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Parkbank
Gerlinde Kubalek versteckt sich hinter einer dicken Eiche und betrachtet den Mann, der wie jeden Nachmittag auf der Parkbank sitzt, einen viel zu großen schwarzen Hut schief auf seinem Kopf. Schwielige Hände halten eine Papiertüte umklammert. Ab und an nimmt er einen kräftigen Schluck aus der darin verborgenen Flasche.
Wenn Gerlinde Kubalek mit ihrem kleinen Yorkshire Filou eine Runde dreht, nimmt sie jedes Mal den Weg durch den Park. Seit einigen Wochen schon ist ihr dort der Mann auf der Bank aufgefallen. Er fasziniert sie, er macht sie neugierig. Sie fühlt sich zu ihm hingezogen. Es ist, als ob sie ihn schon seit Langem kennt, wie einen alten Freund. Dabei weiß sie nichts über ihn, hat noch kein Wort mit ihm gewechselt. In den letzten Tagen hat sie ihm im Vorbeigehen lediglich verstohlene Blicke zugeworfen. Doch heute konnte sie nicht anders, als stehen zu bleiben und ihn zu beobachten. Die dicke Eiche bietet ihr gerade so viel Schutz, dass sie sich nicht wie eine Voyeurin vorkommt.
Gerade steckt der Mann die Tüte umständlich in seine Sakkotasche und zupft sich die Hosenbeine zurecht. Eine Geste, die sie an Otto erinnert, der seine Bügelfalten richtet. Dann rutscht er auf der Sitzfläche nach vorne, als wolle er aufstehen. Ihr stockt der Atem. Sie will nicht, dass er geht. Doch der Mann bleibt sitzen. Gerlinde Kubalek atmet auf. Diese Gelegenheit will sie nicht ungenutzt verstreichen lassen. Wild entschlossen nimmt sie all ihren Mut zusammen und steuert auf die Parkbank zu.
„Ist neben Ihnen noch frei?“
Ihr Gegenüber starrt sie aus leicht geröteten Augen fragend an.
Gerlinde bleibt einfach stehen. Als ihm klar wird, dass sie ihre Frage ernst meint, nickt er leicht und fummelt ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche. Mit zitternden Händen wischt er mit dem zerknitterten Fetzen über den Platz neben sich, um Schmutz und Staub zu entfernen. Gerlinde wagt nicht, darüber nachzudenken, was sich alles an dem Taschentuch und nun eben auf der Parkbank befinden könnte. Sie lächelt ihn freundlich an und merkt verwundert, dass das Lächeln ihre Augen erreicht.
„Gerlinde Kubalek“, sagt sie mit fester Stimme und hält ihm ihre Hand hin.
„Gustav Kling.“ Seine Stimme zittert, doch sein Händedruck ist fest und warm.
Sie lacht: „Da haben wir doch tatsächlich dieselben Initialen!“
Verwundert sieht er sie an. Für einen Moment glaubt sie, dass er keine Ahnung hat, wovon sie spricht.
Dann grinst auch er: „Ein schöner Zufall.“
„An Zufälle glaube ich nicht!“
Er schweigt.
„Kennen Sie Albert Schweitzer?“, hakt sie nach.
„Nicht persönlich“, antwortet er.
Wieder lacht sie. Ein seltsames Gefühl, so viel zu lachen.
„Er hat gesagt, der Zufall sei ein Pseudonym, das der liebe Gott wähle, wenn er inkognito bleiben wolle.“
Er scheint darüber nachzudenken. „Ich glaube schon lange nicht mehr an Gott“, antwortet er schließlich.
Gerlinde beißt sich auf die Unterlippe. Natürlich nicht. Sie faselt mal wieder dummes Zeug.
„Aber“, fügt Gustav plötzlich hinzu, „der Gedanke gefällt mir trotzdem.“
Eine Weile sitzen sie schweigend nebeneinander und genießen die neue und doch seltsam vertraute Nähe des anderen.
„Darf ich fragen, warum Sie jeden Tag hier sitzen?“, durchbricht Gerlinde nach einiger Zeit die Stille.
„Es macht mir Freude, die Menschen bei ihren Alltäglichkeiten zu beobachten“, antwortet Gustav.
„Haben Sie keine Wohnung?“
Er sieht sie lange an. Gerlinde schämt sich für ihre Aufdringlichkeit. So etwas fragt man doch nicht! Gleich wird er aufstehen und gehen.
Er bleibt sitzen. Er lächelt sogar ein kleines bisschen. „Doch“, sagt er leise, „aber was soll ich da?“
„Haben Sie niemand, der dort auf Sie wartet?“ Wieder so eine intime Frage. Gerlinde könnte sich ohrfeigen für ihr loses Mundwerk.
„Meine Frau hat mich verlassen, als der Job weg war. Jede Frau hätte das getan. Irgendwann war ich mehr mit dem Alkohol verheiratet als mit ihr. Ein paar alte Freunde sind mir noch geblieben. Aber die haben auch ihr eigenes Leben.“
Gerlinde starrt peinlich berührt auf ihre Schuhspitzen und nickt vor sich hin.
„Und Sie?“, fragt er. Dann deutet er mit dem Kopf auf den neben ihren Füßen schlafenden Filou: „Gibt’s auch ein Herrchen zu dem Hund?“
„Mein Otto ist vor fünfzehn Jahren gestorben.“
Gustav murmelt irgendetwas vor sich hin. Wahrscheinlich eine Beileidsbekundung. Gerlinde lächelt ihn dankbar an.
„Meine Tochter hat mir dann den Hund geschenkt“, fügt sie hinzu, „damit ich nicht so allein bin.“
„Warum kümmert sie sich nicht selbst um Sie?“
„Sie hat nach München geheiratet. Sie wollte, dass ich auch dort hinziehe. Aber einen alten Baum sollte man nicht mehr verpflanzen.“
Gustav scheint nicht überzeugt zu sein.
„Sie haben wohl keine Kinder?“, fragt Gerlinde, doch eigentlich ist es mehr eine Feststellung. Tatsächlich schüttelt er den Kopf. Wieder ertappt sie sich dabei, dass sie lächelt.
„Ich habe drei Enkelkinder“, erklärt sie ihm schließlich, „aber natürlich sehe ich sie kaum. Die Entfernung. Sie wissen schon.“
Nun nickt er. Sie hat das Gefühl, dass er ihr gern widersprechen würde. Doch er ist taktvoll genug, es nicht zu tun.
„Heute trinke ich nur noch selten“, sagt er plötzlich und zieht die braune Papiertüte ein Stück aus seiner Sakkotasche. Es scheint ihm wichtig zu sein, dass sie das weiß.
„Wollen Sie einen Schluck?“
Gerlinde hebt abwehrend eine Hand: „Nein, danke! Das Zeug bekommt mir nicht so gut.“
Er verzieht den Mund zu einem traurigen Lächeln: „Mir auch nicht.“
In diesem Augenblick kann Gerlinde seinen Schmerz fühlen. Einen Schmerz, den sie selbst nur zu gut kennt. Der sich ihr immer wieder wie ein Messer ins Herz bohrt, ihr alle Energie nimmt und ihr sogar das Atmen zur Last werden lässt.
Sie sehen sich lange in die Augen und wieder ist da diese Vertrautheit, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Sie kennen sich seit wenigen Minuten, doch Gerlinde scheint es wie ein ganzes Leben.
Dann ist der besondere Moment vorbei. Filou fängt an zu kläffen. Wahrscheinlich hat er Hunger. Gerlinde wirft einen Blick auf ihre Uhr. Schon halb fünf. Zeit, nach Hause zu gehen.
„Sehen wir uns morgen wieder?“, fragt sie.
„So Gott will“, antwortet er mit einem Augenzwinkern.
„Das wäre ein schöner Zufall“, erwidert Gerlinde lächelnd, ehe sie nach Filous Leine greift und nach Hause geht.
In den nächsten Wochen treffen sich Gerlinde Kubalek und Gustav Kling täglich auf ihrer Parkbank. Sie unterhalten sich stundenlang über die Welt. Und sogar über Gott. Sie lachen viel miteinander und wenn ihre Lebensgeschichten keinen Platz für das Lachen lassen, schweigen sie gemeinsam.
Gustav erzählt, dass er schon seit vielen Jahren von der Stütze lebt. Genaugenommen, seitdem er arbeitslos geworden ist. Natürlich habe er nichts Neues mehr gefunden. Wer stellt schon einen alten Trottel ein? Noch dazu, wenn es sich um einen Säufer handelt. Dass er mit dem Trinken nur angefangen habe, um zuhause nicht durchzudrehen, das habe natürlich keinen interessiert.
Gerlinde hört aufmerksam zu. Schließlich erzählt sie von ihrem Otto, der sich so auf seinen Ruhestand gefreut hatte. Gemeinsam wollten sie die ganze Welt bereisen, ins Theater gehen, ihre Tochter und die Enkelkinder in München besuchen, einfach viel Zeit miteinander verbringen. Große Pläne hätten sie gehabt. Dann habe Otto eines schönen Sommerabends plötzlich der Schlag getroffen. Von einer Sekunde auf die andere sei er tot gewesen. Mit dreiundfünfzig.
Wenn sie davon erzählt, laufen ihr noch immer die Tränen übers Gesicht. Gustav bietet ihr sein zerknittertes Taschentuch an.
Sie greift nach seiner Hand und drückt sie ganz leicht.
„Zusammen sind wir nicht mehr so allein“, sagt sie leise.
Er sieht sie lange an. Seine Hand erwidert den Druck. Einige Zeit sitzen sie so da und keiner von beiden sagt etwas.
"Wissen Sie, was das Schlimmste ist?", fragt sie ihn schließlich. Erwartungsvoll hebt er die Augenbrauen.
"Seit Ottos Tod fühle ich mich wertlos. Ich wusste immer, dass er mich bedingungslos liebt, und jetzt, da er nicht mehr ist, versinke ich in Bedeutungslosigkeit."
Gustav schweigt. Zu gerne würde sie wissen, was er gerade denkt.
"Vielleicht liegt es daran, dass ich nicht mehr die Jüngste bin", fährt sie fort. "Ich schaue manchmal in den Spiegel und sehe eine in die Jahre gekommene, wenig attraktive Frau ohne jeden Esprit. Niemand braucht mich mehr. Noch nicht einmal meine eigene Tochter."
Gustav hat den Blick in die Ferne gerichtet. Noch immer sagt er nichts, doch seine Mundwinkel verziehen sich zu einem schwachen Lächeln.
Gerlinde weiß nicht, wie sie es deuten soll. Findet er ihr Gejammer lächerlich? Grinst er, weil er ihr im Grunde genommen zustimmt und es nicht zugeben will? Sie traut sich nicht, ihn danach zu fragen, und der Moment verstreicht.
Einmal in der Woche bringt Gerlinde zwei dampfende Becher von Starbucks mit zur Parkbank. Eigentlich kann sie sich die sündhaft teure Milch mit dem Schuss Kaffee von ihrer spärlichen Witwenrente nicht leisten. Schon gar nicht im Doppelpack. Aber das gemeinsame Kaffeetrinken macht beiden Freude und sorgt für eine besondere Atmosphäre. Außerdem will sie nicht, dass Gustav sich immer nur mit seinem billigen Fusel von innen wärmen muss.
Ihr Abschiedsritual ist immer dasselbe.
„Sehen wir uns morgen wieder?“
„So Gott will.“
„Das wäre ein schöner Zufall."
Bevor sie geht, lächeln sie sich jedes Mal an. Mit einem Lächeln, das die Augen erreicht. Gerlinde kann sich gar nicht vorstellen, dass es jemals anders war.
Es ist ein Mittwoch, an dem Gerlinde schon von Weitem sieht, dass die Parkbank verwaist ist. Verwundert wirft sie einen Blick auf ihre Uhr. Sie ist weder zu früh noch hat sie sich verspätet. Sie bleibt neben der Bank stehen und schaut sich in alle Richtungen um. Von Gustav keine Spur. Sie setzt sich und wartet. Unerträglich langsam ziehen die Minuten dahin. Nach zwei Stunden gibt Gerlinde auf. Es ist jetzt halb fünf und Gustav weiß, dass sie um diese Zeit nach Hause muss, um Filou zu füttern. Heute ist mit ihm wohl nicht mehr zu rechnen.
Oder kann es sein, dass er absichtlich nicht gekommen ist? Hat sie gestern irgendetwas Falsches gesagt? Nein, eigentlich war alles wie immer.
Gerlinde spürt einen seltsamen Druck in der Magengegend, der sich langsam Richtung Brust ausdehnt. Sie kennt dieses Gefühl nur zu gut. Sie hat Angst! Angst, wieder allein zu sein. Ohne ihn. Auf dem Heimweg kämpft sie mit den Tränen.
Auch an den nächsten fünf Tagen taucht Gustav nicht an ihrem Treffpunkt auf. Jedes Mal wartet Gerlinde zwei Stunden lang auf der Parkbank. Vergebens. Langsam beginnt sie, sich Sorgen zu machen. Sie weiß noch nicht einmal, wo Gustav wohnt. Zuhause sucht sie seinen Namen im Telefonbuch. Klings gibt es viele, aber einen Gustav kann sie nicht finden. Vielleicht hat er gar kein Telefon.
Nach einer Woche ohne ein Lebenszeichen von Gustav, nimmt Gerlinde sich fest vor, zum letzten Mal den Weg durch den Park zu nehmen. Wenn die Bank heute wieder leer ist, wird sie nicht mehr herkommen.
Als sie sich der alten Eiche nähert, macht ihr Herz einen Sprung. Ein Mann sitzt auf ihrer Bank. Der schwarze Hut ist unverkennbar. Gustav ist wieder da!
Vor Freude wäre sie am liebsten zu ihm gelaufen. Doch dann fällt ihr ein, wie besorgt sie in den letzten Tagen war. Dafür ist er ihr erst einmal eine Erklärung schuldig. Sie verlangsamt ihren Schritt, möchte betont lässig wirken. Er soll nicht merken, wie aufgewühlt sie ist. Um sich zu beruhigen, hält sie den Blick beim Gehen auf ihre Schuhspitzen gesenkt. Erst als sie direkt vor ihm steht, sieht sie auf. Und erstarrt.
Der Mann, der vor ihr auf der Bank sitzt, ist nicht Gustav, sondern ein Wildfremder. Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie ihn an.
„Wo ist Gustav?“, fragt sie. Ihre Stimme klingt ungewohnt schrill.
Der Mann streckt beschwichtigend die Hand nach ihr aus, doch sie weicht zurück. Filou beginnt zu knurren.
„Sie müssen Gerlinde Kubalek sein“, sagt der Mann sanft.
„Wer will das wissen?“
„Ich bin Curt. Ein Freund. Ich soll Ihnen den von Gustav geben“, antwortet er und hält ihr einen Briefumschlag hin.
„Warum kommt er nicht selbst?“ Gerlinde hat Mühe, den Mann nicht anzuschreien.
„Es tut mir leid“, beginnt er traurig lächelnd.
„Was tut Ihnen leid?", schneidet sie ihm das Wort ab. „Dass er nicht einmal den Mut hat, mir selbst zu sagen, dass er nicht mehr herkommen will?“
Der Mann greift nach ihrer Hand, um ihr Einhalt zu gebieten. Gerlinde will sie ihm entwinden, doch er lässt nicht los. Er möchte, dass sie ihm in die Augen sieht.
„Gustav ist tot“, sagt er schließlich leise.
Gerlinde schnappt nach Luft.
„Wir haben ihn gestern in seiner Wohnung gefunden. Wahrscheinlich ist er schon Mittwochvormittag gestorben.“
Er hält einen Moment inne, damit Gerlinde die Information verarbeiten kann.
„Er hatte eine Schachtel in seinem Nachttisch, die ich im Falle seines Todes öffnen sollte. Darin war auch dieser Umschlag für Sie. Und eine genaue Beschreibung, wo ich Sie finden kann.“
Gerlinde lässt zu, dass er ihr das Kuvert zwischen die klammen Finger schiebt. Ihr Kopf fühlt sich an wie in Watte gepackt. Nur sehr dumpf, als wäre sie unter Wasser, nimmt sie die Stimme des Mannes wahr.
„Warum tragen Sie seinen Hut?“, fragt sie.
„Das war sein Abschiedsgeschenk an mich“, antwortet er gequält. Dann steht er auf. Er legt ihr eine Hand auf die Schulter, ehe er sich abwendet und davongeht.
Ohne es zu merken, lässt Gerlinde sich auf die Parkbank sinken. Filou legt mitfühlend seinen Kopf auf ihren Fuß. Erst jetzt nimmt sie den Umschlag richtig wahr. Mit zitternden Händen reißt sie ihn auf und entnimmt ihm einen ordentlich gefalteten Bogen Büttenpapier. Gustav hat in anmutig geschwungener Schrift mit Tinte etwas darauf geschrieben.
„Für mich waren Sie ein Anker in der Not. Bewahren Sie sich Ihr Lächeln. Wenn Ihre Augen beim Lachen strahlen, sind Sie noch tausendmal schöner!“, steht da.
Tränen steigen in ihr auf, ihre Kehle zieht sich zusammen, das Atmen fällt ihr mit einem Mal schwer, so schwer. Langsam steht sie auf. Die Hand, die den Brief hält, sinkt wie in Zeitlupe nach unten, bis sie an ihr herabbaumelt, als wäre sie kein Teil ihres Körpers mehr. Wie in Trance setzt sie einen Fuß vor den anderen. Filou sieht ihr einige Sekunden verwundert nach, ehe auch er sich erhebt und hinter ihr hertrottet.
Die alte Eiche wiegt ihre Zweige sacht im Wind. Als würde sie Gustav zum Abschied winken, denkt Gerlinde. Tränen laufen ihr über das Gesicht. Bewahren Sie sich Ihr Lächeln. Sie sieht Gustav vor sich, wie er die Nachricht schreibt und dabei an ihre strahlenden Augen denkt. Gerlinde Kubalek dreht sich nicht noch einmal um. Doch als sie den Park verlässt, kann sie nicht verhindern, dass sie sanft lächelt.