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Schneegestöber
Noch fünfzehn Kilometer. Dann kommt die Ausfahrt.
Lena kneift die Augen zusammen. Die geraden Linien der Autobahn verwischen im Schneegestöber. Als sie vorhin aus dem Büro kam, waren es nur ein paar schüchterne Flocken gewesen. Nun sind sie riesig und tanzen wild durch die Luft. Klatschen auf die Windschutzscheibe und überfordern Lenas Augen. Wenn sie direkt hinein blickt in das weiße Durcheinander, wird ihr schwindelig. Schnell fixiert sie wieder die Straße.
Die anderen Autos schleichen mit ihr über die Fahrbahn. Ihre Scheinwerfer durchbrechen die Dunkelheit und werfen kleine Lichtkegel in die weiß gesprenkelte Nacht. Es ist seltsam ruhig, als verschlucke der Schnee den Lärm und die Hektik, die sonst auf dieser Strecke herrscht.
Lena reibt sich die Stirn. Das Pochen im Kopf wird schlimmer. Ein Gedanke jagt den nächsten. Sie stellt sich vor, wie die Sätze hin- und herrasen, ständig an ihre Schädeldecke stoßen, sich ineinander verhaken und wieder entwirren. Nervös wirft sie einen Blick auf den Rücksitz. Da liegt er. Der Koffer. Heute Morgen hat sie ihn gepackt, als Chris schon zur Arbeit gefahren war. Nur zur Sicherheit. Hat langsam ihre Lieblingsstücke hineingelegt. Das graue T-Shirt mit dem grinsenden Smiley vorne drauf. Die verwaschene Jeans, die lässig an ihrer schmalen Hüfte sitzt, und die Chris nicht leiden kann, weil sie ihm zu schlabbrig ist. Der Pullover mit den kleinen Mickeymäusen, über den er immer den Kopf schüttelt. Viel zu lange haben die Sache ganz hinten im Kleiderschrank gelegen.
Lena klammert die Hände um das Lenkrad, das Herz in der Magengrube, die Schultern verkrampft.
Warum hatte sie „Ja“ gesagt?
Seit einigen Wochen stellt sie sich diese Frage fast jeden Tag. Sie spielt den Moment immer wieder ab, oben auf dem Berg. Die Bäume noch in Herbstfarben getaucht. Das Gipfelkreuz, vor dem sie sich schwer atmend ins Gras setzen. Der Wind kribbelt auf Lenas roten Wangen. Sie atmet tief ein, es riecht nach feuchter Erde und Laub. Sie lässt ihren Blick über die Berge schweifen und kramt in ihrem Rucksack nach einer Zigarette. Plötzlich steht Chris auf, hält ihr die Hand hin und zieht sie nach oben. "Lena, ich... Ich muss dir etwas sagen", stammelt er, während er in seine Hosentasche greift. "Du bist mir das Wichtigste in meinem Leben, ich will dich an meiner Seite haben. Immer!" Er geht vor ihr auf die Knie. Sieht zu ihr hinauf und Lena bemerkt, dass seine linke Augenbraue zuckt. Das tut sie immer, wenn er nervös ist. Zwei Gedanken, die miteinander ringen: Du kannst jetzt nicht NEIN sagen! Sag bloß nicht JA!
Chris öffnet die kleine Schachtel, stellt die Frage. Sein Blick ist erwartungsvoll auf sie gerichtet. In ihr kämpft die Panik gegen die Hoffnung. Lena wird schlecht. Schließlich schafft sie es zu nicken. Und im ersten Moment freut sie sich tatsächlich, umarmt und küsst ihn, betrachtet den Ring immer wieder. Ein schöner Ring. Silber, mit einem kleinen Brillanten. Ein wenig breit vielleicht. Eigentlich mag Lena zierliche Ringe mit einer erhabenen Fassung lieber. Aber halb so wild, das hat Chris wohl vergessen.
Die Wochen danach sind eine Farce! Ein Strahlen für jeden, der ihnen gratuliert. Chris schüttelt Hände und lässt sich auf die Schulter klopfen. Er ist stolz, scheint die Zweifel nicht zu spüren, die sich in Lena ausdehnen. Sie lächelt, aber in ihrer Kehle sitzt ein Schrei. Früher hat sie über die Frauen gelacht, die sich an eine Verlobung oder ein Kind klammerten, als sei dies der Rettungsanker für ihre Beziehung. Ist sie jetzt eine von Ihnen?
Das letzte Wochenende kommt ihr wieder in den Sinn. Samstagmorgen. Lena klammert sich an ihre Kaffeetasse. Chris betritt die Küche, gibt ihr einen Kuss auf die Stirn und setzt sich. Er sieht sie nicht an. Schlägt die Zeitung auf, schiebt sich ein Stück Brot in den Mund und nuschelt: „Hast du gut geschlafen?"
„Geht so." Sie zwingt sich, wenigstens noch hinterherzuschieben: „War ganz schön stürmisch heute Nacht."
„Stimmt, das hatten sie ja angesagt. Jetzt kommt wohl der Winter." Er lässt die Zeitung sinken und lächelt sie an. Sie nickt und beißt in ein Brötchen. Die Worte stecken ihr im Hals fest. Draußen biegen sich die Sträucher unter dem Novemberwind und sie fragt sich, wie lange sie diese Situation noch erträgt. Was genau hält sie hier? Ist es die Angst vor dem Alleinsein? Die Erinnerung an Chris, wie er einmal war? Manchmal kommt ihr sogar der Gedanke, dass nur sie sich verändert hat und alles andere um sie herum so ist wie immer. Nur dass sie nun die Sicherheit nicht mehr erträgt, nach der sie sich früher so gesehnt hat. Der Weg, der so gerade vor ihr liegt, schnürt ihr den Atem ab. Alles scheint wie in Stein gemeißelt ...
Erinnerungssplitter aus ihrer Anfangszeit blitzen vor ihr auf. Chris, der sie an einem Freitag von der Arbeit abholt, einen winzigen Strauß selbstgepflückter Gänseblümchen in der Hand, eine Reisetasche über der Schulter. „Los, Schärrie, wir müssen uns beeilen. Unser Zug fährt in zwanzig Minuten!" Entgeistert starrt sie ihn an, versucht, mit ihm Schritt zu halten. „Unser Zug?". Nach Paris. Ganz spontan.
Ihr fünfundzwanzigster Geburtstag. Sie wacht auf, weil das ganze Bett wackelt. Chris springt darauf herum, schmeißt mit Luftschlangen um sich. „Los, aufstehen, du Murmeltier!" Der Ausflug an den See, das Picknick. Noch mehr Luftschlangen. Und Konfetti. Überall Konfetti. Sie springt ins kalte Wasser. Dreht sich auf den Rücken und blinzelt ins Himmelblau. Chris braucht eine halbe Stunde. Ziert sich wie ein Mädchen, stößt einen Schrei aus, als er endlich bis zur Hüfte im See steht. Lena lacht. Sie lacht, bis ihr der Bauch wehtut. Abends spannt ihre Haut von der Sonne.
Die Tage waren so lebendig, so bunt. Jetzt sind da bloß noch vereinzelte Farbspritzer.
Lena bemüht sich nach Kräften, das Bild einer glücklichen Beziehung aufrecht zu erhalten. Vor anderen Leuten ist sie darin besonders gut. Es gibt nur eine Person, die ihr das Theater nicht abkauft.
„Du hast Schiss, oder?" Lenas beste Freundin sitzt ihr gegenüber, fixiert sie genau, ihr Blick fühlt sich an wie ein Schraubstock. Ausweichen ist unmöglich.
„Mann, Caro, musst du immer wieder damit anfangen?" Hitze steigt in Lenas Wangen.
„Ja, muss ich. Du machst ja den Mund nicht auf! Und ich merke doch, dass etwas nicht stimmt. Meine Güte, wäre ja auch nicht schlimm. Nach einem Antrag kriegen viele plötzlich Panik. Hab ich schon ein paar Mal erlebt."
„Ich hab keine Panik. Ich ... Keine Ahnung ... Ich weiß gar nichts mehr. Alle sagen, wir wären so ein tolles Paar, Chris sei genau der Richtige für mich, bla bla bla. Und ich höre ihnen zu und denke die ganze Zeit: 'Ihr habt Unrecht!'
Ist das nicht total bescheuert?!"
Caro beugt sich ein Stück nach vorne und nimmt Lenas Hand. „Nein, ganz und gar nicht. Willst du wissen, was ich denke? Du hast eine Entscheidung getroffen, die falsch war. Und deshalb fühlt sich nichts mehr richtig an. Klar, Chris ist ein netter Kerl, aber mal ehrlich: Ist er wirklich der Mann, mit dem du alt werden willst? Ist das wirklich die Beziehung, die du dir immer gewünscht hast?"
„Chris ist toll, Caro, wirklich. Du kennst ihn doch. Er würde nie etwas tun, das mich verletzen könnte. Er ist treu, er ist zuverlässig, er ..."
Caro verdreht genervt die Augen und wedelt mit der Hand. „Ja, ja, ich weiß. Er ist solide. Er ist ein sicherer Hafen. Aber du, meine Liebe, du bist eher ein Wirbelwind, der auf's Meer hinaus will, anstatt vor sich hinzudümpeln. Letztens erst hast du mir erzählt, dass du dir Sorgen machst, weil ihr euch kaum mehr etwas zu sagen habt. Und jetzt willst du ihn heiraten?"
„Du klingst ja fast so, als wolltest du, dass wir uns trennen!" Lena wird lauter, zieht ihre Hand weg und verschränkt die Arme.
Caro schüttelt den Kopf. „Nein, will ich nicht! Ich will, dass du glücklich bist. Wir kennen uns schon seit dem Kindergarten, Lena, und ich sehe dir einfach an, dass du leidest. Seit du mir von der Verlobung erzählt hast, siehst du traurig aus. Und du brauchst auf mich nicht wütend sein, nur weil ich dir die Wahrheit sage!"
Lena spürt das Rumoren im Bauch. Dieses trotzige Gefühl, mit dem Fuß aufstampfen zu wollen. Dabei flüsterte tief in ihr ein dünnes Stimmchen: Sie hat recht, das weißt du!
Lena fragt sich oft, wann ihre Liebe gekippt ist, wann die Blicke trüb wurden und die Langeweile sie verschlang. Aber sie findet keinen Stichtag. Es fühlt sich viel eher so an, als habe sich die Kälte heimlich eingeschlichen, ganz langsam und unauffällig. Ob Chris das überhaupt merkt, weiß sie nicht. Er scheint sich wohlzufühlen in ihren immer gleichen Tagen und Wochen.
Noch zehn Kilometer. Lena greift das Lenkrad fester.
Sie fährt sich durch die Haare und stellt das Radio lauter. Sie erinnert sich an einen Abend vor zwei Wochen. Ein französisches Restaurant, versteckt am Ende einer Gasse in der Innenstadt. Kleine Tische in verwinkelten Nischen und schummriges Licht. Lena fühlt sich wohl hier, es freut sie, dass Chris sich Gedanken gemacht hat. Er weiß, dass sie französisches Essen liebt. Sie lassen sich einen Rotwein empfehlen und lächeln sich an. Studieren sorgfältig die Speisekarte und sinnieren darüber, wie gut sich alles anhört. Die Bedienung nimmt die Bestellung auf und verschwindet wieder. Sie schweigen. Chris sitzt vor ihr und starrt in sein Weinglas. Lena betrachtet ihn. Die kurzen blonden Haare, akkurat frisiert, nicht so verwuschelt wie am Anfang ihrer Beziehung. Die gepflegten Hände, das perfekt sitzende Hemd. Früher strahlte er Ruhe aus. Besonnenheit. Männlichkeit. Doch jetzt sieht sie einen unsicheren Menschen vor sich, der sich windet und nicht weiß, wie er die Lage noch retten kann.
Jedes Mal, wenn der Kellner kommt, macht sich kurz Erleichterung zwischen ihnen breit, weil jemand die drückende Stille durchbricht. Krampfhaft versucht Lena, ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Wie bist du auf das Restaurant gekommen? Ich hab’ noch nie davon gehört. Ist echt niedlich.“
Er ergreift den Strohhalm, setzt sich aufrecht hin und erklärt: „Ein Arbeitskollege hat’s mir empfohlen. Ich war mir erst nicht so sicher, er ist ein ganz schöner Snob, weißt du.“ Er kichert. Unbeholfen, gekünstelt. „Ich wollte nicht, dass du dich unwohl fühlst, ich weiß ja, dass du zu viel Schicki nicht magst. Aber das hier hat eine ganz gute Mischung, finde ich.“ Fragend sieht er sie an.
„Klar, alles gut, ich find’s schön.“
Sie könnte fragen, was er zum Nachtisch isst. Oder ob sie später vielleicht noch einen Film schauen wollen. Aber sie bleibt stumm.
Noch fünf Kilometer. Aber bei dem Schneckentempo bleiben ihr noch ein paar Minuten.
Heute Morgen war der Nebel in ihrem Kopf verschwunden. Dieses feige Wabern aus Unentschlossenheit und Beklemmung. Lena wachte auf und konnte sich nicht an den Abschiedskuss erinnern, den Chris ihr jeden Morgen gab, bevor er losfuhr. Auf seinem Kissen lag ein Zettel.
„Ich wollte dich nicht wecken. Dir nur sagen, dass ich mich auf heute Abend freue. Nur wir zwei und unsere Hochzeitspläne. Hab einen schönen Tag! Chris.“
Sie setzte sich auf und sah hinaus in das morgendliche Zwielicht. Gänsehaut kroch über ihren Körper. Das hatte sie ganz vergessen! Chris hatte vorgeschlagen, heute Abend für sie zu kochen und erste Schritte in Sachen Heiratsplanung zu besprechen. Dabei würde er es bestimmt nicht versäumen, das Thema Kinder mal wieder auf den Tisch zu bringen. Lena lachte kurz auf. Erschrak darüber, wie hysterisch sie klang. Die Vorstellung war einfach absurd. Kinder. Schon als er vor Monaten das erste Mal darüber gesprochen hatte, war ihr ganz flau geworden.
Alles erschien plötzlich zu klein. Das Schlafzimmer, die Wohnung, ihr Leben. Es war ihr egal, wie sehr sie ihn damit verletzen würde. All die Bedenken, die Ängste, die sie während der letzten Wochen gelähmt hatten, rückten in den Hintergrund. Sie stand auf, holte den Koffer aus der Abstellkammer und packte bedächtig ein Kleidungsstück nach dem anderen hinein. Sie fuhr zur Arbeit, saß hinter ihrem Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm. Möglichkeiten schossen ihr durch den Kopf. Ziele. Zu Caro nach Berlin. Ihren Eltern nach Köln. Allein nach Hamburg. Oder zurück zu Chris? Der Tag glitt still an ihr vorbei, als wäre er nur geträumt. Wenn sie jetzt daran denkt, ist es fast so, als sähe sie einen Film, der nichts mit ihr zu tun hat.
Da ist sie! Wenn sie nach Hause will, muss Lena hier runter!
Ihre Hände sind schweißnass und kalt. Das Lenkrad bewegt sich nicht. Sie lässt die Abzweigung hinter sich und fährt weiter geradeaus. Tief hinein ins Schneegestöber.