen der Widerhaken. Mittags, wenn die Sonne richtig knallte, war es Zeit für die grün glänzenden Mistfliegen. Thomas ließ die Hintertür offenstehen, trank in der Küche Kaffee, während sie einflogen, und erlegte sie, wenn sie sich vorne an der Fensterscheibe gefangen hatten. Das Küken schluckte alles und riss nach jedem Bissen den Schnabel wieder auf. Irgendwann würde es mehr verlangen. Flugstunden. Unterricht im Jagen. Das, was nur Schwalbeneltern bieten konnten. Über Google fand Nicole Frau Witte.

Kilometerweit zogen sich neben der Autobahn die Flächen mit den Solarpanelen hin. Dazwischen vertrocknete Felder. Während sich das Küken auf ihrem Schoß in Dauerschleife eingepiepst hatte, dozierte Thomas über effektiven Altruismus. „Was wir hier machen, ist genau das Gegenteil. Vier Stunden Autofahrt für einen Vogel. Die Kosten, den CO2-Ausstoß und unsere Zeit musst du da mal gegenrechnen. Und morgen frisst du wieder dein Hühnchen. Das kommt auch noch dazu.“
„Die Stunde ist rum“, sagte sie. “Hältst du mal beim nächsten Parkplatz?“
Sie hatten das Kunstnest im Karton als Reisebox zweckentfremdet, nachdem es seinen eigentlichen Sinn nicht erfüllt hatte, den Rückführungsversuch zu den Eltern. Obwohl das Küken den ganzen Tag aus Leibeskräften gepiepst hatte, waren sie, vier Tage nach dem Absturz des Nestes, nicht mehr erschienen. Stattdessen war Nicole stündlich zum Füttern auf die Leiter geklettert. Also Plan B. Frau Witte betrieb ihre Wildvogelauffangstation ein Stück hinter Hamburg. Die Autobahn vor ihnen flirrte in der Hitze. Nicole bestand darauf, die Klimaanlage nur minimal zu nutzen, damit das Küken keinen Zug bekam. Thomas widersprach nicht, obwohl die Haare in seinem Nacken klatschnass waren. Vielleicht war er auch nur erschöpft von dem, worüber sie schwiegen. Sie war erschöpft. In den letzten Tagen hatte sie den Kulturbeutel und ein paar T-Shirts wieder ausgepackt.
An der Raststätte fotografierte sie Thomas, wie er dem Küken eine Fliege hinhielt, erwischte den Moment, wo es den Schnabel weit aufgerissen hatte und ihn anzusehen schien. Als er schief in die Kamera lächelte, drückte sie nochmal auf den Auslöser.
„Hier sind wir schon mal gewesen“, sagte er, während sie die Fotos an Julian schickte. Unterschrift: Raubtierfütterung.
„Hm?“
„Hier an der Tankstelle waren wir schon mal, damals, als wir zu Westernhagen gefahren sind.“
„Westernhagen, das ist ja ewig her. Da kannten wir uns doch noch kaum. Und da haben wir auch hier gehalten? Dass du dich an die Tankstelle erinnerst.“
„Da vorne beim Eingang hast du gestanden und mit deiner Freundin gequatscht, mit dieser … - na egal, wie die hieß. Du hast gesagt: Der Typ sieht aus wie ein Schwein, aber ich krieg' nen nassen Schlüpfer, wenn ich mich dahin setze, wo der gesessen hat.“
„Was?!“
„Ja, das hast du damals über mich gesagt. Zu der – wie hieß die noch?“
„Das muss Gabi gewesen sein. Hat die das gleich weitergeplappert, oder was?“
„Nö, ich stand auf der anderen Seite vom Regal. Ich hab's gehört.“
„Und da bist du heute noch gekränkt.“
„Na, wie man's nimmt, der zweite Teil von dem Satz war ja in Ordnung.“
Sie prustete los.
„Keine Ahnung, ob ich das echt gesagt habe. Bist du sicher? Hast du mir nie erzählt.“
„Nee?“
„Außerdem lag ich ja mit dem Schwein gar nicht so falsch. Wenn man bedenkt, wie du dich dann verhalten hast.“ Sie schob einen Lacher hinterher, aber zu spät.
„Nicht schon wieder.“ Er gab ihr den Karton mit dem Küken rüber und ließ den Motor an.
„Was soll das denn heißen, „nicht schon wieder“? Wann habe ich denn das letzte Mal davon geredet? Vor zehn Jahren vielleicht.“
„Ich bin zurückgekommen.“ Er setzte zurück.
„Ja, aber da konnte Julian schon ganze Sätze reden.“
„Ich bin wiedergekommen. Ich bin geblieben. Ich bin mit zu deinem Therapeuten gegangen.“
„Zweimal, dann nicht mehr.“
„Das war öfter.“
„Nein.“
„Doch, und es hat nichts gebracht.“ Er trat aufs Gaspedal.
„Dir hat es nichts gebracht.“
„Das ist verdammt lang her. Ich war damals einfach nicht so weit. “
„Ich auch nicht. Und ich konnte mich nicht verpissen. Jetzt ras doch nicht so.“
„Ich will heute nochmal irgendwann ankommen.“
„Du hast dir noch ne wilde Jugend gemacht, schön Interrail in Griechenland, deine tolle WG mit deinen Mädels, und ich saß da und hatte Angst, dass Julian den Keuchhusten nicht überlebt.“
„Das hatten wir alles schon mal.“
„Oh, sorry, sorry, dass ich dich langweile!“
Sie biss die Zähne zusammen und sah aus dem Fenster. Das Küken piepste und sie dachte, dass sie zu wenig Fliegen mitgenommen hatten. Dann hörte sie ein zweites Geräusch. Von Thomas. Er pfiff ein leises, nervöses Lied.
„Alles klar?“, schnappte sie. „Soll ich dich ablösen mit dem Fahren?“
„Alles klar“, sagte er. Die Autobahn wurde voller und er wechselte mehrmals die Spur. Ihr Kleid klebte am Körper. Das Licht tat weh in den Augen, sodass sie die Sonnenbrille aufsetzte.
„Weißt du was?“, sagte er schließlich.
„Was?“
„Manche Dinge sind einfach kaputt. Da lässt sich nichts mehr machen. Da kann man sich abstrampeln, wie man will.“
„Du hast dich abgestrampelt?“
„Ja.“

Kurz nachdem sie die Autobahn verlassen hatten, machte das Navi schlapp. Zuerst funktionierte es noch sporadisch, aber irgendwann erschien nur noch die Anzeige „Suche GPS-Signal“. Das Kartenmaterial im Seitenfach war veraltet. Nicole fragte, was mit dem Navi los sei. Thomas erklärte was mit Linux, dass das mit dem Update nicht funktioniert hatte, aber sie hörte nicht richtig hin und er brach ab. „Wieso fragst du dann überhaupt?“ Das Küken bekam die letzte Fliege. Sie zog den Deckel des Kartons etwas tiefer, damit es schlief und seine Energien sparte, aber es piepste unter dem Deckel weiter. Julian schickte wieder einen Daumenhoch-Smiley. Sie fuhren umher, sie schwitzten, fragten an zwei Tankstellen, schienen sich in Spiralen dem Zielort zu nähern. Die Dörfer, durch die sie fuhren, wurden immer leerer, wirkten unecht in der grellen Sonne. Ein Junge, der an einer Bushaltestelle saß, aktivierte sein Smartphone und hielt es ihnen vor die Nase, aber sobald sie weiterfuhren, hatten sie schon wieder die Hälfte vergessen. Als Nicole sich gerade fragte, ob sie bis zum Ende ihres Lebens mit ihrem Mann und einem verhungernden Küken im Kreis herumfahren würde, fanden sie das Ortsschild, das sie suchten. Eine alte Frau erklärte umständlich den Weg aus dem Dorf hinaus zu dem Hof. Sie stritten sich von Kreuzung zu Kreuzung, zuletzt darüber, ob der schmale Weg rechts als Straße zählte. Schließlich bogen sie dort ein, doch der Weg verengte sich immer weiter und endete auf einem Acker, zwischen Korn und Knick. Thomas legte schwer atmend seinen Kopf auf die Nackenstütze.
„Das Küken klingt leiser“, sagte sie, „irgendwie entkräftet.“
Er stöhnte auf: „Ich hör das auch, ich bin nicht taub.“
Das Navi mischte sich ein: „Sie haben ihr Ziel erreicht.“

Als sie ausstiegen, sahen sie es, ein Stück weiter, hinter Bäumen: ein rotes Hausdach.
„So“, sagte er, „wir nehmen jetzt den Vogel und gehen zu Fuß. Liefern ihn ab und kümmern uns dann um das Auto.“
„Sollten wir nicht lieber ...“
„Ich will das jetzt abliefern und gut. Schließ den Wagen ab.“
Er nahm den Karton und lief los.
„Warte.“ Sie riss ihre Tasche mit dem Portemonnaie vom Rücksitz. „Warte!“, rief sie ihm nach, aber er drehte sich nicht um, stapfte unbeirrt weiter in den Wald. Stolperte und fiel hin. Sie schrie auf.
„Bleib da!“, rief er. “Es ist hier irgendwo, nicht dass du drauftrittst. Es ist ein Stück weggeflattert.“
„Siehst du es denn?“
„Nein, im Moment noch nicht.“
„Toll, ganz toll!“, brüllte sie. „Aber du musstest ja losrennen!“
„Halt die Klappe!“
„Wo willst du das denn hier im Gestrüpp finden? Jetzt haben wir es versaut. Das war's. Jetzt kann es hier verhungern oder gefressen werden!“
„Sei still, verdammt nochmal, sei endlich still!“
Sie hielt inne, sah ihm zu, wie er sich mühsam aufrichtete, das Gesicht verzog. Seine Hose war dreckig am Knie.
„Bist du verletzt?“
„Nein. Psst.“ Er hob die Hand. Es knackte leise im Wald. Sie lauschten, versuchten auf dem Waldboden etwas zu erkennen. Übelkeit stieg in ihr auf. Dieses Küken hatte so um sein Überleben gekämpft. Thomas zog ein Taschentuch heraus und wischte den Schweiß von der Stirn.
„Okay“, sagte er, “wir suchen jetzt hier jeden Quadratzentimeter ab. Am besten durchkämmen wir die Stelle von dem Baum da aus. Weiter kann es nicht gekommen sein.“
„Durchkämmen“, sagte sie.
„Ja, durchkämmen.“
Vorsichtig setzten sie einen Schritt vor den anderen, schoben Farn und Blätter zur Seite. Sie fragte sich, ob sie es überhaupt spüren würde, das Küken unter ihrem Schuh, hockte sich hin, watschelte so weiter, bis ihre Oberschenkelmuskeln brannten. Thomas ging gebückt.
„Es ist bestimmt schon tot“, sagte sie.
„Da ist es doch!“ Er lachte.
Es saß, perfekt getarnt, in einem Blätterhaufen. Als Nicole es auf die Hand nahm, wickelte es seine Kralle um ihren Finger, guckte und piepste leise.
„Es lebt!“ Sie richtete sich lächelnd auf. Thomas machte eine Bewegung, als wolle er seine Hände um ihre legen. Dann hielt er inne und wandte sich ab.
„Ich hole den Karton.“

Sie näherten sich dem Gebäude von hinten, wie Diebe. Und genauso sahen es offenbar auch die beiden Hofhunde, die ihnen bellend entgegensprangen. Bis eine Stimme sie stoppte.
„Rico, Hermann! Aus! Hierher!“
Eine große Frau mit braunen Locken hielt ein Handy in der Hand und winkte mit der anderen.
„Kommen Sie ruhig, ich sperr die beiden ein. Einen Moment, ich telefoniere gerade noch.“
Sie schob die Hunde hinter den Zaun, schloss das Tor und zeigte auf eine Bank, neben einer großen Voliere, während sie ziemlich genau dasselbe Telefonat führte wie mit Nicole einige Tage vorher: „Nein, auf keinen Fall extra Wasser, die Fliegen reichen völlig aus ... Es läuft rückwärts, weil es versucht den Kot abzusetzen … Ja, sie hängen das Hinterteil normalerweise über die Nestkante ... Wie lange ist das her? … Dann würde sich ein Rückführungsversuch zu den Eltern lohnen … Doch, nach zwei Tagen klappt das meistens noch … Wo kommen Sie denn her?“
Sie saßen nebeneinander und warteten. Das Küken war still und Nicole hatte Angst, es würde doch noch sterben, nur weil diese Frau so lange telefonierte.

In der Mitte der Scheune stand, wie eine Insel, eine alte Couchgarnitur. Nester klebten unter den Balken und Schwalben flogen umher. In der Ecke eine schmale Tür. Frau Witte lief lachend und redend voraus.
„Wundern Sie sich nicht über das Chaos in meiner Küche. Das war heute der zwanzigste Anruf. Ich komme zu nichts anderem.“
Hinter der Küche, in einem weiteren Raum, standen lauter kleine gestrickte Höhlen auf einem Tisch. Als Nicole das Küken überreichte, fing es leise an zu piepsen und sie dachte an den Tag, als sie Julian zum ersten Mal in die Krippe gebracht hatte. Sie hoffte so sehr, dass die Frau lächelte, dass sie sah, wie besonders dieses Küken war.
Die Brille auf die Nasenspitze geschoben, sodass sie darüber hinwegschauen konnte, leuchtete Frau Witte mit einer kleinen Lampe unter die Flügel, betastete das Küken ausführlich, untersuchte den Hals und nickte.
„Da haben wir also eine kleine Mehlschwalbe. Das passt wunderbar. Ich werde sie zu meinem anderen Neuzugang setzen, der wird sich freuen. Eine Schwalbe zum Ankuscheln ist doch viel schöner als eine Wärmelampe.“
„Meinen Sie, sie hat eine Chance?“
„Aber sicher. Sie wirkt zwar etwas schlapp, ist aber unversehrt.“
Hinter ihr atmete Thomas aus.

In der Küche überbrühte Frau Witte tiefgefrorene Heimchenleiber mit kochendem Wasser und gab sie in ein Sieb zum Abtropfen. Thomas hatte sein Bein hochgelegt und trug wenig zum Gespräch bei, aber Nicole hatte das Bedürfnis, alles noch einmal genau zu erzählen.
„Das ist noch nie passiert. Wir haben da seit Jahren Schwalben an der Stelle. Aber es war wochenlang so heiß, wahrscheinlich ist der Lehm irgendwie ausgetrocknet und dann ist es abgerissen.“
Frau Witte schüttelte den Kopf.
„Es liegt meistens an Parasiten. Es gibt weniger Insekten, deshalb können die Eltern nicht mehr in der dichten Frequenz füttern wie früher. Eigentlich wäre das nicht so schlimm, nur brauchen die Jungen länger, um sich zu entwickeln. Die Sommer werden wärmer. Und wenn dann ein paar heiße Tage kommen, dann vermehren sich die Parasiten, die immer im Nest sind, explosionsartig und fressen die Küken bei lebendigem Leibe auf. Oft stürzen die sich sogar in Panik aus dem Nest. Und in Ihrem Fall haben sie wohl so herumgezappelt, dass das Nest abgerissen ist.“
Nicole erinnert sich an das Gewimmel in den Lehmbrocken. „Heißt das, das passiert jetzt öfter?“
Frau Witte nickte.
„Ich habe immer Bauwannen mit Stroh unter meinen Nestern stehen. Wenn das erste Küken rausstürzt, fällt es ins Stroh und ich kann sofort reagieren.“
Auf der Fensterbank regte sich etwas. Direkt neben der Spüle, auf der sich das Geschirr türmte, trippelte ein Vogel, dessen lange Beine im rechten Winkel zur Seite abgeknickt waren. Frau Witte lächelte.
„Eine Bachstelze. Eigentlich ist sie schon eine alte Oma, aber im vorigen Jahr ist sie gerne noch draußen ihre Runden geflogen.“
„Sie leben richtig mit den Vögeln zusammen.“
„Bis letzte Woche hatte ich hier in der Küche sogar eine Rabenkrähe, die musste vier Wochen lang eine Schiene am Bein tragen. Da musste ich mir echt was einfallen lassen, das sind so hochintelligente Vögel, die kriegen Depressionen, wenn sie sich langweilen. Am Ende habe ich ihr sogar Xylophonspielen beigebracht, mit dem Klöppel im Schnabel.“
„Nein, echt? Und jetzt?“
„Ist sie wieder ausgewildert.“
Thomas lachte. „Was für ein Aufriss. Ehrlich, wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir das Ganze dem Lauf der Natur überlassen.“ Er sah Nicoles Blick. „Ist so.“
Frau Witte füllte die Heimchenrümpfe in eine Schüssel um.
„Wenn man nicht die Zeit hat, das durchzuziehen, ist das auch die bessere Lösung. Das ist viel Aufwand das stündliche Füttern, sich informieren, das kann nicht jeder. Wenn man es falsch macht, verlängert man nur unnötig das Leiden. So, nun wollen wir den kleinen Kerl mal stärken.“
Nicole lief hinter ihr her.
„Im Grunde war es Zufall, dass wir uns kümmern konnten. Unser Sohn wollte für ein paar Tage kommen. Wir hatten uns die Zeit extra freigeschaufelt. Und dann hat er kurz vorher abgesagt, weil er für seine Klausuren lernen muss. “
„Oder was man auf Erstsemesterpartys so lernt“, rief Thomas aus der Küche, worauf Nicole gezwungen lachte.
Frau Witte griff die Heimchen mit der Pinzette, schaute über ihren Brillenrand und bediente abwechselnd die beiden aufgesperrten Schnäbel.
„Na, die zwei scheinen sich ja gut zu verstehen“, murmelte sie.
„Frisst es?“, rief Thomas.
„Kann man wohl sagen.“
„Na super, dann haben wir den heißesten Tag des Jahres wenigstens nicht umsonst auf der Autobahn verbracht.“
„Jetzt komm doch mal gucken. Das ist so süß“, sagte Nicole.
„Ich glaube es auch so.“ Er trank einen Schluck Wasser.
„Soll ich Sie gleich nochmal herumführen?“, fragte Frau Witte.
Nicole sah Thomas in der Küche abwehrend fuchteln.
„Ja, gerne“, sagte sie.

Der Geruch von fünf verschiedenen Fliegenzuchten vermischte sich mit dem Duft aufgeschnittener Apfelsinen im Vorzimmer des Überwinterungszimmers. Im Päppelraum war der Boden mit einem dichten Teppich von einer nichtfliegenden Fliegensorte bedeckt, für vorübergehend flugunfähige Vögel, die dort umherhüpften. Sie hörten Geschichten von neurologischen Störungen bei Meisenküken durch Insektizide, von abgerissenen Schwalbennestern bei Bauvorhaben und von Glasfronten an prämierter Architektur, die zur tödlichen Falle wurden.
Schließlich gelangten sie zu einer großen Voliere voller Ziervögel. „Eigentlich nehme ich nur Wildvögel auf, aber das war eine Notaufnahme. Die waren in einem erbärmlichen Zustand und wurden beschlagnahmt.“ Sobald sie die Voliere betraten, klebte ein Wellensittich auf Nicoles Fuß, ließ sich eine Weile mitnehmen, flog dann auf ihre Schulter und schmiegte sich an ihren Hals. „Auch aus einem Tierheim. Ich habe ihn Pepe genannt. Der arme Kerl ist fehlgeprägt auf Menschen, der ist so penetrant, in jedem normalen Haushalt würden sie ihn nach einem halben Tag an die Wand schmeißen.“ Pepe flatterte weiter und hängte sich vorne an das rechte Glas von Thomas Sonnenbrille. „Passen sie beim Rausgehen auf, dass er nicht durch die Schleuse mitkommt. So einen Leckerbissen würden sich die Krähen nicht entgehen lassen.“ Sie wandte sich dem Ausgang zu. Nicole sah ihren Mann an, der mit unbewegtem Gesicht dastand, während der Vogel zärtlich an seiner Augenbraue knabberte.

 

Hallo @Vulkangestein,

wie schön, dass dir die Geschichte trotz ihrer Länge gefallen hat.

Da hab ich gesehen, dass das gar nicht sooo kurz ist - beim Lesen hat sich der Eindruck aber relativiert, ich bin in einem Guss hindurch und konnte die Geschichte und die Details rund um die verschiedensten Vögel genießen. Das hat einfach Spaß gemacht, wenn ich das mal so sagen darf :shy:
"genießen" und "Spaß gemacht" klingt sehr gut!


Am Ende hätte ich mir vielleicht auch etwas mehr Knall zwischen den beiden vorstellen können, hin zu einer Entscheidung für oder gegeneinander. Aber irgendwie ist diese Schlussszene auch super, so what. :lol:
Ja, so eine richtig endgültige Lösung sehe ich da einfach nicht in der Konstellation. Jedenfalls noch nicht. Und ich mag offene Enden, die einen kleinen Dreh in eine bestimmt Richtung haben.


Die Figur des Ehemanns ist auch sehr gegenspielerlastig, das wirkte auf mich manchmal nur aus Prinzip dagegen (was sicherlich auch zu einer verfahrenen Ehe passt). Es sind dann die kleinen Details und (halb-)ungesagten Dinge (er müsste ja nicht mitfahren), die ihn doch zu einem Menschen machen. Das hebt zwar die für mich etwas zu krasse Dichotomie nicht gänzlich auf, schafft aber Glaubwürdigkeit.
Interessanter Punkt. Da werde ich mal bei zukünftigen Texten drauf achten, dass die Figuren nicht zu schablonenhaft werden. Und diesen hier gucke ich mir auch nochmal unter dem Gesichtspunkt an. Danke!


„Aha, und wie stellst du dir das morgen vor, wenn du Dienst hast?“
-> Ich war zu dem Zeitpunkt davon ausgegangen, dass sie frei hat, weil sie verreisen wollte. Das relativiert sich erst später, als der Eindruck entsteht, dass sie mehr oder weniger plötzlich aufbrechen wollte (auch wenn sich die Frage dann auch nicht "neu" stellen würde).
Das stimmt, das klärt sich eigentlich sogar erst fast am Ende, wenn Nicole der Vogelfrau von Julians geplantem Besuch erzählt. Da werde ich nochmal drüber nachdenken.


> Finde ich sehr toll gemacht, wie dieses Paradoxon des Lebens und Essens und des Altruismus aufgegriffen wird.
Danke. :)

Über Google fand Nicole, was sie brauchte. Sie fand Frau Witte.
-> Beim Lesen kam mir dieser Satz sehr dramatisch vor. À la: Sie wusste zu wem sie gehen musste. Zu Sherlockes Holmes / Zu Bond. James Bond / Zu ...
Weiß nicht, ob ich das mit dem Beispiel vermitteln konnte, aber die Konstruktion mit der Pause in der Mitte (durch den Punkt) wirkt so schicksalstragend, da wäre für mich: "Über Google fand Nicole Frau Witte." weniger auftragend.
Guter Punkt. :lol: Da bin ich deinem Vorschlag gefolgt und finde es viel besser so. Danke!

Danke für diesen beflügelten Text (Wortspiel musste).

Und dir herzlichen Dank für deinen tollen Kommentar, lieber Vulkangestein!

Liebe Grüße und ein gutes neues Jahr von Chutney


Hallo @zigga,

Gerade wollte ich mich entspannt zurücklehnen, da hat mich dein Kommentar wieder vorne auf die Stuhlkante gerissen. Ich bin total beeindruckt wieviele Gedanken du dir zu meinem Text gemacht hast und es waren wirklich wertvolle Aspekte dabei. Du würdest soviel streichen! Ich merke, dass ich mir viele von deinen Streichungen/Änderungen vorstellen kann, aber überhaupt nicht mehr weiß, ob ich es dann besser finde, oder ob es sich nur frischer anfühlt. Ich werde dir auf jeden Fall noch ausführlich antworten, es kann aber noch etwas dauern. Erst einmal herzlichen Dank und ein gutes neues Jahr,
von Chutney

 

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