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Paradiesische Protokolle
Im Paradies riecht es nach Öl, Dreck, Lavendel und Rosenhauch, der von den Bergen herüberweht. Ich betrete das kastenförmige Gebäude. Der Sachverständige sitzt bereits hinter seinem Schreibtisch, als ich eintrete. Der Saal ist viel zu groß, LEDs tauchen ihn in blendende Helligkeit. Ich höre von weitem rhythmisches Tastaturgehämmer. Es ist Mägerlein. Keine schlechte Wahl für heute. Bei ihm geht es schnell und sachlich zu. Er begrüßt mich mit verhuschtem Blick.
„Wie viele kommen heute?“, frage ich ihn.
„Drei. Einer kommt durch, wie immer.“
Ich setze mich neben ihn und klappe den Laptop auf.
Um mich abzulenken, mich einzuspinnen in den Kokon, der mich fernhält, von dem, was kommt, was ich hören werde, denke ich an Peters Hände, die mich in der Nacht gepackt haben, daran, wie ich ihm die Zunge in den Mund steckte und ich das erste Mal starb, als er in mich eindrang, mich ausfüllte bis zu meinem Herzen. Anders kann ich nicht mehr. Es muss schnell gehen, unvermittelt, ohne Zärtlichkeit. Ich verscheuche den Gedanken, weil ich mir die Geschichten der Schatten anhören muss, die am Tor zum Paradies anklopfen.
„Ich will, dass sie wortgetreu übersetzen, nichts hinzufügen oder weglassen, Frau Abassi!“
„Ich gebe mein Bestes, Herr Mägerlein.“
Als wolle er mir einen Kübel Eiswasser über den Kopf schütten. Ich weiß, wie‘ s läuft, bekomme einen Hunderter die Stunde und hänge an einem Spinnfaden des Paradieses. Mägerlein erschafft Glück und Unglück, ist Wächter, Verteidiger, eine Art Gott. Dabei ist er eine Missgeburt. Sein Körper produziert keine Wärme und ich wundere mich, dass es ihn nicht fröstelt. Klar, selbst wenn er wollte: Mitleid darf ihn nicht beeinflussen. Der Platz ist begrenzt. Es ist gar nicht so lange her, da habe ich selbst um den Einzug ins Paradies gekämpft, wollte unbedingt hier leben. Also erzählte ich von den verlorenen Eltern, den vermissten Geschwistern und den Sprachen, die ich beherrsche, setzte das hübscheste Hundegesicht auf und spitzte die Lippen zum Kuss.
Der Protokollführer tritt ein, setzt sich an die Stirnseite und legt Notizblock und Aufnahmegerät bereit. Seine Glatze glänzt. Er zieht den Stuhl nahe an den Tisch, versteckt den Bauch darunter und begrüßt mich scheu. Er will mir sagen, dass er mich anbeten würde, wenn er nur jünger und schöner wäre, lässt es dann aber. Ich atme Pfirsichduft ein, der aus irgendeiner Düse, die ich nie entdeckt habe, in den Saal strömt. Die Fenster bleiben natürlich geschlossen. Zwei alte Leute, ein Pärchen, schlurfen auf uns zu, eskortiert von Sicherheitsleuten in schwarzer Montur, den Schlagstock an der Hüfte baumelnd.
Die Runzeln auf ihrem Gesicht, die Augen der kleinen Frau, schauen mich genau an, wollen mich dazu zwingen, mich an das Tau, den Duft der Erde am frühen Morgen, das Blöken der Schafe und an den Zypressenbaum vor unserem Haus zu erinnern, an den Geschmack warmer Milch und an die Großmutter, die mich aus blinden Pupillen anlächelt, an all das Verschwundene, Ausradierte, das bleibt, obwohl die Bruchstücke, die Bilder in meinem Kopf, verblassen. Meine Seele ist eine blutige Masse, seit die Männer in den tarnfarbenen Uniformen kamen. Die beiden Alten am Eingang zum Paradies riechen wie meine Großmutter, nach Erde und Zeder. Sie setzen sich und wirken noch viel kleiner, als die schwarzen Männer sich hinter sie stellen. Das Procedere beginnt. Namen, Herkunft, Adresse, Reiseweg. Mägerlein kommt in Fahrt. Ich übersetze und der Glatzkopf, der Neuner heißt, schreibt mit. Wir kommen voran. Anfangs antworten beide, später übernimmt die Großmutter.
Frage: Führen Sie kurz ihre Gründe an, weshalb sie um Asyl im Paradies bitten.
Antwort: Wir allein sind übrig. Nicht weit vom Zentrum hatten wir einen Laden. Gemüse und Obst. Fünfzig Jahre lang. Die Leute haben gern bei uns gekauft. Gute Ware. Mein Mann hat ein Händchen dafür. Er hat mir drei Kinder geschenkt. Die Jungs wurden zu Männern und jetzt sind sie weg, einfach verschwunden. Einer seit letztem Jahr, der andere seit diesem.
Auch mein Mädchen ist nicht mehr übrig, Sie war mittendrin, als es krachte. Ich hab‘ s gesehen und hinterher nichts mehr von ihr gefunden, gar nichts, nicht einmal die goldene Kette mit dem Kreuz.
Frage: Machen Sie weiter!
Antwort: Jeden Tag wurde es schlimmer. Häuser stürzten ein. Die Luft war dick und Pfiffe jagten durch die Straßen. Wir verbrachten Tage und Nächte in den Kellern. Dennoch ging mein Mann los, hat den Karren beladen, sich abgemüht. Als das mit unserer Tochter war, ging‘ s nicht mehr. Er konnte nicht zum Großmarkt gehen, er schaffte es nicht. Sie war unser Augenstern. Es war ein Regentag, wissen Sie. Vor einem halben Jahr. Seither ist unser Herz zerrissen und leer. Irgendwann haben mein Mann und ich beschlossen, unser Geld zu nehmen, um ins Paradies zu kommen. Hier wollen wir sterben. Wir sind krank, aber wir können uns selbst versorgen von unserem Gesparten.
Frage: Ist das alles, was Sie vorbringen möchten?
Antwort: Das Wichtigste.
Frage: Mit welchem Verkehrsmittel sind Sie zu den Pforten des Paradieses gekommen?
Antwort: Mit dem Flugzeug. Die Route über Land und Meer ist zu beschwerlich für uns.
Frage: Können Sie das Ticket vorweisen?
Antwort: Sicher.
Frage: Wie hoch ist Ihr Vermögen?
Der alte Mann mit der gegerbten braunen Haut übernimmt das Gespräch. Er fixiert Mägerlein und nennt die Summe. Ein Jahr, vielleicht etwas länger, wird es reichen.
Frage: Können Sie einen Nachweis über das Geld erbringen?
Die Antragsteller strahlen Zuversicht aus. Mägerlein grinst. Ich schwöre mir, dass ich heute in meinen Habseligkeiten nach dem goldenen Armreif suchen werde, den ich als Kind getragen habe – das Patengeschenk einer Tante, deren Bild ich neu erschaffen muss, weil ich es in mir versteckt habe.
Frage: Haben Sie einen Rechtsbeistand?
Sie schütteln den Kopf, verstehen nicht richtig, wofür sie einen Anwalt brauchen. Obwohl ich ihren Fehler erkenne, stehe ich auf und umarme sie, spüre meine Großmutter, als die alte Frau mich an sich drückt, mich in die Vergangenheit katapultiert wie ein Geschoss. Mägerlein und Neuner bleiben sitzen.
Neuner steht auf: „Einen Cappuccino, Frau Abbasi?“
Er wackelt los und wird versuchen, aus dem Milchschaum ein Herz zu formen. Neuner bringt den Cappuccino. Ich stelle mir das Meer vor, schnaufe durch, setze mich wieder und schlürfe den Cappuccino. Doch kein Herz. Nichts als Schaum und ein hässlicher brauner Fleck in der Mitte. Der Erdgeruch der alten Leute dampft zart durch den Raum. Ich atme durch.
Quietschende Gummisohlen nähern sich. Die Uniformierten bringen einen jungen Mann herein, eine schmale Strichgestalt mit großer Nase und braungrauer Haut. Er geht sehr aufrecht, trägt eine Jogginghose. Sehnige Knöchel blicken mir entgegen. Die Aufschrift auf dem T-Shirt lautet ’Horizons‘. Nachdem er sich gesetzt hat, verschränkt er sofort die Arme. Mich beachtet er nicht und konzentriert sich auf Mägerlein und Neuner. Er lächelt sogar, als begänne eine freundliche Unterhaltung bei Tee und Gebäck. Das Smartphone versenkt er in der Hosentasche. Er kommt aus einem Dorf in den Bergen, das höre ich am Zischen und den hartgesprochenen Konsonanten. Er ist 17 Jahre alt. Keiner darf älter sein. Und selbst wenn: Gute Legenden beginnen mit einer Lüge.
Frage: Führen Sie kurz ihre Gründe an, weshalb sie um Asyl im Paradies bitten.
Antwort: Ich war 16 Jahre, als ich zum Paradies aufgebrochen bin. Ich stamme aus einem Gebirgsdorf nahe der Grenze. Als ich klein war, lebten wir von Ziegen, der Jagd und den Feldern, die wir gewässert und gepflegt haben. Eines Tages tauchten Männer auf und zwangen meine Eltern, Mohn anzubauen, versprachen ein behaglicheres Leben. Wir waren sechs Geschwister. Vier Jungs und zwei Mädchen. Nach dem ersten Jahr haben sie einen Bruder mitgenommen, vor dem Winter musste eine Schwester einen der Männer heiraten. Im Frühjahr haben sie einen weiteren Bruder geholt. Damit wir sie nicht betrügen, sagten sie. Zur Ernte im Herbst sahen wir die verlorenen Brüder wieder, als die Männer die Säcke voller Mohnkapseln abholten. Sie trugen Maschinengewehre und wollten uns nicht erkennen, uns, ihr Fleisch und Blut. Sie schubsten den Vater und schrien die Mutter an.
Frage: Haben Sie Drogen genommen?
Antwort: Nein, ich brauche keine Drogen. Ich will leben. Sie haben den nächsten Bruder mitgenommen, ihn aus dem Bett gezerrt, wo er mit Fieber lag, ihn auf den Verschlag des Lastwagens gesetzt und sind losgefahren, obwohl meine Mutter sich mit aller Kraft an ihn hängte. Sie zogen die Knüppel und schlugen sie, drohten das Haus anzuzünden und dem Bruder den Knüppel in den Hintern zu stecken. Danach träumte ich schlecht, schrie in der Nacht und wünschte mir, dass die Felder verdorren. Der Vater zog los, fragte Verwandte um Rat, sammelte Geld, diskutierte mit der Mutter. Sie trafen eine Entscheidung. Meine Schwester zog zu Verwandten in die Berge. Ich sollte das Paradies suchen, mein Glück zu machen und irgendwann alle nachzuholen. Nur ein Bruder blieb bei den Eltern. Er hinkt, außerdem hat er einen schwerfälligen Verstand. In meinen Rucksack steckte ich Blätter eines Baums, den ich selbst als Kind gepflanzt hatte, Vorräte, das Smartphone und eine Haarsträhne meiner Mutter. Wir weinten alle und ich heulte weiter, als unser Tal längst außer Sicht war. Neun Monate habe ich gebraucht. Wir überquerten Berge, liefen durch Täler und Wälder, tranken aus Bächen, erreichten die Stadt, verließen sie, zogen als Anhalter durch die staubige Ebene bis zur nächsten Stadt, bis zum Meer, über das Meer, bis wir wieder Wälder durchquerten und Berge bestiegen und ich hier ankam.
Frage: Welche Papiere können Sie vorweisen?
Antwort: Mein Pass ging auf dem Schiff verloren.
Frage: Wie wollen Sie Ihren Lebensunterhalt im Paradies bestreiten?
Antwort: Ich werde lernen und hart arbeiten. Ich will frei sein, leben und meine Familie unterstützen.
Frage: Haben Sie einen Rechtsbeistand?
Er weiß es noch nicht. Er, der aus den Bergen kommt, wo die Vögel die Luft mit Gesang bevölkern, wo es nach Kräutern und Gras riecht, wo Stille und Sternenhimmel das Herz erfüllen. Er, der mich an friedliche, verlorene Tage erinnert, an die Unverrückbarkeit der Berge. Deshalb mache ich mir um den jungen Mann keine Sorgen. Außerdem ist seine Haltung gerade und die Knöchel schimmern golden.
Er bemerkt mich zum ersten Mal. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht, als würden wir uns aus irgendeiner Vergangenheit kennen.
„Neunzig Minuten Pause“, verkündet Mägerlein, reibt sich erst die Hände, verschränkt sie dann ineinander, bis es knackt, dehnt und streckt den Oberkörper.
„Kommen Sie mit in die Kantine, Frau Abbasi? Es gibt Gulasch.“ Er klingt begeistert.
„Nein, ich muss ein paar Sachen kaufen und hole mir unterwegs etwas zu essen.“
Ich mache mich auf den Weg zur Fußgängerzone. Menschen wühlen sich durch die Straßen, Einkaufstüten hängen an ihren Armen. Vögel, Mäuse und Ratten warten auf Krümel, die zu Boden fallen. Die Menge ist so dicht, dass ich mich beim Gehen darauf konzentriere, keinen anzurempeln. Läden, die Schuhe, Kleidung und Smartphones verkaufen. Dazwischen Imbissbuden, die fettigen Dampf in die paradiesische Luft blasen. Ein Schild lockt mich: Kaufe und verkaufe Gold zu besten Preisen. Eine Klingel ertönt, als ich eintrete und mich einer zwergwüchsigen Frau gegenübersehe, die mich aus Barbie-Augen anblinzelt. Sie zeigt mir Goldketten, schmale und breite, matte und glänzende. Ich entscheide mich für ein zartes Bändchen, das wie ein Sonnenstrahl blitzt und schließe es um mein Handgelenk. Jetzt brauche ich mir keine Gedanken mehr zu machen, ob ich das Geschenk der Tante wiederfinde.
Im Saal ist alles fast wie zuvor. Nur die Wangen von Mägerlein und Neuner haben sich etwas gerötet und auf den Lippen fettet das Gulasch.
Kaum habe ich Platz genommen, wird der Letzte gebracht, ein untersetzter Mann in einem schlecht sitzenden Anzug und elfenbeinweißem Hemd. Er dreht den Kopf mal hierhin, mal dorthin, als wolle er jeden einzelnen Gegenstand abscannen und nutzt breitbeinig die ganze Fläche des Stuhls. Ich spüre den festen, entschlossenen Handschlag, als er reihum alle begrüßt. Die formalen Fragen, um die Identität zu klären, beantwortet er knapp und präzise.
Frage: Führen Sie kurz ihre Gründe an, weshalb sie um Asyl im Paradies bitten.
Antwort: Wissen Sie, die Geschäfte laufen seit ein paar Jahren schlecht. Ich muss woanders hin, sonst verhungere ich. Ich verfluche den Krieg und die ganze Zerstörung. Die Reichen hauen einfach ab, nehmen ihr ganzes Geld mit und verschwinden. Die Villen sind leer, kein Schmuck, kein Geld, kein Gold mehr drin. Du steigst mühsam in ein Haus ein, hast den Draht durchschnitten, die Kamera am Eingang besprayt, Knochen für die Hunde dabei, trägst das schwere Werkzeug auf den Schultern und denkst dir, was für ein herrlicher Tag. Und dann kommt die Ernüchterung. Die Häuser sind leer. So kann man nicht leben! Vor dem Krieg füllten sich die Säcke von allein und diejenigen, die wir bestohlen haben, holten sich‘ s auf ihre Weise zurück, pressten die Armen ein bisschen mehr aus. Ich habe Familie, muss Frauen und Kinder versorgen, deshalb bin ich hier. Ich verfüge über Expertise, nicht bloß Papier, richtiges Wissen und lege meine ganze Erfahrung dem Paradies zu Füßen. Ich bin vielseitig verwendbar und habe die Blüte meiner Schaffenskraft erreicht.
Frage: Können Sie Papiere, einen Lebenslauf, Empfehlungsschreiben vorlegen?
Antwort: Selbstverständlich!
Frage: Haben Sie einen Rechtsbeistand?
Antwort: Ich nehme mir einen, falls ich einen brauche.
Mägerlein lacht. Die gelblichen Zähne kommen zum Vorschein. Neuner richtet sich auf und schüttelt grinsend den Kopf. Mir fällt ein, wie schmutzig ich damals hier an der Pforte ankam, dass die Haare verklebt waren. Bevor ich aufgerufen wurde, befreite ich das himmelblaue Kleid im Waschbecken der Toilette notdürftig von Flecken und besprühte mich mit den letzten Resten des Rosenwassers, das ich aus der Heimat mitgebracht hatte. Der Mann schüttelt Mägerlein zum Abschied die Hand. Neuner und mir nickt er fröhlich zu. Ich friere, sehne mich sehr nach Peter und streichle zart über das Gold an meinem Arm. Das Klacken der Tür hallt durch den Saal.
Mägerlein sagt: „Ich weiß genau, wer das Paradies verdient.“