- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Pandora
Gibt es einen Menschen, den es kümmert, wenn du heute Nacht stirbst?
Nein?
Nein!
Nein, nein, nein!
Die Worte dröhnen durch deinen Kopf, während das Geräusch deines Herzschlages in deinem Gehörgang pulsiert.
Was hast du da genommen?
Bastian hat behauptet, es seien Amphetamine, aber das kann nicht sein.
Jedes Gefühl liegt unter einer allgemeinen Taubheit. Abgeschwächt bis zu dem Punkt, an dem es lächerlich ist, dass du überhaupt fühlst.
Warum tust du das?
Weil es keinen Grund gibt, es nicht zu tun!
Deine Arme und Beine fühlen sich an wie Fremdkörper, als du dich bewegst. Von allem geht ein psychedelisch anmutender Schimmer aus und für einen Moment kommt es dir so vor, als seist du der Welt entrückt ohne angeben zu können, woran du das festmachst.
Mit einem Dutzend Menschen sitzt du um ein Feuer. Um dieselbe Art von Lichtquelle versammelt haben wie eure Urväter vor über zwei Millionen Jahren, denkst du. Zwei Komma sechs Millionen Jahre, um genau zu sein. Wenn du high bist, hast du oft solche Einfälle.
Darüber musst du lachen, während Jan auf dich zutaumelt.
„Hey, Tessa“, murmelt Jan. „Oh, verdammt.“ Er legt seinen Arm um dich und du lehnst dich an ihn. Er riecht nach dem Aftershave deines Vaters, aber die Assoziation ist absurd...
Die Tatsache, dass dein alter Herr eine Frau wie deine Stiefmutter geheiratet hat, beweist zwar, dass er nicht sehr wählerisch ist (auch wenn er zwanzigjährige Blondinen am liebsten hat)... Aber das weibliche Geschlecht ist für seine Liebschaften obligatorisch.
„Wo warst du?“, fragst du ihn.
„Du weißt schon...“
„Du bist echt die verklemmteste Schwuchtel, die ich kenne, Jan.“
Er war beim Pfeilergrab. Dort ist der Schwulenstrich. Oder ein Treffpunkt. Du hast es noch nicht mit Sicherheit eruieren können. Wenn Jan Drogen oder etwas braucht, lässt er sich von den Männern bezahlen, die er dort trifft. „Taschengeld“, sagt er dazu. Wenn er nichts braucht, macht er’s umsonst mit ihnen.
„Special K?“, fragt er.
„Nein, von dem Mist hatte ich letztes Mal den schlimmsten Horrortrip meines Lebens.“ Du verdrehst die Augen. „Hast du nichts anderes?“
„Gehen wir schwimmen!“, schlägt jemand vor.
Stimmengewirr. Ein paar stehen auf.
Irgendwo ist ein See, du erinnerst dich.
Ein blonder Junge, den du noch nie gesehen hast, legt Jan im Vorbeigehen die Hand auf die Schulter und blinzelt ihm zu.
„Ich komm mit“, meint dein Freund daraufhin.
„Du bist so...“ Du streckst ihm die Zunge heraus.
Er zieht eine Grimasse und folgt dem Unbekannten.
Ein Pärchen sitzt am Feuer – er hat den Kopf in ihrem Schoß. Drei andere unterhalten sich, jeder von ihnen eine Bierdose umklammernd. Der wasserscheue Rest.
„Hast du auch Lust, Tessa?“ Paul steht plötzlich zwischen dir und dem Feuer, auf dich hinabschauend mit großen, braunen Augen und diesem scheuen Lächeln, das er dir jedes Mal zuwirft, wenn er dich sieht. An manchen Tagen lächelst du zurück, denn bei seinem Anblick kribbelt es in deiner Magengrube. An den guten Tagen.
Aber heute ist kein guter Tag. Keine gute Nacht.
Es ist kalt, selbst für Anfang September. Nach der Hitze der erster Katecholaminausschüttung durch diese Pille, die du genommen hast, hat sich ein eisiges Gefühl in jedes deiner Gelenke gesetzt und du zitterst bei dem bloßen Gedanken, dich auszuziehen.
„Nein, danke“, sagst du.
Er wollte die Hand nach dir ausstrecken, hält nun mitten in der Bewegung inne. „Okay, vielleicht... Später?“
„Vielleicht.“
Er ist ein netter Junge, hat Jan neulich über ihn gesagt, und er mag dich.
Du weißt, dass er dich mag – du hast genug Empathie und Lebenserfahrung, um unterscheiden zu können, dass er dich anders mag als die, die nur das eine von dir wollen.
Doch wenn du daran denkst, ziehen sich die Eingeweide in deiner Magengrube zusammen und es schnürt dir die Kehle zu. Deshalb vermeidest du den Gedanken.
„Ist dir auch zu kalt zum Schwimmen?“ Ein Mädchen setzt sich neben dich, eine halbleere Flasche in der Hand. Langes, braunes Haar reicht ihr bis zur Hüfte. Ihre Mundwinkel zucken kurz nach oben und ein leises, quietschendes Geräusch entfährt ihr, als ihr euch anseht.
Du zuckst mit den Schultern.
„Ich... Ich bin übrigens Pandora.“
„Ich heiße Tessa.“
„Ich... Ich weiß. Du gehst... Ich bin in deiner Parallelklasse.“
„Oh.“
Ihr schweigt euch an, das ist dir recht. Du hast keine Lust, dich zu unterhalten, denn dir fällt die Frage von vorhin wieder ein:
Gibt es einen Menschen, den es kümmert, wenn du heute Nacht stirbst?
Nein.
Nein, und das ist gut so!
Denn was ist dein Leben schon wert? Genau so viel wie das jedes anderen: Nichts.
Es macht keinen Unterschied, ob du lebst oder tot bist. Du machst keinen Unterschied. Du veränderst nichts.
„Glaubst du, etwas wäre anders, wenn du nicht da wärst?“, fragst du und bist erstaunt über dich selbst, dass du die Stille durchbrichst.
„Ähm... Ich... Wie... Ich weiß nicht. Ich denke... Vielleicht. Oder...“
„Vergiss’ es“, unterbrichst du hastig ihr Stammeln und beißt dir auf die Unterlippe. „War nur so ’ne Schnappsidee von mir. Hab ich manchmal.... Jan meint, ich wär’ wahrscheinlich depressiv.“ Du drehst den Kopf zur Pandora, die sich auf den Nagel ihres linken Daumens beißt. „Schon okay, der hat sowieso keine Ahnung. Hält’ sich für Sigmund Freud, seit seine Mutter ihn zu nem Therapeuten schleppt.“
„Oh.“
„Ich hab dich noch nie mit uns rumhängen sehen.“
„Na ja, normalerweise... Normalerweise mach’ ich so was nicht. Also, trinken und... und...“
„Sex, drugs and Rock ’Roll? All die Dinge, vor denen dich Mami und Papi gewarnt haben?“
Sie zieht die Schultern ein und dreht den Kopf weg.
„Tut mir leid“, sagst du schnell. „War nicht böse gemeint.“
„Mein... Mein Vater würde ausrasten, wenn er wüsste, dass ich nicht zu Hause bin. Er ist Pfarrer in unserer Gemeinde.“
„Welche Gemeinde?“
„Wir heißen... Also unsere Gemeinde nennt sich die Apostel des Neuen Tages.“
Diese komische Sekte, liegt dir auf die Zunge, aber du hältst die Worte zurück. „Ah. Okay.“
„Wir dürfen keinen Alkohol trinken oder so was.“
„Du tust es trotzdem. Heute zumindest.“
„Ja.“
Es ist was passiert, denkst du. Ihr ist etwas passiert – etwas, dass ihre Welt bis in die Grundfesten erschüttert hat, so dass sie bereit ist, alles über Bord zu werfen, woran sie zuvor geglaubt hat.
Wie kommst du darauf?
Egal.
Du siehst es ihr einfach an – an den kleinen Fältchen, die auf ihrer Stirn zu sehen sind, während sie in die Flammen vor sich starrt, am Zittern ihrer Hand, die sich über ihrem eigenen Knie zu einer Klaue verkrampft hat... An so vielen Kleinigkeiten!
„Darf ich dir auch ne komische Frage stellen?“, flüstert sie.
„Klar.“
Schweigen.
„Frag’ doch.“
„Ich weiß nicht, wie ich’s formulieren soll.“
Dann eben nicht, denkst du. „Lass’ mich raten: Du bist hier, weil irgendjemand dir was getan hat. Irgendwas, das dich wütend macht und du total beschissen findest. So beschissen, dass du’s nicht mehr aushältst. Am liebsten nur noch kotzen würdest. Und rumschreien. Sowas eben.“
„Geht’s dir so?“
Du seufzt. „Schon.“
„Wieso?“
„Das hat viele Gründe.“
„Zum Beispiel?“
„Wieso willst du’s wissen?“
„Weil ich... Ich würd’ gerne was loswerden. Aber ich weiß nicht wie. Und wenn du anfängst...“
Du musst es nicht sagen. Du hast es jahrelang in dir behalten – nicht einmal Jan hast du davon erzählt, obwohl er dein bester Freund ist. Aber Pandora ist neu. Neu kaputt, nicht alt kaputt wie du und vielleicht... Wenn sie es gleich loswird, bevor es sich in ihr ansammelt und sie von innen heraus aushöhlt... Macht das vielleicht einen Unterschied?
„Wenn ich jetzt zu Hause wär’, würd mich meine fette, ätzende Stiefmutter nerven. Und ihre fette, geisteskranke Tochter, die jede Woche droht, sich umzubringen, wenn was nicht so läuft, wie’s ihr passt. Die Frau hält kein normaler Mensch aus!“ Du ballst die Hand fest zur Faust, so dass die Fingernägel in der Handinnenfläche halbmondförmige Abdrücke hinterlassen. „Das findet sogar mein Vater, deshalb lässt er sich tagsüber nicht blicken. Und nachts kommt er nicht nach Hause, weil er da lieber mit Zwanzigjährigen rumhurt! Der einzige Grund, weshalb er überhaupt geheiratet hat, meint er, ist, dass sich jemand um mich kümmert und er das nicht machen muss.“
„Hat er dir das so gesagt?“
„So ähnlich.“
„Was ist mit deiner Mutter?“
„Ist abgehauen, als ich acht war. Mit irgendeinem Griechen, glaub’ ich.“
Also: Wenn du heute Nacht stirbst, kümmert es jemanden?
Deinen Vater: Nein.
Deine Mutter: Nein.
Dich selbst: Wieso denn?
„Du bist dran“, forderst du sie auf.
„Mein Vater hat was gemacht.“ Sie nippt an der Flasche und setzt ab, bevor sie sie wieder in den Mund nimmt und in einem Zug leert.
„Was trinkst du da?“
„Wodka.“
„Pur?“
„Weiß’ nicht.“
„Oh Mann.“ Du verdrehst die Augen.
Die Flasche fällt aus ihrer Hand. „Mein Vater hatte Sex mit meiner Schwester“, sagt sie ruhig.
„Seiner eigenen Tochter?“, rufst du aus.
„Ja.“
„OH FUCK!“ Du schluckst einmal, hebst die Flasche auf und wirfst sie gegen einen Baum. Es klirrt dumpf, aber sie zerspringt nicht. „Hat er sich auch an dich rangemacht.“
„Nein. Das heißt... Nicht so richtig.“
„Deshalb bist du hier?“
„Ich glaub’ schon.“
Nein!
Nein, nein, nein!
„Dann verschwinde!“, fährst du sie an.
„Was?“ Sie zuckt zusammen.
Du nimmst ihre Hand – die, die das Knie bis jetzt umfasst hat – und siehst ihr direkt in die Augen. „Du warst noch nie zuvor besoffen, oder?“
„Nein.“
„Musst keine Muntermacher nehmen, um morgens aus dem Bett zu kommen?“
„Nein.“
„Oder den Eltern deiner Freunde Beruhigungsmittel aus dem Badezimmerschrank klauen, damit du abends schlafen kannst?“
„Ne... Nein, natürlich nicht.“
„Hast du schon mal mit jemandem für Geld geschlafen?“
„Oh Gott, nein!“ Sie will sich aus deinem Griff befreien, aber du hältst sie fest. Im Schein des Feuers siehst du, wie ihre Augen feucht werden und ihre Lippen beben.
„Ich mach so was! Andere hier auch. Aber ganz ehrlich: Es ist total beschissen. Du fühlst dich jetzt schlecht? Dann wart’ ab, bist du all diese Dinge gemacht hast. Und noch mehr dazu. Deshalb verschwinde und such’ dir woanders Hilfe.“
Eben hat sie sich noch gegen deine Berührung gesträubt, doch nun gibt sie nach und ihre Muskeln entspannen sich.
„Was dir passier ist, ist scheiße! Ich weiß! Es ist total krank. Aber schau dich hier um: Das ist genauso krank! So wirst du nur mehr verletzt!“
Warum sagst du das? Warum tust du das?
Es ist, als hätte etwas von dir Besitz ergriffen und du kannst es nicht kontrollieren. Du kannst dich nicht kontrollieren. Ist es das, wovor Jan dich oft gewarnt hat: Dass du vollkommen den Verstand verlierst?
„Wo... Wo soll ich denn hin?“ Sie schluchzt. Plötzlich sind ihre Wangen feucht von Tränen und ihr Oberkörper bebt.
Du legst den Arm um sie – wie die Worte, die zuvor aus deinem Mund kamen, hast du keinen Einfluss darauf. „Ich weiß nicht. Aber uns fällt bestimmt was ein.“
Jetzt bist du total durchgeknallt, schießt es dir durch den Kopf.
Du presst die Augenlider aufeinander und versuchst dich zu erinnern, was zur Hölle du heute Nacht alles genommen hast, um dich so zu benehmen!
Gröhlend und lachend kehren die anderen zurück. „Vollkommen hinüber“, wie eine Stimme verkündet.
„Was ist denn mit euch los?“, fragt Jan, als er dich und Pandora zusammen am Feuer sitzen sieht. „Wechselst du das Ufer, Tess?“
„Fick dich, Jan!“
„Das würd’ Pauli echt das Herz brechen!“ Er beugt sich kichernd vornüber.
„Sei einfach still!“
„Hey!“, ruft jemand aus. „Lasst uns ein Rennen fahren!“
„Ja!“ Das Gebrüll schwillt begeistert an, Arme werden in die Luft erhoben, schwankend machen sich die ersten auf zu den Autos, die ein Stück entfernt am Waldrand geparkt sind.
„Komm schon, Tessa!“ Jan greift nach deinem Oberarm und will dich auf die Beine ziehen. „Ich bin sicher, als Lesbe finden dich die meisten Kerle hier noch viel geiler. Die, die nicht schwul sind, zumindest.“
„Von mir aus...“ Du siehst zu Pandora, die wie versteinert dasitzt.
Plötzlich springt sie auf, rempelt Bastian und Sophia an, als sie an ihnen vorbeispurtet und ist im dunklen Dickicht verschwunden, als wäre sie nie dagewesen.
„Hey!“, protestiert jemand.
„Wer war denn das?“ Jan schüttelt den Kopf.
„Pandora, warte!“
„Tessa, lass die doch!“ Er will dich zurückhalten. „Wer war das überhaupt?“
„Du bist echt ein Arschloch!“
„Tess...“
Die Geräusche der anderen werden leiser, während das Schlagen deines eigenen Herzens gegen das Innere deines Brustkorbs lauter wird.
Du rennst – rennst durch das Dunkel des Waldes, die Einsamkeit dieser Nacht. Als wärst du der einzige Mensch auf der Welt.
„PANDORA!“ Du rufst nach ihr, weil du die Stille nicht ertragen kannst. Du rufst nach ihr – du schreist ihren Namen immer und immer wieder, bis auch der Klang deiner Stimme dir zuwider ist.
Sie machen mich alle krank, denkst du, alle! ALLE!
„PANDORA!“
Wenn du heute Nacht stirbst...
In der Zeitung nennt man es eine „Tragödie“. Jan sagt dazu: „Shit happens!“
Er hatte Glück. Er gehört zu den drei, die den Unfall überlebt haben.
Sieben andere sind tot.
„Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal sagen müsste“, verkündet seine Mutter, die Arme vor der Brust verschränkt, „Aber du hättest dir ein Beispiel an Tessa nehmen können und solchen Unfug lassen. Total betrunken Autorennen spielen! Dass das nicht gut geht, ist doch kein Wunder!“
Ihr Sohn liegt vor ihr in einem Krankenhausbett, beide Beine und einen Arm im Gips und zieht eine Grimasse in deine Richtung.
Die Absätze seiner Mutter klappern, als sie aus dem Zimmer stürmt und die Tür hinter sich ins Schloss wirft.
„Das war eben ’ne verrückt Nacht gestern“, murmelt Jan und du bist sicher, dass er sich nicht konkret erinnern kann wegen all der Pillen, die er genommen hat. „Wo warst du überhaupt?“
„Ich hab’ Pandora gesucht. Weißt du gar nichts mehr?“
„Nein, welche Pandora?“
„Das Mädchen. Aus unserer Parallelklasse. Sie war da.“
„Diese Tussie aus der Sekte?“
„Ja, genau die!“
„Tess, das kann nicht sein!“
„Sie war da!“, beharrst du, „Dann ist sie weggerannt und ich hinterher.“
„Red’ keinen Scheiß!“
„Tu’ ich nicht.“
„Tessa, jetzt bist du echt ein Fall für die Klappsmühle!“ Er schließt die Augen und lässt sich in das weiße Krankenhauskissen zurücksinken. „Hast du sie denn gefunden?“
„Nein. Ich bin ewig durch den Wald gelaufen und... Irgendwann wurde es hell und ich bin nach Hause. Die war weg. Einfach so!“
„Tessa...“ Er spricht deinen Namen langsam aus und fährt sanft fort. „Es war ’ne verrückt Nacht gestern, nicht wahr?“
Du kannst fühlen, wie deine Gedärme sich in deinem Bauch winden und ein elektrisierendes Kribbeln deine Wirbelsäule nach oben fährt. „Was meinst du damit?“
„Tess, diese Pandora... Die hat sich vor drei Tagen umgebracht.“