Was ist neu

Nur ein Stück Schnur

Seniors
Beitritt
10.10.2006
Beiträge
2.635
Zuletzt bearbeitet:

Nur ein Stück Schnur

Letzten September hat ein Angler sie unten am Fluss gefunden. Noch Wochen später hat er über nichts anderes reden können. Die Leute fingen schon an, sich in der Wirtschaft von ihm wegzusetzen.
Als der Dorfschullehrer davon hörte, sagte er: Sie sei ins Wasser gegangen. Ein sehr symbolträchtiges Bild, das sich in der Weltliteratur ständig wiederfände. Aus dem Wasser kommen wir, ins Wasser gehen wir zurück. Es sei, so sagte er, der Versuch, ein Leben rückgängig zu machen. Sich zu entleben.
Der Wirt sagte: Die Arme. Dabei war sie immer so fröhlich. Hat ja hier bedient, montags und mittwochs, oft gelacht. Und lachen konnte sie. So eine Zahnlücke und die Haare. Wirklich ein fesches Mädchen. Konnte nie still stehen. Schad um sie.
Auf Bildern sieht man die Zahnlücke, sie wächst mit den Jahren, verleiht ihr als Kind etwas Unschuldiges und Tapsiges, zur Zeit der Konfirmation sieht sie ein wenig verdorben damit aus und auf ihrem letzten Foto, mit siebzehn, hat sie ihren Mund geschlossen. Ansonsten ein dürres Ding mit wenig Busen und kaum Hüften. Wie mit der Schnur gezogen von der Sohle bis zum Scheitel. Die Haare von verwaschenem Schwarz, ein paar Muttermale unter der Nase und im Bereich des Kinns. Macht keinen sehr hellen Eindruck, aber der kann täuschen.
Der Vater sagt gar nichts. Schwarz trug er für zwölf Wochen. Aber auch dann sah man ihn nicht mehr in der Wirtschaft, nicht auf dem Fußballplatz und auch in der Kirche keine Spur von ihm. Er hat die Arbeitsstelle gewechselt, sagt man, fahre nun jeden Tag bis in die Stadt, kaufe sich jeden Morgen am Bahnhof die Zeitung, schaue aber nur den Wohnungsmarkt durch. Niemand macht ihm einen Vorwurf. Die jungen Dinger, denkt man. Da wisse keiner, was in ihnen vorgeht. Die Leute sagen: Das Internet. Das versteht ja heute keiner mehr. Der Dorfschullehrer aber sagt: Keiner kennt jemanden richtig. Das war schon immer so. Wir tragen Masken, sagt er. Ein kluger Mann. Hätte alles werden können, sagt man.
Der Pfarrer hat sich dafür eingesetzt, dass sie beerdigt werden durfte. Weil Selbstmörder eigentlich … da sind die Zeiten ja gottseidank anders, sagt man. Die Mutter kennt er noch von früher. Er darf nichts sagen, aber als er davon gehört hat, ist er in ein dumpfes Grübeln gefallen, hat mit seinen Händen immer wieder über die Tischplatte gestrichen und sich an die Brust gefasst, als hätte man ihm einen Strick ums Herz geschlungen.
Die Mutter spürte ihre Blicke, als sie den Blumenstrauß so fest hielt, dass sich der Plastikstängel in ihre Handfläche bohrte. Anrüchig, dachte sie. Als hätten wir jetzt einen Makel. Bestimmt sagen sie, mein Mann hätte sie missbraucht. Er wird es nicht schaffen, er hat sie ja so vergöttert. Ich hab immer gewusst, dass etwas nicht stimmt mit ihr. Ich hab’s immer gewusst. Da fing sie an zu weinen, und suchte die Schulter ihres Mannes, der hart und kalt war wie eine Statue. Nicht genug Trost, einen Fingerhut zu füllen.
Der Fluss schweigt. Ruhig plätschert er braun dahin. Wenn man die Hand in ihn hält, ist es ihm egal. Man kann ihm zunicken wie einem alten Freund. Seine Geheimnisse gibt er nicht preis.
In der Ecke der Wirtschaft aber sitzt zahnlos der Tod. War schon da, als wir kamen. Ist noch da, wenn wir gehen. Der Dorfschullehrer sieht ihn nicht. Der Wirt schenkt ihm nie nach. Verhungert ist er fast, seit keiner mehr im Bette stirbt. In die Stadt gehen sie. Sterben in Altersheimen und Sanatorien und lassen ihn darbend zurück. Vor ein paar Jahren mal ein Autounfall, da hat er eine Katze auf die Straße gescheucht. Mit letzter Kraft hat er sich von seinem Stuhl gehoben, sich auf die Straße geschleppt und ein Schusch-Schusch herausgebracht. Und als er dann, mit Messer und Gabel, möchte man meinen, zum Wrack des Autos geschlurft war: Nichts. Ein leerer Teller und schon bald das blaue Lärmen des Rettungswagens.
Und dann das Mädchen. Konnte nie still stehen, tippelte an ihm vorbei und ließ sich, wenn’s spät schon war, von kräftigen Händen den dürren Hintern betatschen. Es braucht nicht viel, um einen Gram zu weben, nur ein Stück Schnur ums Herz gewickelt. Und ein Seufzen, wenn die Träume fortfahren in eine andere Stadt. Bis in die Waschräume ist er ihr nachgegangen. Wenn sie vorm Spiegel stand und sich durch die Haare fuhr, ihr Spiegelbild verfluchte und den Mund zusammenkniff, dass man ihre Zähne nicht sehen konnte.
„Ach“, seufzte er dann. „Ach“, „Ach“ und nochmals „Ach“. Er hat jetzt eine andere, du warst ihm immer viel zu dumm. In der Stadt ist er, in der Stadt bleibt er und du bist hier.
Das Wasser lief ihm schon im Mund zusammen.
Und jetzt sitzt er da. Den Mund noch voll. In all seiner Pracht. Der Dorfschullehrer sieht ihn nicht, der Wirt schenkt ihm nie nach. Und wenn ihm danach ist, steht er auf, geht festen Schritts ein paar Straßen entlang und schleicht ins Schlafzimmer der Eltern, wispert Worte, seufzt einmal und schleicht weiter. Den Dorfschullehrer besucht er noch, auch den Pfarrer, den Wirt, mit den kräftigen Händen.
Und bevor er an seinen Platz zurückgeht, besucht er den Fluss. Hält eine Hand ins Wasser und nickt ihm zu, wie einem alten Freund.

 

Ach ja... eine Bitte hätte ich da noch...
Bitte versuche beim Zitieren meiner Kommentare das wiederzugeben was ich geschrieben habe und nicht das was Du gelesen hast.

forderst Du von Quinn

schreibst aber selbst:

Kritik ja... immer und jederzeit... sie muß eben nur positiv sein und von einen von Dir anerkannten Fachmann stammen. Falls das nicht der Fall ist handelt es sich selbstverständlich um einen miesen Racheakt.

Wo steht das gleich nochmal in Quinns Antwort?

Ich will mich hier ja nicht einmischen, aber das musste raus. Bin schon wieder still.

 

Hallo Fliege,

da steht:

...Deinen Kommentar entnehme ich: ...
das ist meine Quintessenz zu seinen Ausführungen
da steht nicht: Hast Du gesagt, geschrieben, getan...

Gruß, Keinstein

 
Zuletzt bearbeitet:

Dann ist deine Kritik an der Geschichte:
"1. Ich finde in Horror sollte ich mich gruseln, ich grusele mich hier nicht.
2. Du wiederholst zu oft "sagte man"."

Das sind zwei Sätze. Warum schreibst du die nicht? (So für sich genommen sind es auch keine sehr intelligenten Kritikpunkte zugegeben; 1. wurde hier schon lang und breit diskutiert; 2. ist halt so ein typisches "Ich mag die ganze Geschichten nicht, und das eine Stilmittel kotzt mich besonders an"-Kritik).
Dann entsteht auch nicht der Eindruck einer völlig unsachlichen Auseinandersetzung mit dem Text.
Ist es dir zu banal, diese Kritikpunkte einfach hinzuschreiben und anzubringen?
Vielleicht hättest du dann gemerkt, dass es gar nicht das ist, was dich an der Geschichte nervt, sondern irgendeine Animosität vor ein paar Jahren, an die ich mich nicht zurückerinnern kann.

Diese Idee, ich fände nur Lob gut, das ist völlig unsinnig, ich hab aus den harten Kritiken hier - langfristig - sicher am meisten gezogen.


Meiner Kritik ist zu entnehmen: Sagen, was man zu sagen hat. Informationsvermittlung. Auseinandersetzung mit einem Text, keine Selbstdarstellung.
Das ist das, was ich mir von einer Kritik erwarte.

 

Hallo,

gerade das repetitive Element ist doch das Spezielle hier in dieser Geschichte, verleiht ihr eine düstere Rhythmik. Fast wie Thomas Bernhard. Und diese Behauptung: "Das ist aber kein Horror!" - das hat sowas von diesem Nelson aus den Simpsons, der sich nur hinstellen kann und "Ha Ha!" macht. Das ist platt und auch nicht weiter diskussionswürdig.

Gruss, Jimmy.

 
Zuletzt bearbeitet:

Veto
So Leute, der letzte Kommentar von Keinstein bringt das Fass zum überlaufen: Persönliche Anfeindung und kein Bezug zur Geschichte.

Ich bitte euch, solche Diskussionen per PM, im Kaffeekranz oder Chat zu führen.
(Jeder weitere folgende Kommentar in diese Richtung wird gelöscht.)

 

Hallo Quinn!

Die ist ja sehr kurz. Trotzdem steckt eine Menge drin. Ich hab die Geschichte auch schon mehrmals gelesen, und ich hatte immer wieder Spaß daran. Was soll ich noch groß dazu sagen? Eine wirklich großartige Stelle:

In der Ecke der Wirtschaft aber sitzt zahnlos der Tod. War schon da, als wir kamen. Ist noch da, wenn wir gehen. Der Dorfschullehrer sieht ihn nicht. Der Wirt schenkt ihm nie nach. Verhungert ist er fast, seit keiner mehr im Bette stirbt. In die Stadt gehen sie. Sterben in Altersheimen und Sanatorien und lassen ihn darbend zurück. Vor ein paar Jahren mal ein Autounfall, da hat er eine Katze auf die Straße gescheucht. Mit letzter Kraft hat er sich von seinem Stuhl gehoben, sich auf die Straße geschleppt und ein Schusch-Schusch herausgebracht. Und als er dann, mit Messer und Gabel, möchte man meinen, zum Wrack des Autos geschlurft war: Nichts. Ein leerer Teller und schon bald das blaue Lärmen des Rettungswagens.
wirklich großartig. ich traue mich meistens gar nicht, deine geschichten so zu loben, wie sie es verdient hätten, gelobt zu werden. Irgendwie ist das schon eine andere Liga, was du so veröffentlichst. Da steckt so viel Liebe drin, dass man fast verrückt davon wird. Wie bekommt der das hin, denkt man. Mensch, wenn ich dann schreibe, was ich denke, sieht es aus, als würde ich mir erhoffen, gute Kritiken zu erschleimen. Aber wenn man dich "kennt", dann weiß man, dass das nicht funktioniert. Deshalb sag ich jetzt einfach mal: Deine Texte sind großartig, Quinn, der hier auch. Obwohl er so kurz ist, tauchtr man völlig ab. Das liegt an deiner Art, genau das zu sagen, was wichtig ist. Tschöö

Lollek

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi,

komisch, ich dachte, ich haette die Geschichte schon kommentiert. Wie dem auch sei. Mir hat's auch sehr gut gefallen. Das liest sich so bisschen wie ein Prolog zu einem Schinken, kann ich mir jedenfalls gut vorstellen. :) Ich wuerd den Schinken auch gerne lesen.

Sehr geile Metapher fuer dieses eine bestimmte Gefuehl, das einen manchmal ueberfaellt, wenn man glaubt, etwas verpasst zu haben, wenn man glaubt, woanders zu gehoeren oder eine Moeglichkeit, eine Chance nicht wahrgenommen zu haben, wenn man so ein Stich im Herz spuert oder hier eben die Schnur um das Herz. Wirklich schoenes Bild.

Letzten September hat ein Angler sie unten am Fluss gefunden. Noch Wochen später hat er über nichts anderes reden können. Die Leute fingen schon an, sich in der Wirtschaft von ihm wegzusetzen.
Voll traurig. Das war wahrscheinlich das Highlight in seinem Leben, nicht nur seinem Anglerleben. Ihr Tod wird seine Anekdote.
Als der Dorfschullehrer davon hörte, sagte er: Sie sei ins Wasser gegangen. Ein sehr symbolträchtiges Bild, das sich in der Weltliteratur ständig wiederfände. Aus dem Wasser kommen wir, ins Wasser gehen wir zurück. Es sei, so sagte er, der Versuch, ein Leben rückgängig zu machen. Sich zu entleben.
Das ist die Staerke dieser Geschichte fuer mich, die Figuren. Wobei ich hier dachte, ob der Dorflehrer zu dem Rest passt, seine Aussagen klingen wenig dorflehrer-artig. Klingt mehr nach Sekundaerliteratur. :P Er scheint schon fast zu intellektuell fuer die Geschichte oder das Dorf (oder es ist ein Vorurteil meinerseits). Man ist sonst nicht gewoehnt von Literatur in einer Geschichte zu lesen, es hat ne gewisse Metaebene, die dann mich als Leser aus der Geschichte wirft. Aber wie gesagt, hat mich jetyt auch nicht so sehr gestoert.
Auf Bildern sieht man die Zahnlücke, sie wächst mit den Jahren, verleiht ihr als Kind etwas Unschuldiges und Tapsiges, zur Zeit der Konfirmation sieht sie ein wenig verdorben damit aus und auf ihrem letzten Foto, mit siebzehn, hat sie ihren Mund geschlossen. Ansonsten ein dürres Ding mit wenig Busen und kaum Hüften.
Das ist so ein Typ, bei dem Frauen ihre Jaeckchen zusammenziehen oder die Arme verschraenken, so um den Busen zu schuetzen, weil er einen komisch anschaut.
Die Leute sagen: Das Internet. Das versteht ja heute keiner mehr. Der Dorfschullehrer aber sagt: Keiner kennt jemanden richtig. Das war schon immer so. Wir tragen Masken, sagt er. Ein kluger Mann. Hätte alles werden können, sagt man.
Ja, das mein ich. Der passt irgendwie nicht zum Dorf und auch nicht zu Geschichte, der ist fast schon ne Meta-figur, er interpretiert die Geschichte, leitet jedenfalls den Leser zu einer bestimmten Interpretation der Geschichte.
Der Pfarrer hat sich dafür eingesetzt, dass sie beerdigt werden durfte. Weil Selbstmörder eigentlich … da sind die Zeiten ja gottseidank anders, sagt man. Die Mutter kennt er noch von früher. Er darf nichts sagen, aber als er davon gehört hat, ist er in ein dumpfes Grübeln gefallen, hat mit seinen Händen immer wieder über die Tischplatte gestrichen und sich an die Brust gefasst, als hätte man ihm einen Strick ums Herz geschlungen.
Der Pfarrer ... hatte der ne Affaere mit der Mutter? Ist das seine Tochter? Also, ich habs so fuer mich interpretiert.
Die Mutter spürte ihre Blicke, als sie den Blumenstrauß so fest hielt, dass sich der Plastikstängel in ihre Handfläche bohrte. Anrüchig, dachte sie. Als hätten wir jetzt einen Makel. Bestimmt sagen sie, mein Mann hätte sie missbraucht. Er wird es nicht schaffen, er hat sie ja so vergöttert. Ich hab immer gewusst, dass etwas nicht stimmt mit ihr.
Ach, ach, ach.
Der Fluss schweigt. Ruhig plätschert er braun dahin. Wenn man die Hand in ihn hält, ist es ihm egal. Man kann ihm zunicken wie einem alten Freund. Seine Geheimnisse gibt er nicht preis.
In der Ecke der Wirtschaft aber sitzt zahnlos der Tod.
Sogar der Tod liegt im Sterben. Und der braune Fluss.
War schon da, als wir kamen. Ist noch da, wenn wir gehen.
Da hab ich mich schon gefragt, wer wir ist, also wer ist der Erzaehler, ist das einfach so eine Stimme aus dem Off, so eine Dorfstimme, keine richtige Figur, aber so ein moderner, omnipraesenter Erzaehler.
In die Stadt gehen sie. Sterben in Altersheimen und Sanatorien und lassen ihn darbend zurück.
Da denkt man, ja, der kann sich ja die von dort holen, aber es geht ja gar nicht so sehr um den Tod generell, sondern um den Verfall dieses Dorfes, da passiert nichts, es ist alles ziemlich leblos, es leben irgendwie gar keine jungen Menschen dort, der einzige war das junge Maedchen, das nun tot ist. Alle anderen waren schon vor ihrem Tod todungluecklich.
Es braucht nicht viel, um einen Gram zu weben, nur ein Stück Schnur ums Herz gewickelt.
Ja. Mein Lieblingssatz.

Hat mir gut gefallen. Ich fand's traurig, todtraurig. :) Kann deswegen auch die Wahl der Rubrik gut nachvollziehen.

JoBlack

edit: hab die Kommentare jetzt gelesen, ja, ist schon ziemlich alles gesagt worden. Bedank dich einfach fuer den Kommentar. ;)

 

Hallo dot,

Ich habe dein Stück Schnur schon zig mal gelesen und immer wieder gedacht, jetzt schreib ich was dazu, und dann, pfff.
Freut mich, dass du es dann doch gemacht hast. Ich finde immer noch, dass es schön ist, wenn man eine Rückmeldung gibt, nachdem man eine Geschichte gelesen hat.
Was mir an ihr so gefällt, ist eindeutig der Erzählstil, dieses Charakterskizzieren durch die indirekte Rede.
"Es sei, so sagte er, ..."
Auch die versteckten Details, wie die Plastikblumen oder "schaue aber nur den Wohnungsmarkt durch." sind Wegbereiter für die eigene Vervollständigung des Gesamtbildes.
Das freut mich, ich denke darum geht es bei den sehr kurzen Geschichten ja auch, dass sie im Leser irgendwie „aufgehen“.

Hier kommen natürlich mehrere Interpretationsvarianten in Frage: Hat er selber Schuld auf sich geladen oder trägt nur das Wissen über eine durch seine Absolution getilgte Sünde mit sich rum. Tja, wer frei von Schuld, der möge ... hrhr.
Das freut mich, wenn das klappt. Der „Pfarrer“ ist eine der Figuren, bei denen ich hoffte, dass sie dann – durch diese Anspielung – größer werden als sie im Text eigentlich sind. Dass der Leser eben was zu tun hat.
Klar, wenn man den Tod personifiziert, kann er nicht überall gleichzeitig sein, aber warum wird Gevatter Tod hier so ortsgebunden dargestellt? Wer holt denn an seiner Stelle die alten Leute aus dem Sanatorium raus? Obwohl das ein witziger Hieb auf unsere moderne Zeit ist, in der wir mit Medikamenten und immer neuen Behandlungsmethoden dem Tod seinen Futternapf hinausschieben, ging dieser Teil für mich nicht ganz auf.
Das ist ja ohnehin eine bestimmte Setzung „Der Tod als Sensenmann“, der personifizierte Tod. Da könnte man – und das haben sicher auch viele schon - in verschiedene Richtungen gehen. Ob man sagt: Jeder Berufsstand hat einen persönlichen Tod oder wie hier „jedes Dorf“ eben.
Für mich als Idee war hier auch da: Der Tod gehört eben mit an den Tisch, mit zu der Gemeinschaft dort. Wirt, Pfarrer, Lehrer, Tod.
Ich hatte schon mal eine ähnliche Geschichte, da war es statt dem „Tod“ eine Art Naturgeist, der so ein Dorf hatte. Es ist natürlich heute schon eine eher abwegige Idee, Dörfer und Orte als so eine Art Insel-System zu betrachten mit einem eigenen Tod. Natürlich ist es absurd zu sagen: Der allmächtige Tod ist nicht in der Lage, weiter als bis zur Dorfgrenze zu schlendern.
Aber wenn man es anders betrachtet: Wir sind im Jahr 2012, unterhalten uns über eine komplexe Maschinerie, von der wir keine Ahnung haben, wie sie funktioniert, und reden über eine mit Bedeutung aufgeladene halb-religiöse/halb-kulturelle Figur wie den „Sensenmann“, der aus einer ganz anderen Zeit und Geisteshaltung entspringt. Allein die Figur eines „Sensenmanns“ ist ja schon absurd, aber so schön stark und bildlich. Da dann halt einen ortsgebunden Tod daraus zu machen – ich brauchte es für die Geschichte. ;)

Gruß
Quinn

Hallo Anakreon,

Das beinah Utopische an dieser Definition amüsierte mich, es liegt Besänftigendes darin, als könnte es dem Sprecher den Schrecken nehmen, den er anscheinend empfindet.
Ja, das finde ich sehr gut. Jo schreibt später auch noch was zum Lehrer. Wenn man so will: Stehen wir nicht ratlos davor und versuchen uns mit dem Intellekt zu beruhigen? Also schützt das Wissen um das Schicksal der Ophelia denn vor so einer Tragik. Ich denke schon, dass der Lehrer das hier auch zu sich selbst sagt, um sich zu beruhigen.
Ich kann das erklären, es ist nicht so schlimm, denkt an Ophelia.
Da kam ich partout nicht dahinter, wie bei einem Menschen verwaschen schwarze Haare aussehen. Vielleicht ist es dieser stumpfe Farbton, der kraftlos und matt wirkt? Und gleich ein paar Muttermale, zentral platziert. Das Bild, das ich mir als Leser da mache, korrespondiert da nicht so recht mit ihrer Fröhlichkeit – aber dies ist natürlich mein Vorurteil zu ihren Äusserlichkeiten. Ihre Wesensart kann ja ganz anders sein.
Ja, stumpf – verwaschen schwarz/stumpf. Das ist ja mit solchen Bildern häufig so, dass es in den Geschmacksbereich reingeht. Ich könnte mich mit „stumpfem Schwarz“ auch anfreunden. Ich glaube „Verwaschen“ gefiel mir durch die Nähe zu der Fotografie und dem Wassertod und dass es so etwas hat, als würde man ein Foto betrachten. Die Muttermale – das muss ja nicht einen Menschen gleich entstellen. Es sollte deutlich werden hier: Sie ist keine Bilderbuch-Schönheit.
Eine merkwürdige Geschichte. Das Widerwillige zeigt sich eigentlich nur als die Vorstellungen in den Köpfen der Beteiligten, die es dem Leser suggerieren. Desungeachtet nahm ich es vergnüglich war, irgendwie unvollendet, aber dennoch lesenswert.
Das klingt sehr gut. Es ist schon eine ungewöhnliche Geschichte, denke ich auch, durch diesen Mockumentary-Stil.

Danke dir für deinen Kommentar
Quinn

Hallo Juju,

Ist halt auch so eine Kurzgeschichte … das hab ich dir glaub schon mal gesagt, die wirkt sehr abgerundet hier. Wie beim Weinverkäufer auch. Ich muss immer wieder an deine Metapher denken, Punkte und Bilder und Strecken und Striptease und so. Das ist so ein Bild mit einem schönen Striptease, denk ich mir.
Ich hab mir mal eine Weile vorgenommen, solche Geschichten zu schreiben. Kurz, Erzählstil, rund.
Ist auch schon wieder her, bin davon bisschen ab.

Auch wie das aufgeabut ist … da fängt man mit einer Leiche an, und dann ist es auch noch ein totes Mädchen, und man fragt sich natürlich, warum sie gestorben ist. Klassischer gehts nicht mehr, oder? Und dann kommen hier nach und nach die verschiedenen Stimmen zu Wort. Der Pfarrer meint dies, und ihr Leherer das …
Und sehr schön: was die Leute sagen. Hätte alles werden können, sagt man. So die Dorfleute halt. Das ist wie im Kirimi. Wer war's?
Und dann die Wendung: Hier spricht der Tod höchstpersönlich.
Jo. Ich hab mich in den ersten Satz verliebt und von da ging es dann weiter. Aber so ist die aufgebaut, klar.

Danke dir für den Kommentar
Quinn

Hallo herrlollek,

ich traue mich meistens gar nicht, deine geschichten so zu loben, wie sie es verdient hätten, gelobt zu werden. Irgendwie ist das schon eine andere Liga, was du so veröffentlichst. Da steckt so viel Liebe drin, dass man fast verrückt davon wird. Wie bekommt der das hin, denkt man. Mensch, wenn ich dann schreibe, was ich denke, sieht es aus, als würde ich mir erhoffen, gute Kritiken zu erschleimen.
Man muss da auch bisschen aufpassen. Ich kommentiere viel und beeinflusse dann andere Leute mit meinen Vorstellungen, welche Geschichten ich lesen möchte, und dann geht das so zurück auch.
Aber ist natürlich sehr schön, solche Kommentare zu lesen, klar.

Vielen Dank
Quinn

Hey Jo,

Voll traurig. Das war wahrscheinlich das Highlight in seinem Leben, nicht nur seinem Anglerleben. Ihr Tod wird seine Anekdote
Ja. Ist Wahnsinn, oder? Wenn man Leuten zuhört, was sie erzählen, und was da eigentlich dranhängt –wenn man versucht das in Relation zu setzen, wird man ja bekloppt. Novak sagte zu der Geschichte auch schon, dieses „Schad um sie!“ – was da dran hängt. Und hier setzt sich einer hin und erzählt jedem diese Geschichte.
Es gibt bei „From Hell“ mit Johnny Depp und Robbie Coltrane (dem Dicken, der großartig als Cracker war, den aber jeder nun als Hagrid kennt) eine Szene, da sagt der Dicke sinngemäß: Sie wissen doch, was aus Ihnen wird? Sie werden zu so einem Verlierer, der jedem das Ohr vollweint, dass er nicht das Mädchen bekommen hat, das er wollte. Die Leute im Pub werden anfangen, sich von ihnen wegzusetzen.
Daran hab ich gedacht, glaub ich. Das halt das Intellektuelle und das Abstrakte (also die Figur, die Depp spielt, hat da moralische Konflikte und ist sensibel) in einer anderen Sicht darauf zusammenschrumpft, was man sich abends in der Kneipe erzählt, wenn das wirkliche Leben anfängt.
Das sind halt so Ideen, die irgendwie bleiben und immer wieder auftauchen.
Letzlich schrumpft es darauf zusammen, was man erzählt, wenn man in einer Kneipe sitzt oder was man jemandem erzählt, den man frisch kennenlernt.
Wobei ich hier dachte, ob der Dorflehrer zu dem Rest passt, seine Aussagen klingen wenig dorflehrer-artig. Klingt mehr nach Sekundaerliteratur. :P Er scheint schon fast zu intellektuell fuer die Geschichte oder das Dorf (oder es ist ein Vorurteil meinerseits). Man ist sonst nicht gewoehnt von Literatur in einer Geschichte zu lesen, es hat ne gewisse Metaebene, die dann mich als Leser aus der Geschichte wirft. Aber wie gesagt, hat mich jetyt auch nicht so sehr gestoert.
Ja, ist mir klar geworden,a ls du das geschrieben hast. Das Spannende ist ja: Auch wenn er es weiß, es ändert nichts. Die Analyse ändert nichts an der Situation.
Ich hab neulich mrogens einen Vortrag auf 3sat gesehen: Professor Burke oder so, Soziologe, brillanter Vortrag über das Bildungssystem in Deutschland im Vergleich zu den USA, Migration, Aufstiegsmöglichkeiten, desaströse öffentliche Schule, Privatkindergärten in Berlin – war wirklich brillant, hab da zugehört und genickt, gedacht: Das ist einer dieser Leute, von denen ich da bei Focks geschrieben hab, die Elite, die alle Probleme schon klären wird, während ich Schweinsbraten mit Kroketten esse und darauf warte, dass die Eintracht implodiert.
. Dann kam er zum Ende und meinte so: Um das zu ändern, wäre eine gesellschaftliche Debatten nötig. Und ging ab.
Ich will damit sagen: Der Intellekt, der hier durch den Lehrer dargestellt wird, kann ein Problem vielleicht analysieren, dadurch wird es aber nicht geringer. Der Lehrer ist reflektiert, aber ohnmächtig wie die anderen Figuren.
Das ist so ein Typ, bei dem Frauen ihre Jaeckchen zusammenziehen oder die Arme verschraenken, so um den Busen zu schuetzen, weil er einen komisch anschaut.
Ja. Schönes Bild. Ich mein: Kellnerinnen werden doch so gesehen, oder? Das ist schon arg, wenn man das mal beobachtet, wie da getätschelt wird und was da für Sprüche kommen. Eine meine ersten Freundinnen hat, während der Abizeit, in einem Restaurant da ausgeholfen, um sich was dazu zu verdienen. Ich hab zu der Zeit für die Zeitung geschrieben, um bisschen Geld zu verdienen.
Einem von uns beiden wurde halt nicht der Hintern getätschelt.
Ja, das mein ich. Der passt irgendwie nicht zum Dorf und auch nicht zu Geschichte, der ist fast schon ne Meta-figur, er interpretiert die Geschichte, leitet jedenfalls den Leser zu einer bestimmten Interpretation der Geschichte.
Ja. Ich hab da auch an Lehrer aus meiner eigenen Schulzeit gedacht, bei denen man als Kind denkt: Wow, ist der klug. Und später, kriegt man halt so einen anderen Blick, dann denkt man: Der ist so gebildet und gibt Deutschuntericht für 15jährige auf dem Dorf. Jedes Jahr das gleiche. Das war hier so eine Idee bei der Figur „Hätte alles werden können, sagt man.“
Das ist doch bei Lehrern auch spannend. Es gibt sicher viele, die aus der Pädagogik kommen und wirklich Kinder heranwachsen sehen und fördern wollen. Es gibt aber auch – so Lehrer hab ich kennengelernt, grade Geisteswissenschaftler – dann ganz andere, die „nur“ Lehrer geworden sind.
Wir waren mal in der Schulzeit an so einem Uni-Schnuppertag und meine Gemeinschaftskundelehrerin hat sich mit einem Soziologe-Professor dort angelegt nach einem Vortrag und eine Abfuhr von dem bekommen (vor ihrer Klasse), dass mir heute noch schwindelig davon wird.
Gott, heute bin ich aber am rumlabern.
Ich will sagen: Lehrer ist eine echt spannende Berufsgruppe! Der hier ist sicher auch eine Meta-Figur, aber, ich denke, auch so eine spannende Figur in der Geschichte. Ist mein Liebling.
Der Pfarrer ... hatte der ne Affaere mit der Mutter? Ist das seine Tochter? Also, ich habs so fuer mich interpretiert.
Ich hatte beim Schreiben diese Idee, ja. Zumindest dass er die Mutter begehrt hat und hier noch mal über sein Leben nachdenkt. Vielleicht hat er als „Seelsorger“ versagt. Vielleicht war die Tochter bei ihm, vielleicht hat er ja gesehen, dass sie Schwierigkeiten hatte, hat aber nichts gemacht. Ich hab’s dann aus der Geschichte rausgelassen. Es sollte nur klar werden: Es geht ihm sehr nahe. Irgendwas ist da.
Da hab ich mich schon gefragt, wer wir ist, also wer ist der Erzaehler, ist das einfach so eine Stimme aus dem Off, so eine Dorfstimme, keine richtige Figur, aber so ein moderner, omnipraesenter Erzaehler.
Ja. Eine Dorfstimme. Eine höhere Entität, wenn man so will. Der einzige, der seine Hand in den Fluss steckt, in der Geschichte, oder der ihm zuwinkt, ist der Tod und das „man“, der Erzähler.
Wenn es einen ortsgebundenen Tod gibt, vielleicht gibt es dann auch einen ortsgebundenen Geist? Ein personifizierter Genius loci.
Da denkt man, ja, der kann sich ja die von dort holen, aber es geht ja gar nicht so sehr um den Tod generell, sondern um den Verfall dieses Dorfes, da passiert nichts, es ist alles ziemlich leblos, es leben irgendwie gar keine jungen Menschen dort, der einzige war das junge Maedchen, das nun tot ist. Alle anderen waren schon vor ihrem Tod todungluecklich.
Der Professor hat das in dem Vortrag auch so gesagt z.b. Dass es Gegenden in Deutschland gibt, aus denen die jungen, „bildungsmotivierten“ Frauen wegziehen, und zurück bleibe eine „schwierige, überwiegend männliche Restpopulation“. Das ist – im Prinzip – der Hintergrund zu „Bauer sucht Frau“ und dieser faszinierenden Nummer, in der ein Bus mit unverheirateten Stadtfrauen durch die Gegend gefahren wird, und an jeder Station lernen sie „fesche Landburschen“ kennen und müssen sich entscheiden, ob sie aussteigen. „Ein Bus voller Bräute“ .
Hab gehört in China entführen sie Frauen aus Nachbarländern und verschachern sie an Single-Männer, weil durch die Ein-Kind-Politik verstärkt Mädchen abgetrieben wurden und es in China als Schande gilt ein unverheirateter Mann zu sein – „kahler Ast“, nennt man das dort.
Da sehnt man sich doch nach einem Sensenmann zurück, oder?

Danke dir für den Kommentar!
Quinn

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom