- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 47
Nur ein Stück Schnur
Letzten September hat ein Angler sie unten am Fluss gefunden. Noch Wochen später hat er über nichts anderes reden können. Die Leute fingen schon an, sich in der Wirtschaft von ihm wegzusetzen.
Als der Dorfschullehrer davon hörte, sagte er: Sie sei ins Wasser gegangen. Ein sehr symbolträchtiges Bild, das sich in der Weltliteratur ständig wiederfände. Aus dem Wasser kommen wir, ins Wasser gehen wir zurück. Es sei, so sagte er, der Versuch, ein Leben rückgängig zu machen. Sich zu entleben.
Der Wirt sagte: Die Arme. Dabei war sie immer so fröhlich. Hat ja hier bedient, montags und mittwochs, oft gelacht. Und lachen konnte sie. So eine Zahnlücke und die Haare. Wirklich ein fesches Mädchen. Konnte nie still stehen. Schad um sie.
Auf Bildern sieht man die Zahnlücke, sie wächst mit den Jahren, verleiht ihr als Kind etwas Unschuldiges und Tapsiges, zur Zeit der Konfirmation sieht sie ein wenig verdorben damit aus und auf ihrem letzten Foto, mit siebzehn, hat sie ihren Mund geschlossen. Ansonsten ein dürres Ding mit wenig Busen und kaum Hüften. Wie mit der Schnur gezogen von der Sohle bis zum Scheitel. Die Haare von verwaschenem Schwarz, ein paar Muttermale unter der Nase und im Bereich des Kinns. Macht keinen sehr hellen Eindruck, aber der kann täuschen.
Der Vater sagt gar nichts. Schwarz trug er für zwölf Wochen. Aber auch dann sah man ihn nicht mehr in der Wirtschaft, nicht auf dem Fußballplatz und auch in der Kirche keine Spur von ihm. Er hat die Arbeitsstelle gewechselt, sagt man, fahre nun jeden Tag bis in die Stadt, kaufe sich jeden Morgen am Bahnhof die Zeitung, schaue aber nur den Wohnungsmarkt durch. Niemand macht ihm einen Vorwurf. Die jungen Dinger, denkt man. Da wisse keiner, was in ihnen vorgeht. Die Leute sagen: Das Internet. Das versteht ja heute keiner mehr. Der Dorfschullehrer aber sagt: Keiner kennt jemanden richtig. Das war schon immer so. Wir tragen Masken, sagt er. Ein kluger Mann. Hätte alles werden können, sagt man.
Der Pfarrer hat sich dafür eingesetzt, dass sie beerdigt werden durfte. Weil Selbstmörder eigentlich … da sind die Zeiten ja gottseidank anders, sagt man. Die Mutter kennt er noch von früher. Er darf nichts sagen, aber als er davon gehört hat, ist er in ein dumpfes Grübeln gefallen, hat mit seinen Händen immer wieder über die Tischplatte gestrichen und sich an die Brust gefasst, als hätte man ihm einen Strick ums Herz geschlungen.
Die Mutter spürte ihre Blicke, als sie den Blumenstrauß so fest hielt, dass sich der Plastikstängel in ihre Handfläche bohrte. Anrüchig, dachte sie. Als hätten wir jetzt einen Makel. Bestimmt sagen sie, mein Mann hätte sie missbraucht. Er wird es nicht schaffen, er hat sie ja so vergöttert. Ich hab immer gewusst, dass etwas nicht stimmt mit ihr. Ich hab’s immer gewusst. Da fing sie an zu weinen, und suchte die Schulter ihres Mannes, der hart und kalt war wie eine Statue. Nicht genug Trost, einen Fingerhut zu füllen.
Der Fluss schweigt. Ruhig plätschert er braun dahin. Wenn man die Hand in ihn hält, ist es ihm egal. Man kann ihm zunicken wie einem alten Freund. Seine Geheimnisse gibt er nicht preis.
In der Ecke der Wirtschaft aber sitzt zahnlos der Tod. War schon da, als wir kamen. Ist noch da, wenn wir gehen. Der Dorfschullehrer sieht ihn nicht. Der Wirt schenkt ihm nie nach. Verhungert ist er fast, seit keiner mehr im Bette stirbt. In die Stadt gehen sie. Sterben in Altersheimen und Sanatorien und lassen ihn darbend zurück. Vor ein paar Jahren mal ein Autounfall, da hat er eine Katze auf die Straße gescheucht. Mit letzter Kraft hat er sich von seinem Stuhl gehoben, sich auf die Straße geschleppt und ein Schusch-Schusch herausgebracht. Und als er dann, mit Messer und Gabel, möchte man meinen, zum Wrack des Autos geschlurft war: Nichts. Ein leerer Teller und schon bald das blaue Lärmen des Rettungswagens.
Und dann das Mädchen. Konnte nie still stehen, tippelte an ihm vorbei und ließ sich, wenn’s spät schon war, von kräftigen Händen den dürren Hintern betatschen. Es braucht nicht viel, um einen Gram zu weben, nur ein Stück Schnur ums Herz gewickelt. Und ein Seufzen, wenn die Träume fortfahren in eine andere Stadt. Bis in die Waschräume ist er ihr nachgegangen. Wenn sie vorm Spiegel stand und sich durch die Haare fuhr, ihr Spiegelbild verfluchte und den Mund zusammenkniff, dass man ihre Zähne nicht sehen konnte.
„Ach“, seufzte er dann. „Ach“, „Ach“ und nochmals „Ach“. Er hat jetzt eine andere, du warst ihm immer viel zu dumm. In der Stadt ist er, in der Stadt bleibt er und du bist hier.
Das Wasser lief ihm schon im Mund zusammen.
Und jetzt sitzt er da. Den Mund noch voll. In all seiner Pracht. Der Dorfschullehrer sieht ihn nicht, der Wirt schenkt ihm nie nach. Und wenn ihm danach ist, steht er auf, geht festen Schritts ein paar Straßen entlang und schleicht ins Schlafzimmer der Eltern, wispert Worte, seufzt einmal und schleicht weiter. Den Dorfschullehrer besucht er noch, auch den Pfarrer, den Wirt, mit den kräftigen Händen.
Und bevor er an seinen Platz zurückgeht, besucht er den Fluss. Hält eine Hand ins Wasser und nickt ihm zu, wie einem alten Freund.