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Notfallplan

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28.12.2009
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Notfallplan

Er sieht in den Seitenspiegel. Die Geschäfte liegen dunkel und verschlossen am Straßenrand. Mülltonnen stehen abholbereit auf dem Bürgersteig. Die Ampel springt auf Grün.
„Hast du ihm das Sedaplus gegeben?“
„Ja“, sagt sie leise und lehnt sich in den Beifahrersitz.
Landschaft zieht vorüber. Wiesen. Zuckerrübenfelder. Auf dem Fluss hellgelbe Schaumflocken. Saatkrähen sitzen in der Krone einer Pappel. Zwei Lastwagen auf der rechten Spur. Er schaltet und überholt.
„‘s dauert nicht lang, ja? Hast du mir versprochen.“
Er schüttelt den Kopf. „Ist `ne Raststätte vor Köln.“
Sie sieht aus dem Fenster. Die Leitplanke ein langer weißer Strich. „Hab ihm noch `ne extra Decke eingepackt.“
Er legt beide Hände auf das Lenkrad. „Lass das mit der Decke. Finden se nachher raus, wo du die gekauft hast.“
„Aber ich will nicht, dass er friert.“
„Das reicht so."
Sie senkt den Blick und öffnet das Seitenfenster einen Spalt. Kalte Luft strömt über ihr Gesicht. „Max“, sagt sie nach einer Weile und sieht in den Rückspiegel. Ihr Gesicht entspannt und wird ganz weich. „Wie mein Opa.“
Er streicht mit dem Daumen über ihre Wange. Sie dreht den Kopf zur Seite. Der Motor läuft fast lautlos. Neonlichter flirren am grauen Horizont.

 
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Hey Jimmy,

das Baby kommt, der Hund muss weg, das lese ich aus den Zeilen heraus. Keine Ahnung, ob mir das gefällt. Ich mein, der Text als solches. Hat mich sehr an die Geschichte von dem Ehepaar erinnert, die sich das Babybett angesehen haben (war auch zu einer Challenge, oder irre ich mich?), die mir aber um Längen besser gefallen hat. Sie hat mir mehr erzählt, hat mich emotional berührt, das tut dieser Text überhaupt nicht. Ich weiß z.B. nicht, warum der Hund weg muss. Vielleicht ist es genau deswegen, hier gibt es keine Hintergründe, keine Motivation aus der heraus gehandelt wird. Vielleicht lese ich das auch nicht in deinem Sinn, aber das muss ich ja sowieso nicht. Und in meinem Sinn bleibt dieser Text eben zu sehr an der Oberfläche.

Weißt, was ich cool gefunden hätte, wenn sie Opa Max da aussetzen würden. Dann hätte das was ganz, ganz böses, was einen wirklich wegknallt, auch auf die Kürze. Ich mein Hund, Katze, Maus aussetzen ist auch nicht schön, aber leider Alltag, aber so Opa abstellen - doch das hätte was. Allerdings würde die Spur (nach der Identifikation) ja doch wieder zu ihnen führen, sprich, der Plot würde an der Logik scheitern. Schade eigentlich ...

Hau rein!
Beste Grüße, Fliege

edit: Lese gerade den nächsten Komm. Okay, Baby könnte auch sein, das wäre dann so ein Knalleffekt wie Opa. Allerdings finde ich das auch nicht als logisch rund. Wenn ich möchte, dass das Kind gefunden wird, dann wähle ich doch die Babyklappe. Aber gut, tun auch nicht alle, weiß der Teufel was die Leute dazu antreibt. Aber genau das hätte mich in diesem Fall interessiert. Die Motivation. Und ich verstehe dann auch nicht, warum sie dem Kind doch noch einen Namen gibt. Sie könnten an der Raststelle vorbei fahren, weil sie aus irgendeinem Grund gerade anfängt, eine Bindung aufzubauen. Ach was weiß ich. Mehr Fragen aufgeworfen, als beantwortet.

 

Hey Fliege,

ja verdammich! Ich muss da was ändern, Kollege hat da auch einen Hund rausgelesen, aber es ist doch ein Kind bzw ein Baby! Ich dachte, mit Sedaplus und dem Namen, dem sie ihm am Ende geben möchte, so als Abschied sozusagen, wäre es ausreichend. Wohl eher nicht. Muss ich also überdenken. Danke dir auf jeden Fall für deinen guten Kommentar.

Gruss, Jimmy

 

HI Fliege,

ich frage mich, wie du hier auf ein Haustier kommst? ;-)

Das Baby wird ausgesetzt. Die Frau will ihm am Ende noch einen Namen geben, obwohl es eigentlich egal ist.

Mir ist die Geschichte auch zu kurz um etwas auszulösen. Sehr abgestumpft erscheint das ganze. So muss man wohl fühlen, wenn man sein Baby aussetzt.
jimmysalaryman, du wolltest mit der Kürze sicherlich etwas erreichen. Mir ist nicht ganz klar was. Warum lieferst du nicht etwas mehr Hintergrundinformationen?

Liebe Grüße,
Nichtgeburtstagskind

 

Hallo christianheynk,

danke für deinen Kommentar. Ja, es ist ein kleines Baby. Wie alt, wird nicht genau gesagt. Ich denke, vielleicht ein paar Monate. Auf die Idee bin ich gekommen, weil hier an der Raststätte etwas Ähnliches vor Kurzem passiert ist. Gab auch mal ein ganz ähnlichen Text hier im Forum, der mich nie ganz losgelassen hat. Am Ende mit dem Namen, das ist ein Anflug von ihr, so ein letztes Loslassen. Vielleicht muss ich da seine Erwiderung rausnehmen, um das deutlicher zu machen. Es ist ja auch seine Idee, also er ist da dominierend, sie ist sich da absolut nicht sicher. Sedaplus kann wohl auch von Babies für kurze Zeit eingenommen werden, habe ich recherchiert. Also könnte es so sein. Das mit der Babyklappe - klar, das kann sein, es wird sicher auch genutzt, aber hier war eben dieser Fall, wo ein Baby ausgesetzt wurde. Das hat mich nicht mehr losgelassen.

Gruss, Jimmy

 

Jetzt hast Du geantwortet, während ich noch was nachgetragen hab. Ich glaub, dass sie dem Kind am Ende doch einen Namen gibt, ist für mich das KO-Kriterium gewesen. Aber die anderen beiden haben es herausgelesen, also, vielleicht doch nicht ändern.

 

Nichtgeburtstagskind,

Hallo und danke für deinen Kommentar. Jeder liest Texte mit seinem eigenen Filter, das ist eines der Dinge, die ich in den Jahren hier gelernt habe. Für den einen sind diese Details der Schlüssel, für den anderen ganz andere Sachen, und am Ende ergibt es divergierende Bilder. Bin ich mit einverstanden. Das hier ist auch für mich eher ein Experiment gewesen, Kürze, Kompaktheit. Hintergrundinformationen, wie du es sagst, interessieren mich grundsätzlich an Figuren nicht so sehr, das muss sich aus dem Text heraus erschließen, meint, der Leser soll oder kann sich das denken. Hier finde ich jetzt, für meinen Teil, korrespondiert der Text auch sehr mit dem Titel. Ich muss nicht genau wissen, warum sie das tun, aber ich habe eine vage Ahnung. Was will ich damit erreichen? Ich denke, es geht hier um eine Punchline, wie Fliege das auch beschrieben hat, ein böses Ende sozusagen.

Gruss, Jimmy

 

Hallo jimmy,

ich habe auch sofort Baby rausgelesen, das mit dem Namen fand ich schon sehr deutlich.
Aber für mich passt es nicht.
Ich denke die ganze Zeit: Wer setzt denn sein Neugeborenes irgendwo aus, wenn es Babyklappen und anonyme Adoption gibt?
Warum ich schließe, dass es ein Neugeborenes ist? Wenn das Baby mehrere Monate alt ist, und die Mutter an ihm hängt, dann hätte sie ihm doch schon längst einen Namen gegeben. Und wenn ihr das Kind egal ist, oder sie aufgrund der schwierigen Situation (die sie zwingt, das Kind auszusetzen) dicht gemacht hat und es gar nicht mehr so recht an sich ranlässt, dann muss sie ihm am Ende auch keinen Namen mehr geben.

Natürlich gibt es Antworten auf die Frage nach dem Warum, Menschen tun das immer wieder, ihre Babys aussetzen, aber keinen der Gründe, die ich mir dafür denken kann, finde ich in deiner Geschichte wieder.
Weder lesen sich die beiden für mich sehr jung, so dass sie zB die Reaktion ihrer Eltern befürchten, noch lese ich einen kulturellen oder religiösen Hintergrund heraus, Kurzschlussreaktion, weil man mit dem Baby dauerhaft extrem überfordert ist, postnatale Depression der Mutter, die daran verzweifelt, dass sie ihr Kind vermeintlich nicht lieben kann ...
Das Ganze ist geplant - die wirken beide ziemlich klar im Kopf, nicht verängstigt, panisch oder extrem ungebildet.

Jetzt lese ich in einem der Kommentare, dass er da sehr domierend sei. Das wird für mich aus dem Text heraus auch nicht klar. Da würde ich zumindest angedeutet lesen wollen, dass es nicht ihre Entscheidung ist. Dass sie ihm den Namen zum Beispiel mitteilt als Appell, als Bitte, als das Nein, das sie ihm nicht ins Gesicht sagen kann. Kein Abschied, sondern ein letzter Versuch, ihn umzustimmen.
Würde klar werden, dass er das so will, dann würde ich dir das Aussetzen auch abkaufen. Dann würde ich ihn mir als jemanden vorstellen, der auf keinen Fall irgendwie komisch angeschaut werden will von Leuten, der auf keinen Fall will, dass er offen die Verantwortung für diese Entscheidung übernehmen muss. Also keine Babyklappe und keine Adoption.


Grüße
Gefrierpunkt.

 

Hallo Gefrierpunkt,

Babies werden ausgesetzt, trotz Babyklappe und anonymer Adoption.

https://www.waz.de/staedte/muelheim...t-neugeborenes-in-muelheim-aus-id7772898.html

https://www.rundschau-online.de/reg...tter-von--baby-paul--gesteht-ihre-tat-1335128

Nur mal zwei Fälle, die ich rasch gegoogelt habe. Das Baby, was an der Siegburger Raststätte ausgesetzt wurde, das ist ein paar Jahre her. Das ist also für mich kein widerlogisches Argument. Fakt ist, das passiert.

Aber keinen der Gründe, die ich mir dafür denken kann, finde ich in deiner Geschichte wieder.
Das liegt aber nicht am Text, sondern an dir, an deiner Lesart. Ich habe da als Autor jedenfalls keinen Grund intendiert, weil die mich im konkreten Fall nicht so sehr interessiert haben. Notfallplan als Titel, das gebe ich gerne zu, und dann dieser kurze Text, der schlagartig endet, das steht für mich in einer Ergänzung - ich habe da diese finale Autofahrt im Kopf, wo etwas passiert, und das hat mich interessiert. Im Grunde dieser Moment, in dem der Leser reflektiert, kein direkter Schock, aber ein Punch.

Ich habe da gestern noch was dran geändert, damit seine dominierende Seite besser rauskommt, das ist ein wertvolles Input von dir, weil da an der Gewichtung etwas nicht stimmt, da gebe ich dir Recht. Bei einem so kurzen Text ist es immer sehr schwer, finde ich, da ein Gleichgewicht so hinzukriegen, das alles so passt, wie man es als Autor sich vorstellt.

Danke dir für deine Zeit und deinen Kommentar.

Gruss, Jimmy

 

Hallo jimmy,

ich habe in meinem Kommentar ja schon gesagt, dass sowas natürlich immer wieder vorkommt.
Aber deine Links machen auch deutlich, das sind Menschen, die auf irgendeine Art und Weise komplett mit der Situation überfordert sind.

Du sagst, dass ich im Text keinen der Gründe wiederfinde, aus denen Menschen in der Regel ihre Babys aussetzen, würde nicht am Text liegen, sondern an meiner Lesart. Gleichzeitig sagst du, du als Autor habest gar keinen Grund intendiert. Das widerspricht sich doch schon in sich.
Ich mag Texte, die zulassen oder mich sogar zwingen, meine eigene Interpretation zu finden, und ich glaube, das kann auch bei sehr kurzen Texten funktionieren.

Mich stört auch gar nicht, dass ich mir beim oder nach dem Lesen die Frage nach dem Warum stelle. Eine richtig gute Punchline löst das vielleicht sogar aus, dass man sich danach gedanklich noch mal mit dem Text befassen muss. Aber die Frage nach dem Warum überschattet hier für mich die Geschichte, weil sie sich aus Widersprüchlichkeiten im Text ergibt.
Im Prinzip ist schon dein Titel ein Widerpruch zum Text - Notfallplan. Da wurde ein Plan für den Notfall gemacht, aber ich sehe keinen Notfall. Ich sehe keine Menschen, die in Not sind. Ich sehe nur den Plan. Und eine Mutter, die ihr Kind anscheinend liebt, also muss da irgendeine Kraft sein, größer als diese Liebe, die sie zwingt, ihr Kind auszusetzen. Ich glaube, dass du Gründe zeigst, das brauche ich gar nicht, aber irgendeine Form von Konflikt. Wo und wie und wann der stattfindet oder stattgefunden hat, ist wahrscheinlich sogar auch nebensächlich.

Ich glaube, das lässt sich wirklich mit dem Feinschliff an der Gewichtung lösen. Dann kriegt die Situation zwischen den beiden ein (anderes) Gesicht.
Dazu noch was, das vielleicht interessant für dich ist: Die Stelle, als er ihr mit dem Daumen durchs Gesicht streicht und ihr diese Antwort gibt, das liest sich für mich, als würde er ihr Trost spenden. Sie unterstützen. Und das liest sich für mich auch, als würde sie die Entscheidung treffen, das Baby auszusetzen. Vorher sagt er ja auch, dass man sonst rausfinden könnte, wo sie die Decke gekauft hat. Als wäre das alles ihr Plan und er gäbe ihr an der Stelle einen Tip zur Durchführung oder so.


Das war's von mir. Bin gespannt, was du mit dem Text noch machst.

Grüße
Gefrierpunkt.

 

Naja, ich weiß nicht. Natürlich ist das eine Fiktion. Da gibt es immer einen gewissen spekulativen Anteil. Wir wissen ja auch in der Tat nicht, wie sich Menschen in einer solchen Situation verhalten. Das versucht man ja mit der Fiktion zu begründen, oder vielmehr einen Versuch damit anzustellen. Ist immer leicht zu sagen: Ich glaube das nicht. Mir geht das übrigens genauso, ich glaube auch viele Texte nicht, bzw deren Figuren. Deswegen denke ich, gibt es auch nur von jedem Autoren eine Handvoll guter Geschichten.

Ich empfinde auch keinen Widerspruch. Natürlich habe ich Gründe im Kopf, warum Babies ausgesetzt werden. Aus eiskalter Berechnung, aus Überforderung, aus Geldmangel, aus einer plötzlichen Panik, sich der Verantwortung nicht stellen zu wollen. Das kann multiple Gründe haben. Ich meine nur: Ich habe da keinen konkreten Grund intendiert. So habe ich das gemeint.

Zum Titel. Notfallplan ist natürlich in der Kombination mit dem Text vielleicht sogar zu schwach. Der Notfall, das wäre ja der Grund, warum sie es tun, und der wird nicht genannt. Darauf muss man sich natürlich einlassen, und ich sehe auch, wie man da als Leser zumacht und sagt: Das reicht mir nicht. Das versuche ich ja, herauszufinden. Ich würde mir diesen Text in einem Band auch eher als Zwischenstück sehen, als Interlude sozusagen. Trotzdem soll er in sich stimmig und stark sein. Mir ist natürlich auch bewusst, dass solche Punchlines nicht mehr als ein Kabinettstückchen sind. Ich finde das aber trotzdem interessant, mal auch mit wirklich kurzen Textstrecken zu arbeiten. Dafür sind wir ja hier.

Konkret: Ich habe seine Antwort mal rausgenommen. Ich finde das Ende jetzt härter und auch runder, bin aber noch nicht ganz zufrieden. Ich arbeite dran.

Danke für deinen Kommentar.

Gruss, Jimmy

 

Hallo Jimmy,

ich war nach dem Lesen des Textes stark damit beschäftigt, mir immer wieder neue Theorien zu überlegen, was da wohl passiert. Immer sprach irgendetwas dagegen. Flieges Hund hatte ich tatsächlich auch mal. Du hast das Geheimnis ja jetzt gelüftet. Ich schreib mal, wo ich gestolpert bin.


„Hast du ihm das Sedaplus gegeben?“
„Ja“, sagt sie leise und lehnt sich in den Beifahrersitz.

Sedaplus habe ich auch gegoogelt und kam auf ein Kind auf dem Rücksitz, auch, weil sie leise spricht.

„‘s dauert nicht lang, ja? Hast du mir versprochen.“
Er schüttelt den Kopf. „Ist `ne Raststätte vor Köln.“

Der erste Satz, da dachte ich, an dieser Raststätte passiert etwas mit dem Kind, was nicht lange dauert, aber was über bloßes Ablegen hinaus geht.


„Das reicht auch so“, sagt er. „Die Decke da reicht.“

Da habe ich gegoogelt, ob es an Raststätten Babyklappen gibt. In denen schon Decken liegen.

„Aber ich will nicht, dass er friert.“

Das finde ich sehr berührend. Wie sie versucht das Bild von sich als guter Mutter zu retten.


„Max“, sagt sie nach einer Weile. „Max, wie mein Opa.“ Ihr Gesicht entspannt und wird ganz weich. Er streicht ihr mit dem Daumen über die Wange. „Wie du willst, natürlich.“

Und hier dachte ich an eine merkwürdige Taufzeremonie. Sonst irritiert es mich, dass das Kind schon ein paar Monate alt ist und noch keinen Namen hat. Aber wenn es ein Neugeborenes wäre, würde ich erwarten, dass sie noch Anzeichen einer überstanden Geburt zeigt.
Das „Wie du willst, natürlich.“ klingt übrigens sehr förmlich, passt für mich nicht ganz so zu dem übrigen Sprachduktus.

Seine Haltung ist eigentlich ziemlich klar, ihre Verfassung ist viel komplizierter, sie schwankt zwischen Verleugnung, Wegdrücken (möglichst schnell hinter sich bringen wollen), am Ende driftet sie fast in sowas Abgespaltenes, als würde das gleich gar nicht passieren. Das ein Gesicht so weich wird, kann im Moment einer schweren Traumatisierung passieren, vorher schreckliche Angst und Anspannung, dann die totale Selbstaufgabe. Vielleicht hier noch ein Hinweis, dass sie sich nicht wirklich entspannt, dass ihr Blick z.B. nicht weich wird, sondern leer.

Für mich müßte es da doch noch mehr Informationen geben, sonst gerate ich so sehr ins Rätseln und verliere sofort das beklommene Gefühl, was der Text auslöst, denke in alle Richtungen und bekomme doch keine zusammenhängende Gestalt. Auch der Titel hat mir da nicht so weitergeholfen, mich eher noch mehr verwirrt. Das Elektrisierende, was deine reduzierte Schreibweise für mich sonst hat, schlägt hier doch um in Frustration.

Ich glaube, die Punkte, die ich hatte, haben auch schon andere angesprochen, aber vielleicht ist es auch hilfreich, zu hören, dass es mehreren so geht.

Liebe Grüße von Chutney

 
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Hallo Jimmy

Ich nehme den Text als das, was er ist. Dass du so was auserzählen könntest, ist klar. Entscheidend für mich ist, ob der Text in dieser Form funktioniert oder nicht.
Für mich hat er funktioniert. Das bedeutet, dass ich den Text weggelegt habe und er nachgewirkt hat. Dennoch habe ich dazu noch eine Überlegung, siehe weiter unten.

Mit der Plausibilität hatte ich keine grundsätzlichen Schwierigkeiten. Nur weil es diese Angebote gibt, heisst das noch lange nicht, dass sie auch immer genutzt werden. Allerdings hast du hier eine Zweierkonstellation. Ich habe mir das bisher so vorgestellt, dass eine Frau, die die Babyklappe nicht nutzt, alleine und verzweifelt handelt – vielleicht ist ihr nicht einmal bewusst, dass es diese Möglichkeit gäbe. Hier hast du allerdings den Typen mit dabei und da habe ich schon etwas gestutzt. Aber vielleicht kennt auch er diese Möglichkeit nicht. Vielleicht hat er Angst, da werde heimlich gefilmt und man käme ihnen auf die Spur. Der Dialog zur Decke weist ja in die Richtung, dass es ihm äusserst wichtig ist, nicht entdeckt du werden. Wie auch immer, es gibt Lesarten, die passen. Das funktioniert.
Ah, doch noch was: Die machen das am helllichten Tag (hellgelbe Schaumflocken). Intuitiv würde man da vielleicht den Schutz der Dunkelheit suchen. Auf der anderen Seite wollen die beiden, dass das Kind gefunden wird, also ist der Tag doch wieder besser.

Was für mich nicht ganz funktioniert hat, ist das „Sedaplus“. Ich musste das googeln, da steht „Kleinkinder“ und das war mir schon fast zu viel Information, zu früh. Ich dachte an Entführung oder Aussetzung. Bei der Decke war’s dann klar.
Also, dieses Sedaplus, weil es ein Fremdwort, ein Fachbegriff ist und weil der Text sehr kurz ist und das so früh kommt, da ist sofort klar, dass hier ein Schlüssel zur Geschichte serviert wird, ich empfand das als (zu) bewusst gesetzten Hinweis. Wenn der Typ nur fragen würde: „Schläft er?“ Dann brauchst du vielleicht etwas mehr Strecke, je nachdem, wann du den Leser verstehen lassen willst. Sobald klar wird, worum es geht, liest man auch anders, nimmt die Interaktion zwischen Typ und Frau anders wahr. Da kann man sehr gut steuern. Es wäre auch spannend, zunächst etwas Interaktion zu zeigen, und dann erst zur Sache zu kommen. Bei „Hügel wie weisse Elefanten“ kommt der Satz: „Es ist wirklich eine furchtbar einfache Operation“ erst nach etwa einem Drittel des Textes. Das wirkt dann ganz anders.

Den Dialog zur Decke finde ich sehr stark, da steckt alles drin, ist für mich der Kern des Textes. Interessant ist die Formulierung: „wo du die gekauft hast“. Das weist so ein wenig in die Richtung, dass er sich darum sorgt, dass sie entdeckt wird. Ich lese aber aus der Konstellation heraus, dass es vor allem er ist, für den etwas auf dem Spiel steht, er ist es, der nicht entdeckt werden will. Ich weiss nicht, ob sich das in der Aussage abbilden müsste, also dass er sich selbst auch erwähnt. Aber wenn er kontrolliert und manipulativ ist - und das muss er sein, wenn er sie dazu bringt, das zu tun, was sie tut - dann vielleicht auch in dieser Formulierung. Ich denke für dich mit, das ist alles nur zu deinem Besten!

„Wie du willst, natürlich.“

Finde ich sehr spannend. „Wie du willst“, wäre hart und kühl. Das würde sich nahtlos an „Die Decke da reicht“ anschliessen. Mit dem „natürlich“ hast du so ein kleines Entgegenkommen drin, einen etwas weicheren Ton. Und weil das das letzte Wort ist, das der Typ ausspricht, bekommt der Text dann am Ende noch mal eine leicht andere Note, also, das „natürlich“ hat mich überrascht. Ich denke da plötzlich auch daran, dass die beiden womöglich aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammen. Dass er was zu verlieren hat, er ihr auch mal entgegenkommen muss, dass sie vielleicht minderjährig ist und er nicht, etc. Das wäre dann so zu erklären, dass er von der Schwangerschaft nichts gewusst oder sehr spät erfahren hat. Also, da kurbelt der Text schon was an, trotz seiner Kürze.

P.S. Während ich das schreibe, hast du den Satz rausgenommen. Das macht den Text härter, wie du selbst sagst. Aber das nimmt mir jetzt einiges weg. Schade! :(

Fast die Hälfte des Textes ist Landschaftsbeschreibung, ist mir noch aufgefallen. Die leistet viel, das ist gut gemacht, finde ich.

Den Titel mag ich nicht. Der klingt mir einerseits zu wenig ernst, also ich kann das nicht so recht begründen, aber bei diesem Titel erwarte ich eher eine Satire oder so. Und dann scheint er mir zu sehr in Richtung kopfloses Handeln zu weisen, und das entspricht nicht ganz dem, wie ich den Text gelesen habe.

Ich finde den Text gelungen. Ist natürlich ein mutiger Beitrag im Rahmen einer Challenge und lässt einen wegen seiner Kürze über die Kriterien nachdenken, aufgrund derer man seine drei Stimmen vergibt.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Chutney

Vielen Dank für deine Zeit und deinen Kommentar.

Dieses "'s dauert nicht lang" bezieht sich auf die Zeit, wo das Baby alleine an der Raststätte liegt. Ich vermute, das setzt sich aber retrospektiv erst so richtig zusammen.

Schön, dass du dies mit der Mutter so liest, wo sie sagt, sie will nicht, dass er friert. Bei allem anderen grübele ich noch. Auf der einen Seite will man ja nichts aufgeben, aber oft sind es auch nur subjektive Empfindungen des Autoren, wo der Leser nicht mitgeht. Schwierige Entscheidungen. Was wären denn Zeichen einer eben überstandenen Geburt? Ich habe da null Ahnung.

Ich hab den Text jetzt ein paar Mal überarbeitet und lass ihn erst mal so stehen. Dann antworte ich Peeperkorn und dann zermartere ich mir weiter den Verstand!

Gruss, Jimmy

 
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Häää???? Was hast du denn da geschrieben?
Ich hatte nie in deine Geschichte reingelinst, komm ich einfach nicht dazu im Moment und in die Komms schon gar nicht. Und eben grad hats mich umgehauen. Ist das echt das, was ich glaube? Die setzen ein Baby aus? Und sie gibt ihm vorher noch einen Namen? Also ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich bin grad hin und hergerissen. Einerseits ist das so unfassbar, was die da machen. Und dann traust du dich, das einfach so knapp hinzuschmeißen. Das ist echt jimmymäßig, du prüfst wirklich deine Leser. Sehr mutig, sehr konsequent.
Also was mir total auffällt, das will ich gleich mal loswerden, dass die beiden überhaupt nicht so negativ wirken, wie man sich das vorstellt. Vor allem die Frau nicht. Ein Kind aussetzen, und dann noch nicht mal irgendwo bei einer Babyklappe. Sondern AN EINER RASTSTÄTTE AUF DER AUTOBAHN! Ich fass es nicht.
Also Jimmy, ich weiß grad noch nicht, was ich davon halten soll. Dir ist es gelungen, die Protagonisten dieser Tat nicht völlig unmenschlich zu zeigen. Das ist dir wohl gelungen durch die Frage nach der Decke, die Sorge der Mutter, die Namensgebung. Max wird er heißen. Und keiner wird das jemals wissen, nur die Mutter. Denn die hat ja mit Sicherheit keinen Zettel dran machen dürfen an die Decke oder das Füßchen vom kleinen Max, der Typ am Steuer hätte mit Sicherheit zu viel Schiss, dass das auch zur Entdeckung führt. Also ich glaube, ich spinne. Wieso gibt sie ihm noch einen Namen? Weiß sie nicht, dass man dann das Kalb nicht mehr schlachten kann? Das hat mal ein Bauer zu mir gesagt, als ich gefragt habe, warum alle Milchkühe Namen bekamen und manche Tiere eben nicht. Da hat er gesagt das ist Schlachtvieh. Wenn ich weiß, wie sie heißen, kann ich sie nicht mehr schlachten. Durch diesen Trick wohl hast du es hingekriegt, dass die beiden einem nicht gänzlich ignorant vorkommen, es ist ja, als wollte die Mutter sich selbst quälen für diesen Entschluss, das Kind auszusetzen.

Da tauchen natürlich so viele Fragen auf, warum tun die das, warum ausgerechnet so? Was ist der Hintergrund der Geschichte? Wie ist ihr Verhältnis?
Also du probierst hier was Neues. Nicht nur reduziert, sondern auf kürzestem Raum eine Geschichte zu erzählen. Ich bin mir aber noch nicht sicher, ob es wirklich eine Geschichte ist. Mal schauen, es rumort in mir, ich denke nach und ich verfolge mit Sicherheit die Diskussion hier weiter.

Wenn ich mich nicht ganz so aufrege, sondern ein bisschen darüber nachdenke, was hier passiert, erfahre ich durchaus eine Geschichte. Sie entblättert sich allerdings eher in einer twilightzone, hinter den Kulissen. Man denkt an den Eckpfeilern, die du legst, entlang und kriegt trotz aller Kargheit durchaus ein Bild in den Kopf von dem, was da passiert ist.
Erst mal fragt man sich ja, warum legt die Frau das Kind nicht vor die Babyklappe ab. Und da kommt er ins Spiel. Sie bringen das Baby in der Nacht weg. Er hat Angst, die Decke könnte ihn enttarnen. Er hat also was zu verlieren, das Verhältnis zwischen beiden soll nicht aufgedeckt werden, und er hat die Power, diese Frau so zu beeinflussen, dass sie macht, was er will. Sie hat das Baby zur Welt gebracht, vielleicht sogar gegen seinen Willen. Und er besitzt trotzdem im Endeffekt mehr Macht, mehr Bildung vielleicht, mehr Autorität, sie dann doch dazu zu bewegen, dass sie das Kind aufgibt. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen beiden, ohne, dass man weiß, was genau es ausmacht, spricht deutlich aus der Geschichte heraus. Sie will das Kind wahrscheinlich eher nicht hergeben - und wenn, dann soll es eher in einen geschützten Raum gegeben werden. Sie spricht leise, will, dass es schnell vorbeigeht, oder wie ist die eine Stelle gemeint? Die könnte auch anders gemeint sein, nämlich dass sie Angst hat, dass auch ja wirklich nur kurz Zeit vergeht, wenn sie weg sind, bevor das Baby halt gefunden wird. Die Stelle könnte man bisschen deutlicher machen, wenn die letzte Deutung gemeint ist. Die Frau ist es, die dem Baby das Schlafmittel verabreicht hat (das ist Sedaplus doch - oder?). Sie hat ihm noch eine extra Decke gekauft, damit er nicht friert. Sie lässt sich aber trotz aller Skrupel überreden, manipulieren. Sie ist voll Sorge um das Kind, empfindet Zuneigung. Und echt am stärksten finde ich das mit dem Namen. Sie verankert das Kind in ihrem Herzen. Das Kind, das sie an einer Raststätte aussetzen wird. Ich bin mir sicher, das wird sie ein Leben lang verfolgen. Ihn wohl nicht. Er löst seine Probleme klar und kalt, nicht mit Grausamkeit, aber mit nötigen Distanz und Entschlossenheit.
Ach ich weiß auch nicht, ich bin ganz sicher, es wird einige oder sogar viele geben, die die Geschichte nicht auserzählt genug finden, denen es zu viele Leerstellen gibt. Ja - irgendwie haben die ja auch recht. Und trotzdem gefällt mir dieses Experiment, auf so kurzem Raum eine Beziehung zwischen Menschen und die Konsequenz zu erzählen. Wahrscheinlich habe ich mal wieder zu viel Fantasie und zu viel Einfühlungsvermögen, aber mir erzählt das halt was und entfaltet Stärke.
ich finde das toll, Jimmy, man merkt, dass du den Leuten nicht nach der Nase schreibst.
Voller Anerkennung
Grüße von Novak

 

Hallo Jimmy,


Was wären denn Zeichen einer eben überstandenen Geburt? Ich habe da null Ahnung.

Ziehen, Schmerzen im Unterleib, beim Sitzen; Ausfluß/Blutung; Einschießen der Vormilch; extreme Erschöpfung, sowas
In Anbetracht der Situation eine Reaktion des Körpers darauf, dass ihr das Kind bald fehlen wird, da würde ich alles Mögliche erwarten von Übelkeit, Frösteln, Krämpfen; je nachdem wie stark sie sich psychisch aus der Situation rauszieht aber auch etwas Starres, Taubheit, als ob ihr Körper gar nicht mehr zu ihr gehört.

Dieses "'s dauert nicht lang" bezieht sich auf die Zeit, wo das Baby alleine an der Raststätte liegt. Ich vermute, das setzt sich aber retrospektiv erst so richtig zusammen.

Das hatte ich trotzdem wieder falsch verstanden. Als klar war, sie setzen ein Kind aus, dachte ich, er meinte, die Dauer des Weges zur Raststätte. Wäre hier die Möglichkeit mehr Klarheit zu schaffen?
Warum die Tatsache, dass die Raststätte bei Köln ist, sie beruhigen soll?

Ich finde auch, das ist ein spannendes Experiment. Gut, dass du sowas machst. Die Namensgebung bleibt so für mich aber am Rande der Glaubhaftigkeit.

Liebe Grüße von Chutney

 

Sie senkt den Blick und öffnet das Seitenfenster einen Spalt. Kalte Luft strömt über ihr Gesicht. „Max“, sagt sie nach einer Weile und sieht in den Rückspiegel. Ihr Gesicht entspannt und wird ganz weich. „Wie mein Opa.“
Er streicht mit dem Daumen über ihre Wange. "Wie du willst."
Sie schließt die Augen und dreht den Kopf zur Seite.

Doch, ich glaub das macht was mit der Story. Für mich jedenfalls 'ne Menge.

 

Peeperkorn,

sehr vielen Dank für deinen Kommentar, hab mich sehr gefreut. Du legst den Finger in mehrere Wunden. Also, ich finde es super, dass du den Text als das nimmst, was er ist. In den USA gibt es einen permanent wachsenden Markt von sogenannter flash fiction, kürzester Prosa, oft deutlich unter 500 Wörtern. Ich habe damit mal herumprobiert und finde das lohnenswert aus ganz unterschiedlichen Gründen. Es ist nicht nur die bloße Reduktion, also alles raushauen, Fett wegschneiden, sondern auch erstmal ein Sujet finden, was man auf einer halben Seite erzählen kann. Du hast ja mal einen ganz ähnlichen Text geschrieben, wie ich mich erinnere, für einen Wettbewerb - das ist doch total bereichernd, da mal auszubrechen und was Neues zu testen.

Sedaplus wollte ich schon später einbauen, in einer frühen Version fragt er sie das ganz am Schluss. Du hast sicher Recht, es ist erstmal ein Punkt, der sofort in eine Richtung führt. Da denke ich noch abschließend drüber nach. Es ist wirklich nicht einfach, das final zu bewerten, weil man sich da immer noch eine Möglichkeit offen halten kann, mach ich es so, oder doch so .... da könnte ich manchmal schreien.

Den Dialog über die Decke, da finde ich auch, da steckt alles drin, auch wie die Beziehung gewichtet ist. Manchmal schafft man das ja, mit ein paar wenigen Worten, die dann auch wahrhaftig sind. Ich finde es sehr schwer, und oft gelingt es mir nicht, da schwebt immer noch eine Intention mit im Hintergrund. Deswegen finde ich es natürlich schön, wenn du findest, es hat hier für dich funktioniert.

Sehr genau liest du das "Wie du willst, natürlich", ich habe den Satz wieder reingenommen, aber das natürlich rausgenommen. Es war mehr so eine Bauchentscheidung. Wenn ich aber jetzt deine Gedanken dazu lese, denke ich darüber nach, es wieder reinzunehmen, weil du natürlich auch schon Recht hast, da könnten noch ganz andere Nuancen mitschwingen, Habitus, soziale Herkunft, etc. Siehst du, das finde ich faszinierend, wie die Statik eines Textes mit nur einem Wort sich ändern kann. Wow!

Ja, mit dem Titel, da haust du mir so richtig eine rein. Ich mag ihn auch nicht sehr, ich überlege auch schon fieberhaft nach einer Alternative - noch fällt mir keine ein.

Peeperkorn, wie immer, sehr vielen Dank für deinen Input, bedeutet mir viel, weißt du auch.

Gruss, Jimmy

 

Hi jimmysalaryman,

find ich gut. Einfach mal was anderes machen, als erwartet wird. Und wenn es nur die vielen Worte sind, mit denen man eigentlich gerechnet hat (ja, auch ich!). Ich habe den Text jetzt ein paar Mal durchgelesen und sehe es eher als ein Gedicht. Weiß auch nicht, so empfinde ich es. Voller Symbole, mit so einer Stimmung, die mir Bauchschmerzen macht - und das mit nur wenigen Zeilen. Doch, hat mich beeindruckt.

Aber von vorne. Ich schreibe dir jetzt einfach, was mir beim Lesen einfiel. Ob dir das etwas bringt, weiß ich nicht, ansonsten weißt du halt einfach, was in mir so vorging ;)

Er sieht in den Seitenspiegel. Die Geschäfte liegen dunkel und verschlossen am Straßenrand. Mülltonnen stehen abholbereit auf dem Bürgersteig. Die Ampel springt auf Grün.
Was er im Seitenspiegel sieht, ist seine Einsamkeit. Die dunklen und verschlossenen Geschäfte habe in mir sofort dieses Gefühl ausgelöst. Einsamkeit, obwohl man vielleicht gar nicht allein ist. Doch in diesem Moment ist er es. Blendet vielleicht auch aus, was kommt. Die Mülltonnen haben mich schon beim ersten Mal stocken lassen, als ich dann zum zweiten Mal gelesen habe, dachte ich daran, dass es leider Menschen gibt, die ihre Babys in Mülltonnen "entsorgen". Die schlimmste Art und Weise, wie man vorgehen kann, aber es gibt sie. Und sie zeigt eine so große Verzweiflung oder auch einfach nur Boshaftigkeit oder Gefühlskälte, dass ich es kaum begreifen kann. Jedenfalls ging mir das bei den Mülltonnen durch den Kopf und ich war froh, dass die Ampel genau in diesem Moment auf grün gesprungen ist. Wer weiß ...

„Hast du ihm das Sedaplus gegeben?“
„Ja“, sagt sie leise und lehnt sich in den Beifahrersitz.
Hier habe ich die beiden vor mir gesehen. Er mit geradem Rücken, leicht verkrampft, aber entschlossen. Feste Stimme, er wirkt organisiert. Sie kauert im Beifahrersitz, starrt ins Leere, kann ihn nicht anschauen und antwortet nur kleinlaut. Ich mag da zu viel reindeuten, aber dieser kurze Wortwechsel brachte mich irgendwie dazu, zu überlegen, ob sie das Kind tatsächlich aussetzen will. Oder ob er eher die treibende Kraft ist. Ja, ich weiß, es wird immer gesagt, keine Mutter würde ihr Kind wegen eines Mannes einfach so weggeben, aber ich glaube, es gibt so abgefahrene psychologische Abhängigkeitsverhältnisse zwischen manchen Paaren, dass die Hörigkeit manchmal vielleicht so weit geht, dass man tut, was der andere will, ohne sich selbst wirklich zu hinterfragen.

Landschaft zieht vorüber. Wiesen. Zuckerrübenfelder. Auf dem Fluss hellgelbe Schaumflocken. Saatkrähen sitzen in der Krone einer Pappel. Zwei Lastwagen auf der rechten Spur. Er schaltet und überholt.
„‘s dauert nicht lang, ja? Hast du mir versprochen.“
Er schüttelt den Kopf. „Ist `ne Raststätte vor Köln.“
Die Krähe ist ein starkes Symbol. Zumindest für mich. Ich habe mich damit mal intensiver beschäftigt, also was Tiere symbolisch so bedeuten. Auslöser war der Fuchs, den ich vor ein paar Monaten beim Wandern gesehen habe. Der stand einfach so da und ich war total geflasht. Da habe ich mal ein bisschen nachgelesen. Die Krähe soll ja unter anderem die Seelen von Verstorbenen zu sich holen. Das hat dieser ganzen Szene etwas sehr Dunkles gegeben. Klar wollen sie nicht, dass der Kleine stirbt, aber sie nehmen die Möglichkeit in Kauf.

Die Leitplanke ein langer weißer Strich.
Wie der Weg, den sie eingeschlagen haben. Keine Abweichung mehr möglich. Zumindest kommt es ihr vielleicht so vor.

Er legt beide Hände auf das Lenkrad. „Lass das mit der Decke. Finden se nachher raus, wo du die gekauft hast.“
„Aber ich will nicht, dass er friert.“
„Das reicht auch so“, sagt er. „Die Decke reicht.“
Diese Decken- und reicht-Dopplung stört mich hier total. Das ist die einzige Stelle im Text, über die ich bei jedem Lesen wieder stolpere. Vielleicht würde es einfach reichen, wenn er sagt: "Das reicht auch so." Das wäre mir genug Info. Vielleicht hast du es aber auch so gedoppelt, weil er sich fast selbst zuredet. Wie um sich selbst zu überzeugen, dass die eine Decke reicht. Ich würde es dann aber trotzdem ohne diese Doppler versuchen.

„Max“, sagt sie nach einer Weile und sieht in den Rückspiegel. Ihr Gesicht entspannt und wird ganz weich. „Wie mein Opa.“
Er streicht mit dem Daumen über ihre Wange. "Wie du willst."
Hier ist sie die Aktive. Sie nimmt Abschied. Ich weiß nicht mehr, welcher Film das war, aber da sagt ein Mann zu einer Frau, dass man (ich glaube) in Afrika die Namen der Verstorbenen noch einmal laut ausspricht, um sie gehen zu lassen. Oder man spricht generell den Namen eines Menschen laut aus, um ihn ziehen zu lassen. Ich kriege das nicht mehr zusammen. Ich selbst finde das aber eine Vorstellung, die durchaus Sinn macht. Vor allem eben auch hier in deinem Text.

Neonlichter flirren am grauen Horizont.
Neonlichter sind kalt. Sie beleuchten Räume ganz ätzend grell, selbst die dunkelsten Ecken, das schlechte Gewissen? Jedenfalls verheißen diese Lichter am Horizont nichts Gutes ...

So. Hat mich irgendwie gekriegt, dein "Gedicht".
Liebe Grüße
RinaWu

 

Novak,

wäääääh! Krass, wenn dein Kommentar immer mindestens so lange wie der eigentliche Text, aber hier sogar drei oder vier Mal so lang ist! Wow! Ich hatte an dem Text länger immer mal gearbeitet, so nebenbei, um ehrlich zu sein, einfach um mal zu sehen, wo das hinführt. Ja, diese Tat, oder solche Taten, finde ich total heftig. Hier hat eine 16Jährige ihr Baby im Keller selbst ausgetragen und es dann im Wald ausgesetzt. Es ist natürlich erfroren. In dem Text verhält es sich nochmal anders, weil es da auch um die Dynamik innerhalb einer Beziehung geht. Ich muss auch sagen, so was wie Babyklappen oder anonyme Adoption habe ich überhaupt nicht im Kopf gehabt. Dann gäbe es diesen Text nicht. Es muss nicht immer alles logisch sein, Menschen verhalten sich ja auch nicht logisch, denen wächst etwas über den Kopf, da werden Ideen für gut erachtet, die für sich und nüchtern betrachtet, total absurd und abwegig sind.

In so kurzen Texten kann man natürlich nicht ausholen, das würde sich ja widersprechen. Das erfordert eine große Transferleistung vom Leser, und ich kann auch alle verstehen, die das nicht mitmachen wollen und sagen, das ist misslungen. Ich habe damit kein Problem. Für mich war erstmal das Experiment wichtig, und wie weit die Leser da mitgehen, (und hier sind sie ja noch viel belastbarer als anderswo, in der freien Wildbahn), das kann ich ja austesten, dafür ist so ein Forum ja geeignet. Natürlich ist dieser Text auch irgendwie eine Versuchsanordnung, ein Extrem. Mich erstaunt ehrlich gesagt, dass die Kritiken bis jetzt vornehmlich recht positiv sind, also nicht gänzlich ablehnend. Das ist ja erstmal gut und zeigt auch, wie offen das Forum im Grunde mit so etwas umgeht.

Zum Text selbst. Ich denke, der ist in sich auch offen und nach allen Seiten interpretierbar. Mir ist nicht klar, wie man einen echten Konflikt mit 250 Wörtern erzählen will. Ich weiß, es gibt Autoren, die das können, das sind dann wahre Meister, ich bin es nicht, ich steige da erst ein. Also ich glaube, der Leser muss den Text so nehmen, wie er ist, und dann auch in Kauf nehmen, nur ein wirklich kurz beleuchtetes Schlaglicht zu bekommen, zu dem er sich die backstory selber konstruieren kann, aber nicht muss. Was mir beim Lesen solcher flash fiction aufgefallen ist - oft geht es nur um ein bestimmtes, vages Gefühl, mit dem der Text dich dann entlässt, da steckt einfach etwas drin, in den Zeilen. Es braucht also, wie du ja auch selbst klar sagst, einen einfühlsamen Leser, um sich so einen Text zu nähern. Das finde ich übrigens gut, dass du da so vollkommen neutral rangehst. Ich kann das selbst oft nicht und setze immer direkt meine eigenen Maßstäbe an den Text an, was manchmal oft einfach nicht richtig ist, weil ein Text immer auch ein Solitär ist, den man für sich genommen nehmen muss, und für den die eigenen Maßstäbe vielleicht überhaupt nicht zutreffen. Daran muss ich auch selbst arbeiten, da lerne ich auch selbst viel durch die Kritiken hier.

Ja, Novak, also vielen Dank für deinen tollen Kommentar, der ist echt der Hammer, du gibst da immer alles, bewundernswert. Hat mich sehr gefreut!

Gruss, Jimmy

 

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