Mitglied
- Beitritt
- 09.06.2015
- Beiträge
- 251
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 57
"Papa, der Himmel brennt"
1944. Es ist Sommer geworden, das ganze Land stöhnt unter der Last des Krieges, der unseren Alltag bestimmt. Am Tag und in der Nacht heulen die Sirenen, feindliche Flugzeuge werfen tonnenweise Luftminen, Sprengbomben, Brandbomben und Phosphorkanister auf die Zivilbevölkerung.
Seit Wochen sind die Gleise der Straßenbahn zerstört, ich muss den langen Weg zum Mädchenlyzeum zu Fuß zurücklegen, das dauert fast eine ganze Stunde. Die Sohlen meiner Schuhe sind mürbe und löchrig. Wenn es regnet stopfte ich eine Lage Zeitungspapier hinein, doch heute scheint die Sonne. Auf meinem Weg komme ich immer wieder an Ruinen und Trümmerlandschaften vorüber, auf denen Feuerkraut in herrlichen Farben blüht.
Kaum habe ich mein Klassenzimmer betreten, tönen die Sirenen. Fliegeralarm! Zusammen mit meinen Schulfreundinnen renne ich los und erreiche nur wenige Minuten später den Eingang des Bunkers.
Eine in Stein gehauene Treppe führt steil und endlos hinunter in das Gewölbe, in dem uns Dämmerung, Kühle und Stille empfängt. Einem riesigen unterirdischen Labyrinth ähnlich, ziehen sich die langen Gänge unter dem Nürnberger Stadtgraben dahin. Kein Laut von draußen dringt in diese geheimnisvolle Welt, weder das Brummen der Flugzeuge, noch die Einschläge der Bomben. Nichts. An rauen Wänden entlang stehen schmale Bänke, auf die wir uns, eng nebeneinander gepresst, setzen. Die Zeit wird uns lang, wir lauschen und hoffen auf irgendwelche Zeichen. Irgendwann dürfen wir den Bunker wieder verlassen. Tapfer stapfen wir, eine hinter der anderen, die Treppe hoch. Was uns erwartet wissen wir nicht.
Die Tür zum Bunker öffnet sich nur langsam, wir schrecken zurück.
Stockdunkle Nacht umfängt uns, beißender Qualm hüllt uns ein und raubt uns in Sekundenschnelle den Atem. Am Himmel hängt eine dicke Wolke aus schwarzem Rauch, an allen Ecken brennt es lichterloh. Menschen irren weinend umher.
Wir stehen wie versteinert. Meine Augen brennen, ich bekomme kaum Luft, möchte fortlaufen, irgendwohin, doch meine Beine versagen ihren Dienst. Einige Sekunden lang stehe ich auf der Stelle und starre auf das Feuer, das sich unaufhaltsam seinen Weg bahnt. Die Flammen züngeln höher und höher. Der Funkenflug trägt die Brände weiter, binnen weniger Augenblicke verwandeln sich die Fassaden der Häuser in eine einzige Feuerwand. Meine Augen wollen sich von diesem Anblick nicht lösen. Doch plötzlich ein Gedanke, wie sieht es zu Hause aus? Meine Beine funktionieren wieder. Ich renne los. Die Straße ist nur schwer begehbar, Berge von Schutt versperren mir immer wieder den Weg.
Menschen schleppen Möbel aus brennenden Häusern, ein Mann stellt einen Käfig auf die Straße, beinahe stolpere ich darüber. Der Papagei schreit und plustert seine Federn. Kinder weinen, umklammern Spielzeug, stehen den Helfern im Weg und werden herum geschubst. Atemlos haste ich weiter. Fensterscheiben bersten, Glassplitter fliegen wie Dolche durch die Luft. Mitten auf dem Weg liegt ein Toter, keiner kümmert sich darum.
In einem Geschäft, an der Ecke, sind Plünderer zu Gange. Mit Armen voller Lebensmittel wollen sie gerade wegrennen, da versucht ein Mann die Diebe aufzuhalten. Es kommt zu einer lautstarken Schlägerei. Eine Tüte fällt zu Boden und platzt. Im Nu werfen sich Frauen darüber und kämpfen um Erbsen, die über die Pflastersteine kullern.
Langsam komme ich unserem Wohnviertel näher, hier treffe ich auf Häuser, die zur Hälfte abgeschnitten sind. Betten, Tische und Schränke hängen in der Luft, eine Badewanne hat den Absturz halb überlebt. Und immer wieder Menschen, die verzweifelt in den Trümmern nach irgendetwas suchen. Was wird mich erwarten? Meine Gedanken rasen. Leben meine Eltern noch? Nichts wie weg von den Schreien, den Flammen, dem Geruch des Todes. Rennen! Rennen!
In der Straße, in der ich wohne, herrscht Stille. Unser Haus ist verschont geblieben. Einen Augenblick lang bleibe ich stehen, mein Atem geht keuchend, meine Knie zittern. Langsam steige ich die Treppe zu unserer Wohnung hoch, meine Mutter kommt mir entgegen, schließt mich in die Arme und weint. „ Gott sei Dank“, flüster sie, „ich habe mir solche Sorgen gemacht.“
Jetzt sehe ich, dass die Wohnungstür aus den Angeln gerissen ist, sie liegt quer vor dem Eingang, ich muss darüber steigen. In den Räumen sind Fenster zerborsten und Lampen vom Luftdruck quer durch die Wohnung geschleudert worden. Im Wohnzimmer finde ich meinen Vater. Wie erstarrt steht er am offenen Fenster, an dem Schwaden von Rauch vorüber ziehen. Er sagt kein Wort. Der Himmel über der Altstadt leuchtet in einem glühenden Rot.
„Papa, der Himmel brennt!“, rufe ich.
Da legt mein Vater schweigend den Arm um mich.