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Schutzengel!

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10.10.2006
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Schutzengel!

Während draußen die Straßenzüge Leipzigs an ihm vorbeikrochen, als hätten sie etwas zu verbergen, drückte sich Frank in die Umarmung eines Straßenbahnsitzes, aß Nic-Nacs aus der Tüte und versuchte seine Mutter zu ignorieren, die vier Monate nach ihrem Tod besser aussah als je zuvor.
„Ich weiß wirklich nicht-“
„Womit ich das verdient habe“, half Frank aus.
„Wie du dich davon ernähren kannst.“
Frank warf sich eine Handvoll Nüsschen in den Rachen.
„Ich verstehe immer noch nicht, wie du eigentlich deinen Lebensunterhalt bestreitest.“
„Kaum zu glauben, wo du doch vierundzwanzig Stunden am Tag über mir rumgluckst.“
„Als hätte ich mir das ausgesucht“, sagte seine Mutter, tätschelte aber freundlich seinen Oberschenkel.
„Lass das“, zischte Frank und sah in ihre Richtung. Verdammt, seine Mutter sah aus wie vierundzwanzig. Fünfundzwanzig höchstens. Kupferrotes Haar, mildfrische Augen und unter dem kuschelblauen Wollpullover zeichneten sich zwei – Nein!
„Wenn du nur offener für meine Pokeridee wärst, könnte ich mir auch mal wieder eine richtige Mahlzeit leisten.“
In seiner Phantasie sah sich Frank oft mit Sonnenbrille und Hut an einem Glastisch sitzen, während seine Mutter durch den Raum schlich und kiebitzte, um ihm die Blätter seiner Mitspieler zu verraten.
„Glücksspiel“, sagte seine Mutter, verschränkte die Arme unter den Brüsten und machte ein langgezogenes Zischgeräusch.
Nach einer Weile des Schweigens, in der Frank die restlichen Nacs verputzte, fing sie natürlich wieder an: „Können wir nach Hause, meine Serie fängt bald an?“
„Ich hasse es, dir das zu sagen, aber die haben die Schwarzwaldklinik vor zwanzig Jahren abgesetzt.“
„Ich mein doch nicht die, ich mein die mit den netten Ärztinnen, die alle so verrückt sind, und dieser Asiatin. Also“, seine Mutter schubste ihm in die Seite, „die wäre doch etwas für dich. Die würde dich auf Vordermann kriegen.“
„Das ist keine Serie, das ist Volksverhetzung“, quetschte Frank zwischen seinen Zähnen heraus. „Und wenn ich noch einmal sehen muss, wie da irgendwer irgendwen-“
„Ist da noch frei?“
Frank sah auf, seine Mutter auch.
„Untersteh dich!“, zischte sie.
„Ja, natürlich“, sagte Frank und lächelte, als sich eine junge Frau auf seine Mutter setzte, und ihm über einem blauen Eastpak-Rucksack ein Händchen entgegenstreckte – ohne Ring, wie Frank bemerkte – und sagte: „Katja. Reden Sie häufig mit sich selbst?“
Seine Mutter hatte sich währenddessen von ihrem Platz und aus Katja erhoben und stand nun wie ein Racheengel über ihnen, hielt sich dabei mit einer Hand an einer Stange fest und schwankte übertrieben nach links und rechts, wenn die S-Bahn auch nur über einen Huppel fuhr.
„Ich red nicht mit mir selbst“, sagte Frank. „Nur mit meiner toten Mutter.“
„Dann können Sie tote Menschen sehen?“, fragte Katja, lächelte dabei und zeigte unheimlich viel Zahn.
„Nee, nur meine Mutter. Mein Arzt sagt, das sei ein moralisches Korrektiv.“
„Pah“, schnaubte seine Mutter. „Du erinnerst mich an deinen Vater, wenn du so lügst.“
„So eine Art Geist der Weihnacht wie bei Dickens?“
„Schutzengel!“, schnarrte jemand.
„Belassen wir es doch bei moralischem Korrektiv. Und welche Art von Verrücktheit bringt Sie dazu, sich neben fremde Männer zu setzen, die mit sich selbst sprechen?“
„Oh“, sagte Katja und strich zärtlich über ihren Rucksack. „Das ist beruflich, ich arbeite in der Psychiatrie. Wollen wir mal einen Kaffee trinken?“

Acht Wochen später

„Das ist doch verrückt. Du kennst sie wie lange? Zwei Wochen?“
„Zehn“, zischte Frank und drückte auf den Knopf des Aufzugs.
„Ich kannte deinen Vater vier Jahre, bevor wir wussten, dass es etwas Ernstes ist, und du fragst sie nach zwei Wochen, ob sie mit dir zusammenzieht.“
„Zehn!“
„Und dann wunderst du dich, warum sie nicht mehr anruft.“
„Da ist was passiert, ich kann das fühlen.“
„Wieso? Benutzt du das Ding als Wünschelrute?“, fragte seine Mutter und zeigte mit dem kleinen Finger in Richtung von Franks Hose. Sie war in den letzten Wochen garstig geworden, also noch garstiger, vor allem seit Frank angefangen hatte, mit Katja zu schlafen.
Der Aufzug kam mit einem Ruck zum Stehen; Frank zog den Reißverschluss seines Pullovers bis nach oben, weil er fand, er müsse nun irgendein Signal setzen, und stieg festen Schrittes aus dem Aufzug. Seine Mutter tippelte hinter ihm her.
„Frank“, sagte Frank zum Erstbesten, der ihm in dem weiß getünchten Korridor über den Weg lief, streckte eine Hand aus und ergänzte nach einer Händeschüttelpause: „Der neue Pfleger.“
Der andere war ein bartloser Fleischberg mit blankem Schädel. „Gregor“, sagte er. Und: „Der alte Pfleger“, was er so witzig fand, dass er lächelte.
Seine Mutter schnüffelte hinter ihm, laut hörbar. „Hier riecht es. Ich fühle mich nicht wohl. Wir sollten gehen. Ich glaube, hier passiert nichts Gutes.“
Frank wedelte mit einer Hand hinter seinem Rücken, während er die andere erhob und drauflos plapperte.
„Ja, ich muss jetzt auch weg. Du hast wohl die Friedhofsschicht erwischt“, sagte der Fleischberg, als Frank eine Pause machte. „Na ja, es gibt hier nicht viel zu beachten. Nur nicht die Nudel in den Salat stecken.“ Er lachte, sein Kinn lachte mit. „Oder wenigstens, nicht dabei erwischen lassen.“
„Nudel in den Salat?“, fragte Franks Mutter.
„Ja, ja. Schon klar. Jahrelange Berufserfahrung in Bingen“, plapperte Frank. „Noch irgendwas Besonderes?“
Der Koloss hatte sich an Frank vorbei in den Aufzug gezwängt und rief noch: „Passen Sie auf den Alten auf, der ist gruselig.“
„Hat er wirklich gruselig gesagt?“, fragte seine Mutter.
Frank wollte den Reißverschluss seines Pullovers noch weiter nach oben ziehen, doch das ging nicht, also drehte er sich um und ging auf eine Insassin zu, die in einem Rollstuhl im Gang saß. Er fasste ihr an den bohnenstangengleichen Oberarm – ihr Klinikhemd war mit blauen Blümchen bestickt und fühlte sich an wie ein Leichentuch – und sagte, weil er das so für richtig hielt: „Na, wo gehören wir denn hin? Kennen wir denn eine Katja?“
Die Frau sah ihn mit Kuhaugen an, etwas Sabber tropfte aus ihrem Mundwinkel.
„Ah, Nudelsalat! Jetzt versteh ich das“, sagte jemand hinter ihm.

„Kannst du nicht irgendwelche Geisterkräfte benutzen, um rauszufinden, wo sie ist?“
Seine Mutter lächelte, wie man ein kleines Kind anlächelt, das danach gefragt hat, ob der Mond aus Käse sei, zog eine Augenbraue hoch und sagte: „Ich kann meinen gesunden Menschenverstand benutzen und dir sagen, dass sie dich nicht sehen will.“
„Vielen Dank.“ Frank ging weiter über den Linoleumgang. Er schien gar kein Ende zu nehmen, links und rechts waren Türen, vor ihm immer weiter nur Gang und an der Decke bei jedem zwölften Schritt ein Neonlicht.
Frank rüttelte von Zeit zu Zeit an einer der Türen, jede verschlossen, und als er sich schließlich entschied, an einer Tür stehen zu bleiben, an der Klinke zu rütteln und zu ziehen und dagegen zu klopfen und laut zu fragen, ob denn da jemand drin sei, sagte jemand: „Meine Grabesquellen sagen mir: Schau im Aufenthaltsraum nach.“ Und zeigte mit dem kleinen Finger auf eine Tür den Gang runter, neben der mit goldener Schrift auf schwarzem Grund „Aufenthaltsraum“ stand.
Frank zog seinen Reißverschluss etwas nach unten, um ihn dann viel energischer nach oben zu ziehen.

„Der Mann hatte Recht, das ist gruselig. Wie lang ist der Korridor denn? Das müssen doch mindestens achthundert Meter gewesen sein.“
„Ja, weil dein räumliches Vorstellungsvermögen ja immer legendär war, Mama. Wie war das? Rückwärts einparken.“
„Es hatte geschneit!“
Frank öffnete die Tür zu einem miefigen Räumchen mit Kaffeemaschine, Kühlschrank, Obervitrine, Mikrowelle, Fernseher und einem gammeligen Rätselheftchen.
„Oh“, sagte seine Mutter und beugte sich sofort über das Heftchen.
Frank wendete sich ab, weil der Hintern seiner Mutter die Jeans spannte, und sah in den Kühlschrank: Vielleicht konnte er sich einen Burito warm machen, das war das mexikanische Gegenstück zu Nic-Nacs.
„Verbrennungsrückstand mit vier Buchstaben“, murmelte jemand, während Frank in den leeren Kühlschrank starrte.
„Russ“, sagte Frank.
Und hinter ihm: „Angenehm. Vincent.“
„Mariaundjosef, den hab ich nicht kommen hören“, sagte seine Mutter. Hinter Frank war ein zahnlos lächelnder Greis in einem Rollstuhl aufgetaucht, sein Mund war mit Blut beschmiert.

Seine Mutter hatte sich hinter dem Mann aufgebaut und roch an dessen Haupt, das nur von einem schlohweißen Haarkranz geziert wurde.
Frank schüttelte den Kopf und sagte: „Hallo, wie geht es uns denn heute? Haben wir denn Zutritt zu diesem Aufenthaltsraum und was haben wir denn mit unserem Mund da gemacht? Haben wir versucht, unsere Zunge zu verschlucken?“
Der Greis lachte meckernd. Die Mikrowellentür schlug auf und zu. Franks Mutter schreckte von dem Alten zurück.
„Katja hat mir von Ihnen erzählt“, sagte der Greis und fasste mit Spindelfingern nach den Rädern seines Rollstuhls.
„Sie kannten – kennen Katja?“, korrigierte Frank.
„Ja, ja“, sagte der Alte, sein Kopf wippte mit jedem Wort, als habe er kein Rückgrat. „Oft, oft. Ein so liebes Mädchen. Hat mir oft von Ihnen erzählt. Hab ihr gesagt, es ist nicht gut hier. Er kommt nachts. Wissen Sie. Nachts kommt er.“
„Wer?“, fragten Frank und seine Mutter im Chor.
„Oh, er“, der Kopf wippte wieder. „Er kommt schon bald, hehe. Er ist groß, wissen Sie. Groß ist er.“
„Und er hat Katja?“
„Ja ja, he he. Oh“, der Alte führte eine Hand zum Ohr und formte einen Trichter.
Das Rätselheft hüpfte auf und ab, auch der Kühlschrank wippte hoch und runter. Seine Mutter drehte den Kopf hinter sich.
„Sie sollten jetzt wirklich gehen“, riet Vincent. Doch da hatte Frank seine Mutter schon am Handgelenk gepackt und war wieder draußen auf dem Flur. Fast meinte er den Alten noch flüstern zu hören, als die Tür ins Schloss fiel. Doch das konnte nicht sein. Der Greis konnte unmöglich gesagt haben: „Sie sehen einfach fabelhaft aus, Mademoiselle.“

Auf dem Korridor wippte das Linoleum mit und da wo eben noch weißer Horizont gewesen war mit Neonlampen alle zwölf Schritte, so weit das Auge reichte, ragte nun eine schwarze Masse vor ihm auf, vielleicht zehn, elf Lampen entfernt.
„In drei Teufels Namen“, sagte Frank.
„Was ist das?“, fragte seine Mutter.
Dann rollte das Dunkel auf sie zu, eine Lampe ging aus, die Erschütterungen auf dem Boden wurden stärker. Die nächste Lampe zersprang unter Getöse.
„Lauf!“, schrie Frank, wirbelte herum und rannte aus Leibeskräften.

Die Lunge brannte, die Muskeln in seinen Waden schmerzten, seine Mutter war wie ein Schemen an seiner Seite und feuerte ihn an: „Los, jetzt. Komm. Es kann nicht mehr weit sein“, doch vor ihm war nur ein weißes Nichts. Ein Korridor.
Schweiß hatte Franks Brauen durchweicht und tropfte nun salzig in seine Augen.
Der Boden bebte.
„Okay, okay, okay“, Frank hielt an, drückte seine Hände auf die Knie und röchelte. „Das ist doch Wahnsinn“, er drehte den Kopf in Richtung des Schwarz. „Da ist nichts, da passiert gar nichts.“
Er kauerte sich an eine der weichen Wände und atmete schwer, seine Mutter drückte ihm die Hand.
„Du weißt, dass ich dich liebe, oder?“, fragte sie.
Doch Frank hatte den Kopf in Richtung des schwarzen Nichts gedreht, die Augen zu Schlitzen verengt, lugte in die riesige, stapfende, verschlingende Dunkelheit und ballte die Hände zu Fäusten.
„Okay, eine Waffe“, sagte Frank. „Das ist immer der Fehler von den Typen in den Filmen. Die haben nie eine Waffe“, seine Fäuste öffneten und schlossen sich wieder.
Er meinte nun Schemen in dem Dunkel zu erkennen, einen Koloss, noch viel größer als der Fleischberg vom Aufzug, so groß, dass er bis an die Decke reichte, und fast von Wand zu Wand. Frank versuchte richtig zu atmen. Durch die Nase ein, durch den Mund aus. Es war mehr ein Hecheln.
Der Moloch war schon zu nahe, viel zu nahe. Und wegrennen konnte er nicht mehr. Vielleicht - wenn er sich einfach nur fest genug an die Wand presste, so als wäre er in einem Tunnel und ein ICE raste auf ihn zu?
„Schnell da oben!“, rief seine Mutter und zeigte auf eine Luke an der Decke.
„Das ist viel zu hoch“, protestierte er, stieß sich aber von der Wand ab – der Boden bebte immer stärker - und versuchte sich fest genug vom Linoleum abzudrücken, um nach oben zu gelangen. Der Boden gab unter seinen Füßen nach, so dass er meinte, aus nassem Sand zu springen.
„Mach was!“, schrie er, während er sprang.
„Ich bin nur ein moralisches Korrektiv!“, schrie seine Mutter zurück.
„Nein“, Frank sprang, „Schutzengel!“, schrie er. „Schutzengel!“
Er hörte, wie seine Mutter Luft in ihre toten Lungen sog und starrte auf den Koloss, der auf ihn zusteuerte. Menschenähnlich, dachte Frank. Wenigstens ist es menschenähnlich. Er war nackt, dicke Muskelstränge zeichneten sich unter seiner glänzend-schwarzen Haut ab, sein Gesicht war eine glatte Oberfläche, keine Nase, keine Augen, keine Ohren, kein Mund, nichts, er schien nur aus gewaltigen Armen und Beinen zu bestehen und einem muskelbepackten Torso.
Eine der Pranken des Molochs spannte sich zu einer Faust von der Größe eines Kleinwagens. Und Frank sprang erneut nach oben, vierzig, fünfzig Zentimeter fehlten, und er musste ja auch noch die Klappe da aufbekommen. Wer weiß, wie die gesichert war. Ach, er starrte nach vorne. Wenigstens starb er spektakulär. In dem Albtraum eines anderen.
Ein letztes Mal, bevor ihn das Viech überrollen würde, sprang er nach oben, spürte eine zarte Umklammerung an seinem Handgelenk und wurde nach oben gerissen
Er kauerte sich flach auf den Boden des Heizungsschachtes, während sich der Moloch unter ihm seinen Weg fraß, atmete schwer aus und starrte in die mildfrischen Augen seiner Mutter. „Ich hab dir doch gesagt: Schutzengel“, sagte sie, bevor sie sich flach auf den Bauch fallen ließ.

„Ich glaub, es ist weg“, sagte seine Mutter und zog ihren Kopf aus der Öffnung wieder nach oben.
Frank lag auf dem Rücken und atmete. War ein tolles Gefühl, einfach zu atmen, jeden Muskel in seinem Körper doppelt zu spüren, und die in seinen Beinen dreifach.
„Hier sind wir sicher“, sagte Frank. „Es ist viel zu groß.“
„Was immer es auch ist.“
„Was immer es auch ist. Moment mal.“
„Ja, mein Sohn“, irgendetwas, das Frank gar nicht gefiel, hatte sich in ihre Stimme geschlichen, „für den ich über mich selbst hinausgewachsen bin und dem ich soeben zum zweiten Mal das Leben geschenkt habe.“
„Du hättest das gar nicht tun können, ich meine: Du bist doch nicht wirklich du. Du bist nur ein moralisches-“
„Schutzengel“, sagte sie. „Ich kann es nicht fassen, dass du wieder davon anfängst. Nach allem, was ich für dich getan habe.“
„Ja, ist ja gut“, sagte Frank. Er wusste nicht so recht: Sollte es ihn freuen, dass er nicht verrückt war, sondern … besessen? Oh Gott, er hatte vor seiner Mutter mit einer fremden Frau geschlafen! Bisher hatte er angenommen, er hatte es nur vor einem irgendwie abartigen Teil seiner selbst getan.
„Wir müssen hier weg, Katja finden!“
„Bist du noch bei Trost?“
„Was schlägst du denn vor?“
„Einfach hier bleiben, bis die nächste Schicht anfängt.“ Wieder ein Zischgeräusch.
„Okay“, sagte Frank, legte sich flach auf den Rücken und versuchte, die Implikationen zu verdrängen, die das alles nun mit sich brachte.
„Vielleicht“, setzte seine Mutter an. „Können wir jetzt mal über unsere Beziehung sprechen, jetzt wo klar ist, dass ich-“
„Was? Was willst du? Einen eigenen Fernseher, oder was?“
„Oh, Oh“, machte seine Mutter.
Frank schreckte hoch.
„Kriech!“

Frank quetschte sich durch den Schacht, robbte auf seinen Unterarmen entlang und jedes Mal, wenn er sich umdrehen wollte, sah er in das Gesicht seiner Mutter, die „Kriech! Kriech doch endlich“ schrie.
„Was ist denn da?“, schrie Frank, seine Kehle brannte.
„Zähne!“, kam es zurück. „Krallen! Jetzt mach!“
Du bist eine Maschine, dachte Frank. Eine reine Maschine. Arme und Körper, Arme nach vorne, absetzen, und Ziiiehen. Arme nach vorne, absetzen und Ziiiiehen. Du hast keine Muskeln, die schmerzen, du hast kein Blut, da ist Öl und da sind Drähte und Ziiiiehen.

Da ist nichts, was Brennen kann an deinen Oberarmen, dein Bauch kann nicht weh tun, da ist nichts, was schrammt und schwitzt und quetscht und Galle spuckt und Feuer schreit und brennt. Da ist Stahl auf Stahl und zieh und du bist eine Maschine.
Etwas jagte ihm seine Krallen in die Ferse, Frank schoss Wasser in die Augen, er drehte sich um: Ein finstres Geschöpf mit Krallen lang wie Zimmermannsnägeln und Zähnen spitz wie Haifischfänge hatte sich in seine Ferse gehackt, seine Mutter drosch mit ihren Fäustchen auf es ein, doch das Viech öffnete den Kiefer und Frank trat ihm mit aller Kraft in die Schnauze, das Wesen zischte und zuckte.
Frank erkannte noch, dass seine Mutter versuchte, dem Wesen die Daumen in seine lidlosen Augen zu rammen, da kroch er auch schon weiter.
Und Frank, die Maschine, spürte, wie er leckte, Flüssigkeit verlor, es tropfte aus ihm, es strömte, er biss auf seine Zähne, die Zunge torkelte in seinem Mund wie ein waidwundes Tier. Seine Mutter schrie hinter ihm, jammerte und kreischte; er meinte das feurige Sabbern des Dämons zu hören, als seine Hände vor ihm plötzlich keinen Halt mehr fanden und er kopfüber in den Abgrund fiel.

„Na, haben wir uns weh getan? Sind wir hingefallen?“
Frank hörte das Quietschen von Rädern und spuckte etwas Blut. Er fuhr mit der Zunge im Mund herum, ein Vorderzahn war abgebrochen.
Frank drückte mit den Handflächen auf den Boden – Stein, wie konnte der Boden denn aus Stein sein? – und sah sich um. Er war in einem riesigen, weißen Operationssaal mit Fackeln an den Wänden. Der Moloch thronte schwarz über dem Greis in seinem Rollstuhl, der zahnlos lächelte, und in seiner Pranke hielt er, als wäre sie eine Barbiepuppe, Katja. Oh, Katja.
„Wissen Sie, seit mir Katja von Ihnen beiden erzählt hat, brenne ich darauf, Sie kennen zu lernen. Wissen Sie, wie selten unsere Gabe ist?“
Frank versuchte erneut sich aufzurichten, er hatte das Gefühl, als würde etwas auf seinem Rücken liegen und als er den Kopf nach hinten drehte, zischte ihn ein schwarzes Geschöpf an, leckte mit einer pockigen Zunge über seine Wange. Widerhaken rissen Wunden. Frank schrie.
Katja wimmerte, der Moloch streichelte ihr mit dem Zeigefinger seiner anderen Hand über den Kopf. Der Finger war so groß wie ein dicker Achtjähriger.
„Außerköperliche Projektion, fantastisch, nicht wahr? Mein Leben lang dachte ich, ich sei der einzige mit dieser Gabe. Und dann, Sie können meine Überraschung bestimmt verstehen, als ich von Ihrem speziellen Fall hörte? Wo ist sie denn? Möchten Sie sich nicht zu uns gesellen, Mademoiselle?“
„Nein, bleib weg, Mutter!“, schrie Frank, die Zunge ratschte über sein Ohr und riss ein kleines Stück heraus.
„Ich fürchte, ich muss insistieren.“
„Schon gut, schon gut“, seine Mutter löste sich aus der Dunkelheit des Raums, die kupferroten Haare flackerten im Licht der Operationssaalfackeln. Sie war wunderschön, fand Frank nun.
„Es tut mir leid, dass ich gezwungen war, bestimmte Unannehmlichkeiten auf Ihre Schultern zu laden. Sehen Sie es als eine Art … Belastungstest.“ Der Alte fuhr mit seinem Rollstuhl auf Franks Mutter zu. „Mademoiselle, darf ich denn darauf hoffen, Ihre Hand zu berühren.“
Grazil reichte sie ihm die Hand, und er presste seinen zahnlosen Mund auf den Handrücken. Es schmatzte, Frank wandte sich ab, versuchte zu erkennen, ob sich Katja in den gewaltigen Armen des Wesens überhaupt noch bewegte.
„Sie haben sie wunderbar hinbekommen. Sie schmeckt sogar echt. Schauen Sie“, sagte der Greis, „ein ganzes Leben hab ich Ihnen voraus und das Beste, was mir gelingt, ist dieses da“, er zeigte auf den Moloch, „und jenes dort“, er zeigte in Franks Richtung. „Können Sie mir zeigen, wie es geht? Können Sie es mich“, sein Kopf wippte, „lehren? Oder müssen wir bestimmte Ablenkungen vorher noch beseitigen?“

Katja baumelte in den Pranken des Riesen hin und her, Frank wusste nicht, wie weit es von dort nach unten gehen würde.
„Das ist ein Missverständnis“, hörte er seine Mutter sagen. „Ich bin keine Projektion, wissen Sie.“
„Ach, Nein?“, fragte Vincent und zu Frank gewandt: „Es kann reden. Wie wunderbar es reden kann.“
Seine Mutter wedelte mit einer Hand hinter ihrem Rücken, als wolle sie ihm ein Zeichen geben, Frank hatte das Gefühl, dass der Druck auf ihm nachließ, offenbar war das Krallenwesen genau wie sein Meister abgelenkt.
„Nein“, sagte seine Mutter, „kommen Sie her“, sie spitzte ihre Lippen, „ich verrate Ihnen das Geheimnis.“
Der Greis fuhr seinen Rollstuhl näher heran, Franks Mutter beugte sich über ihn, roch an seinem Kopf, brachte den Mund dicht an sein runzliges Ohr.
Frank stöhnte auf, drückte sich vom Steinboden ab, das Vieh fiel hinter ihm zu Boden, kreischte auf, Frank jagte nach vorne.
„Ein Schutzengel!“, hörte er seine Mutter brüllen. Sie griff nach dem Kopf des Alten, eine Hand an die Schläfe, die andere ans Kinn, und drehte mit einem gewaltigen Ruck. Der Moloch vor ihm zerbröselte. Die Pranke, die eben noch Katja gehalten hatte, löste sich in Nichts auf. Das Vieh hinter ihm schrie immer lauter und lauter, Frank hetzte nach vorne, stolperte – seine Ferse -, Katja fiel. „Schnell“, rief seine Mutter, Frank rannte und humpelte und sprang das letzte Stück, breitete die Arme wie zu einem Falltuch aus, schloss die Augen - er war zu spät, viel zu spät! -, und da, wie ein Apfel, fiel Katja ihm in die Arme.

„Du bist ganz leicht“, sagte Frank. „So leicht hab ich dich gar nicht in Erinnerung. Dir geht es doch gut, oder? Alles in Ordnung?“ Frank setzte sie vor sich ab, hielt ihr Gesicht mit beiden Händen und presste sie an sich. Sie drückte die Nase in jene Kuhle, wo sein Schlüsselbein in den Hals überging.
„Mir geht es gut.“ Und irgendwie, so pervers es war, Frank war nie glücklicher, so nahe wie in jenem Moment, so lebendig, hatte er sich nie vorher gefühlt. Katja sagte: „Du Frank. Ich dachte, ich würde sterben“
„Nein, nein“, sagte Frank und erkannte etwas hinter Katjas Schultern.. „Alles ist gut, wirklich alles ist gut.“
„Du bist mein Held.“
„Ja“, sagte Frank mit freudloser Stimme. „Das kann man wohl so sagen. Aber“, er löste sich von ihr, „vergessen wir auch meine Mutter nicht.“
Die wischte ihre Hände an der Jeans ab und bei jedem Ruck stieß sie ein Wort aus: „Was ich nicht alles für dich tue. Und dankt man es mir? Nein!“
„Oh!“, sagte Katja. „Jetzt kann ich sie ja sehen. Frank, warum hast du mir nicht gesagt, wie wunderschön sie ist? Und das ist deine Mutter? Freut mich, Sie kennen zu lernen! Ich habe schon so viel von Ihnen gehört.“
Frank erstarrte. Seine Mutter drehte ihren Kopf zur Seite.
„Was denn? Hab ich was Falsches gesagt?“
„Nein“, sagte Frank. „Es ist alles gut. Komm her, ich will dich nur festhalten, schau dich nicht um.“ Er drückte sie an sich, über ihre Schulter hinweg konnte er ihren zerschmetterten Leichnam sehen.

 

Hallo!

Also ich find die Geschichte einfach super! Normalerweise scheue ich oft vor etwas längeren KGs, aber die war echt sehr angenehm von vorne bis hinten durchzulesen! :)

 

Hallo, freut mich, dass dir die Geschichte gefallen konnte. Das ist jetzt so die Länge, auf die es meistens hinauslaufen wird bei meinen KGs. Klar ist das bisschen lang, aber noch im Rahmen glaube ich, wenn man kürzer schreibt, ist eher alles auf Effekt bedacht. Da bin ich jetzt nicht so heiß drauf.

Ich habe heute auch wieder an die Geschichte gedacht, da hat ein Filmkritiker über die Serie Grey's Anatomy geschrieben: If it's good, it's very good. If it's bad, people sleep with ghosts.

Gruß
Quinn

 
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Hallo Quinn,

also drehte er sich um und ging auf eine Insassin zu, die in einem Rollstuhl im Gang saß.

Schreibst du da mit Absicht Insassin? Also so wie im Gefängnis?
Kannst du natürlich machen, wenn du damit etwas aussagen willst, aber das ist schon, naja... ziemlich politisch unkorrekt. (Zeig das keinem Psychiater.) War das deine Absicht?
Also es müsste natürlich Patientin heißen.

„Frank“, sagte Frank zum Erstbesten, der ihm in dem weiß getünchten Korridor über den Weg lief, streckte eine Hand aus und ergänzte nach einer Händeschüttelpause: „Der neue Pfleger.“

Diese Stelle hat mich echt verwirrt ... musste sie echt 2 oder 3 mal lesen. Dachte so: Häh? Wer spricht? Wer ist der Pfleger? Warum ist er auf einmal Pfleger? Frank sagt Frank zu wem? Und wer ist Frank nochmal?
Vielleicht bin ich auch einfach müde ... aber der Satz gefiel mir nicht.


Ansonsten.. ja, das ist keine Psychiatrie, aber da stimme ich dir im Grunde schon zu, wie es in einer Psychiatrie wirklich aussieht, wissen sowieso die wenigsten, und die Geschichte ist sowieso fantantisch, also wen juckt's? Du willst uns ja keine Psychiatrie mit der Geschichte vorstellen, sie ist eher zufällig Schauplatz für Visionen und so Sachen.

Zur Geschichte: Sie ist vom Stil her ähnlich wie DBD, die witzigen Dialoge, dann der Action, aber ich muss sagen: DBD hat mir besser gefallen. Und Gewinner-Ich auch, und Bozo sowieso.
Insofern war ich schon ein klein wenig enttäuscht. Vielleicht auch weil diese Geschichte so viel Resonanz und die Empfehlung erhalten hat, da war meine Erwartungshaltung entsprechend hoch. Ist wahrscheinlich auch eine persönliche Präferenz. So ne Blind Date mit einer scharfen Vampirfrau und ne Laberzicke spricht mir glaub eher zu, als einen witzigen Mutter-Sohn Dialog.

Schlecht ist die Story sicher nicht, hab mich gut unterhalten dabei, war jetzt halt nicht mein Favorit.

MfG,

JuJu

 
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Hallo Juju,


Zur Geschichte: Sie ist vom Stil her ähnlich wie DBD, die witzigen Dialoge, dann der Action, aber ich muss sagen: DBD hat mir besser gefallen. Und Gewinner-Ich auch, und Bozo sowieso.
Jo, ich hab die Geschichte jetzt auch schon x-mal gelesen und ist schon länger her, so dass ich das alles nachvollziehen kann. DBD hat mehr Kanten als die hier. Bei der anderen Geschichte ist der Einstieg so ne Macho-Nummer mit seltsamen Insider-Gags und einer misanthropen Weltsicht, da springt dir schon mal 60% der Leserschaft ab (Ich-Erzähler lesen viele auch schon nicht, komischer Titel usw.). Das ist ganz interessant, das mal zu überblicken. Das ist ein Nachteil des Forums, den man auch nicht abschalten kann, man bekommt Feedback nur von den Leuten, die einen Kommentar schreiben. Wenn einer sagt: Ich les nix von dem Arsch. Oder: Ich fand den Titel schon blöd. Oder: Ich war nach 2 Absätzen raus.
Das krieg ich ja als Autor nicht mit. Wenn ich in einer Schreibwerkstatt bin und da sitzt die immergleiche Runde zusammen, und 4 verziehen den Mund, wenn ich aufsteh. Dann weiß ich ja Bescheid. ;)
Auch die Leute, die sagen: Ich hab's gelesen und es war schon alles gesagt. Oder. Ich hab's gelesen und fand's total doof, aber fanden viele gut, also hab ich nichts gesagt.
Das kriegt man halt alles nicht mit als Feedback.


Ich glaub, der Gegensatz zwischen den beiden Geschichten also hier Schutzengel und DBD ist einfach der Einstieg.
Ich kann deine Kritik dann verstehen, dass die Geschichte insgesamt eher harmloser ist. Ich versuch ja schon immer was anderes zu schreiben, deshalb ist das so ne Sache, wenn man sich dann etwas erwartet und es dann nicht kriegt, also nur weil die hier 30 Kommentare mehr als DBD hat und eine Empfehlung, ist es halt nicht die selbe Schneise nur besser gemacht, sondern die Geschichte hat halt wer empfohlen und die andere nicht. So einfach ist das letzlich. ;)

Zu dem mit der Psychatrie und so … ich bin der festen Überzeung, dass Action.Popcorn-Geschichten mit der Realität nicht viel zu tun haben sollten. Ich mein, hast du mal Gothic gesehen? Wenn die Psychaterin in die eigene Psychatrie eingeliefert wird … und immer dieses Hollywood-schizophren und so?
Ich hab das neulich mal gehört, da hat eine Krimi-Autorin richtig gesagt, dass alle Fernseh-Kommisare spätestens beim 3. Fall schwerst-traumatisiert wären und dienstuntauglich. Das fand ich gut.

Gruß
Quinn

 

Ich hab's jetzt geändert. Ich muss zugeben, einen Text sprachbildlich durchzusehen - auf Getrennt- und Zusammenschreibung und auf Groß- und Kleinschreibung ist etwas, das mir nicht so wichtig ist

Damit meine ich:
Das ist ein furchtbarer Vorgang, der alles Leben aus mir heraussaugt!

 

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