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Noch nicht vorbei
Die verrauchten Clubs hatten wir längst hinter uns gelassen. Orte, an denen wir mit lauter Musik, Gesprächen und Drogen einen Teil unserer Jugend verbrachten. Nicht, dass ich es bereute oder den Zeiten nachtrauerte. Wir entwuchsen einfach diesen Plätzen. Da war Otto, der sein Glück fand, indem er heiratete und in seinem Job Verantwortung zu übernehmen begann. Werner musste nach Berlin. Als Comiczeichner sah er sich dort besser aufgehoben als in der Provinz. Und als Kathrin, die einzige Frau in unserem Kleeblatt uns von Engelsbotschaften und neuem Bewusstsein der Menschheit zu überzeugen versuchte, da fiel alles auseinander. Es kam nicht plötzlich. Wir vier hatten stundenlang über Gott und die Welt debattiert, aber mit zunehmendem Alter sahen wir uns immer seltener. Irgendwann ging auch ich einfach nicht mehr hin. Den anderen ging es wohl auch so. Handy und all die elektronischen Nabelschnüre gab es damals noch nicht und so verlief einfach alles im Sand.
Aber da gab es diesen einen Tag im Sommer, als in den frühen Morgenstunden keiner Lust hatte, schon nachhause zu gehen. Wer ein Auto hatte, fuhr damit zum nahen See und feierte dort weiter. Mitfahrer gab es genug und Nacktbaden, sich im blassen Mondlicht abtasten war eine bevorzugte Möglichkeit, seine Hemmungen gegenüber dem anderen Geschlecht zu überwinden. Ganz in der Nähe, nicht weit entfernt vom Ufer, hatte die Stadt eine warme Quelle angebohrt und förderte das Wasser in ein Becken. Ihre Hoffnung, sich eines Tages Bad nennen zu dürfen, erfüllte sich nicht. Zu wenige Mineralien, was uns aber wenig interessierte. Acht Personen fanden hier sitzend Platz. Tagsüber nutzten alte Menschen dieses Angebot, nachts war es ein beliebter Treffpunkt der Jugend. Eine schummrige Straßenlaterne in unmittelbare Nähe spendete ausreichend Licht.
Trippel, eine Bekannte von Kathrin, hatte frisch den Führerschein und lud uns an jenem Abend alle ein, mit dem Auto ihrer Mutter an den See zu fahren. Vorne drei und hinten sechs; es gab weder Gurte noch Nackenstützen. Mit dabei war auch ein schüchternes Mädchen mit blonden Locken bis zur Hüfte.
Sie saß mir mit angezogenen Beinen gegenüber, ihre Knie lugten wie zwei separate Wesen aus dem Wasser, verdeckten den kleinen Busen. Ihre nassen Haare hatte sie hinter die Ohren gestreift.
„Sula“, antwortete sie, als ich sie nach ihrem Namen fragte.
„Sula?“, wiederholte ich. „Ich heiße Klaus“, schob ich nach.
„Ursula. Wir sind drei Ursulas in der Klasse. Eine heißt Ursula, eine Ursi und ich Sula. So können wir uns auseinanderhalten. Ich hab mich dran gewöhnt“, plauderte sie munter drauf los. Ihre anfängliche Schüchternheit schien sie abgelegt zu haben.
Während wir uns unterhielten, berührten sich erst zufällig, dann mit zunehmender Absicht unsere Füße. Das weiß geflieste Becken war so breit, dass ich mit ausgestreckten Beinen die gegenüberliegende Wand berührt hätte. Schon nach kurzer Zeit strich sie mit ihrem rechten Fuß an der Innenseite meines Schenkels hinauf. Ihre Knie gerieten unter Wasser und plötzlich verstummte sie, als sie meinen Steifen berührte.
„Ui“, hauchte sie. „Wo war ich grad stehen geblieben?“
„Bei stehen geblieben“, erinnerte ich sie.
Ihre Augen glänzten im Licht der Straßenlaterne. Ein schalkhaftes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Nächste Woche spielen die Stingrays im Juze – gehst Du hin?“
„Ich denke schon“, antwortete ich, schob mich ihrem Fuß entgegen.
„Du auch?“ Sie nickte, erkundete jetzt mit ihrem Fuß vorsichtig meinen Unterleib. Das Wasser war zu bewegt, um unter der Oberfläche etwas erkennen zu können. Zwischen unseren Augen waren Fäden gespannt. Ihre Zunge umspielte im Eifer manchmal die Lippen.
„Sula, warum sind Deine Knie eigentlich unter Wasser“, feixte Trippel und ich war ihr dankbar für die Unterbrechung. Keine Ahnung, wie ich später aus dem Wasser in meine Hose gekommen wäre.
Es war kurz nach vier, als das Fahrgeräusch des Autos leiser wurde und wir uns zu Fuß auf den Heimweg machten – Sula schlang den Arm um meine Hüfte und schmiegte sich unter meine Schulter. Unterwegs schlichen wir uns in eine unverschlossene Gartenlaube. „Wenn´s Folgen hat?“, fragte sie leise. Hatte es nicht. Bis ich sie nachhause gebracht hatte, waren die dunklen Flecken auf meiner Jeans längst getrocknet. Leise schloss ich die Haustüre auf, um nicht meine Mutter und meinen Bruder zu wecken. Als ich in der nächsten Woche das Konzert der Stingrays besuchte, war keine Spur von Sula zu sehen.
Fast vierzig Jahre später lese ich in der Tageszeitung von einem Konzert im Garten des Adlers. Ein junges Pärchen hat das Lokal am Ortsrand wiederbelebt und ich stutze, als ich das Bild betrachte. Das muss Kathrin sein, denke ich; lese den Text darunter. Akustikband, zwei Gitarren, Oldies, Kathrin Stein-Wenzel und Uwe Wenzel. Soso, also verheiratet. Ich wusste nicht, dass sie zur Musik gefunden hatte.
„Ein Radler bitte!“ Die junge Bedienung hat nach dem lauten Hallo lediglich den Kopf angehoben, um auf meine Bestellung zu warten. Sie nickt kurz, wendet sich dem nächsten Tisch zu.
In der Pause gehe ich zur kleinen Bühne und Kathrin erkennt mich sofort. Wir umarmen uns, hinter ihr steht ein Schlacks mit breitem Lächeln. „Mein Mann“, und dann fliegen die Worte, wie es uns geht, was wir so machen, wo ist die Zeit geblieben und ich wusste nicht und ich glaub´s ja nicht.
Ich hatte nicht gesehen, wie sie dorthin kam. Mein Herz erkennt sie sofort, noch bevor mir ihr Name einfällt. Sula. Steht plötzlich am Rand der Bühne, die Hände tief in den Taschen ihrer Jeans vergraben.
Ein breites Lächeln auf ihrem Gesicht und die weißen Strähnen in ihren blonden Locken leuchten im Scheinwerferlicht.
Da Kathrin und ihr Mann noch von anderen Bekannten umlagert werden, verabschiede ich mich und schlendere hinüber zu Sula.
„Hi“, ihre Stimme ist weich, sie umarmt mich sparsam mit nur einem Arm. Sie ist mit einer Freundin hier – nein, nicht mit Trippel. Die habe ihr Auto in einer Kurve gegen den Baum gesetzt. Fragend hebe ich die Augenbrauen. Vor etwa zehn Jahren. Nein, sie hat es nicht überlebt.
Wir verabreden uns auf den nächsten Tag. Sonntag. Ob ich sie abholen komme am Bahnhof, sie habe kein Auto – sie wohne zwei Ortschaften weiter mit ihrem geschiedenen Mann. Nein, der alte Hof habe ausreichend Platz für zwei getrennt lebende Menschen. Trotzdem Freunde, aber er sei ein Eigenbrötler geworden. Sie lacht zum Abschied und ich höre mir das Konzert nicht bis zum Schluss an. Zu sehr bin ich beschäftigt mit dem nächsten Tag.
Sonntag bin ich früh auf den Beinen, räume auf, räume um. Beziehe das Bett frisch und grinse vor mich hin. Wie viele Jahre lebe ich schon alleine? Nicht, dass ich etwas vermisse, aber die Anspannung im Bauch will nicht verschwinden.
Sula riecht frisch geduscht, ihre Haare wippen bei jedem Schritt, im Auto spüre ich meine feuchten Hände am Lenkrad. Wir plaudern auffällig entspannt, aber unsere Augen sprechen die Sprache der Anziehung, unmissverständlich. Flüchtig huschen Blicke über die Hände, die Nase, die Lippen. Kleine Fältchen über ihrer Oberlippe kräuseln sich, wenn sie ein Wort benutzt, in dem ein U vorkommt. Oder ein Ü.
Jedes Lächeln zaubert kleine Fältchen in die Augenwinkel, zwei Grübchen vertiefen sich in den Wangen bei jedem Lachen. Dreht sie den Kopf, bleibt auch das Alter an ihrem Hals nicht unsichtbar. Schau ich in den Rückspiegel, sieht es bei mir nicht besser aus.
„Einen Tee?“ Sie steht vor meinen Schallplatten; den Kopf geneigt, um die Rücken der Hüllen zu lesen. „Ja, gerne – hast Du Ingwer?“ antwortet sie, wieder beide Hände in den Hosentaschen ihrer Jeans, die sich über ihrem Hintern spannt. Muskulös, wohlgeformt und ungewöhnlich für eine Frau ihres Alters.
Die Tassen sind noch halb gefüllt und ihr Inhalt ist kalt geworden; wir sitzen nebeneinander auf dem breiten Sofa und ihre Hände erkunden meinen Nacken, streichen über meine Haare. „Sie sind dünn geworden“, haucht sie, ich nicke und ich sehe ihre Augen nur unscharf, so dicht ist ihr Gesicht vor mir. Wir schließen beide die Augen als sich unsere Lippen berühren, sacht und behutsam.
Ich erinnere mich an all die wilden Stürme aus meinen Beziehungen. All die Lust und das Verlangen sind geblieben und doch ist eine Reserviertheit hinzugekommen, von der ich nicht weiß, ob sie aus Wiederholungen oder Gewohnheiten resultiert. Oder spielen auch Enttäuschungen mit hinein? Ist irgendwann das Maß voll, läuft das Fass über oder ist es wie das siebte Bier, das auf einmal nicht mehr schmeckt? Man lässt es erschöpft stehen und wankt nachhause.
Unsere Küsse werden fordernder, die Zungen spielen miteinander. Es entsteht eine Vertrautheit, die uns beide spürbar enthemmt. Ihre Brust ist klein und fest und ich bin dankbar, so dankbar, weil ich mich an Brüste einer Mitbewohnerin aus der Rainbow-WG erinnere, die mich nie erregt hatten. Mit der Zunge umrunde ich die dunklen Warzen und Sula atmet hörbar, umschließt mit einer Hand meine Jeans an jener Stelle, wo der Reißverschluss endet. Knetet leicht das, was sie unter dem Stoff vermutet und unter Küssen versichern wir uns, dass es ja keine Nachkommen mehr geben kann; Sula benutzt nicht das Wort Klimakterium und ich bin froh darüber.
Es ist so einfach sich hinzugeben, wenn alles hinter einem liegt. Keine Absicht, eine gemeinsame Zukunft zu erfinden, keine Aussicht auf Nachwuchs und keine Vorstellung mehr bei den Eltern. Man ist selbst Eltern gewesen und was bleibt ist die ewige Sehnsucht nach Berührung, nach Zärtlichkeit und Wollust.
Was hat mich dazu bewogen, diesen in der Jugend so beherrschenden Drang zu vernachlässigen? Ist es das Verebben der Hormone, ist es die Gewohnheit, die Erfahrung, dass schlussendlich jede Frau nur dem Umriss meiner unterdrückten Weiblichkeit in mir zu entsprechen hat, diese Bedingung aber niemals erfüllen kann? Hatte Osho doch Recht, als er behauptete, dass wir nur immer auf der Suche nach unserer Entsprechung wären? Was für ein Kampf gegen sich selbst! Oder erlischt die Lebensenergie langsam, aber stetig? Ich dachte immer, entweder bist Du lebendig oder tot. Läuft demnach das Leben langsam aus einem raus?
„Was denkst Du?“ Sula spürt, wie mich Selbstzweifel und Hemmungen verunsichern. Nachdem ich es ihr erklärt habe, küsst sie mich zärtlich. „Ist doch egal, wie alt wir sind – es ändert sich doch nur unser Körper.“
Wir haben uns unbeholfen entkleidet. Sula mag nicht ins Schlafzimmer. Sie findet es aufregender hier auf den Sitzelementen, bäumt sich mit ihrem Unterleib gegen meine Hand, atmet mehrmals heftig aus und drückt meinen Kopf zwischen ihre gespreizten Beine, gurrt und flüstert leise seltsame Worte, die keinen Sinn ergeben. Als ich in sie eindringen will, fragt sie mich, wann ich zuletzt einen Aids-Test gemacht habe. Wie eine Ohrfeige hallen die Worte in meinen Ohren, meine Erregung flacht ab und augenblicklich zieht sich das Blut zurück. Irritiert müssen wir beide lachen.
"Wie kommst Du jetzt da drauf?", stottere ich unzusammenhängend.
"Ich hatte Jahre keinen Sex und sollte ich Aids haben, wäre es sicherlich schon längst ausgebrochen." Wir sitzen uns gegenüber, nackt, verletzt von unseren Erinnerungen und doch voller Sehnsucht. Es ist warm im Zimmer, aus den Boxen verspricht Meat Loaf:
I would do anything for love.
And there'll never be no turning back.
Vorsichtig taste ich nach ihrer Hand, spiele mit ihren Fingern. Als sich unsere Lippen berühren, öffnen wir beide den Mund. Ihr Atem ist weich und ohne Eile suchen unsere Zungenspitzen eine Fortsetzung. Nach mehreren intensiven Küssen und zärtlichen Liebkosungen können wir dort anknüpfen, wo wir unterbrochen wurden. Doch ich komme nicht in sie hinein, gerade mal meine Eichel ist von ihren Schamlippen bedeckt. Ich möchte ihr nicht wehtun, behutsam versuche ich es weiter, aber sie verzieht ihr Gesicht.
„Ich bin wohl mittlerweile zugewachsen“, versucht sie im luftleeren Raum stehen zu lassen, wir lachen wieder. Und selbst als ich hinter ihr knie, will uns die ersehnte Vereinigung nicht gelingen.
Ich habe einen weiteren Tee aufgebrüht, wir sitzen uns angezogen gegenüber, draußen sind am Himmel Wolken aufgezogen, in der Ferne grummelt Donner. Wir tauschen unsere Nummern aus, jeder wischt gekonnt über die kleine Scheibe.
„Mein Zug wäre …“, aber ich unterbreche sie. „Ich fahr´ dich nachhause.“ „Das ist lieb von dir“, über den Tassenrand fixiert sie mich, lächelt und fragt leise, ob sie nochmals eine Chance bekäme.
„Sula, was soll die Frage; ich hab es genossen, es war wunderschön und ist es nicht egal, dass es nicht so lief, wie wir uns das vorgestellt hatten? Wir haben doch unseren Spaß.“
„Damals im Gartenhäuschen hatte ich mich dir auch verweigert. Und jetzt, so viele Jahre später, wieder. Auf eine andere Art. Mit meinem Mann hat es früher geklappt.“
„Mit deinem Mann, soso.“
Sie nickt. „Aber dem seiner war ja jetzt nicht so; ihr seid schon sehr verschieden. Ich besorg`uns ein Gleitmittel für´s nächste Mal - eine Freundin von mir hat mir da was empfohlen. Bei ihr hat´s geholfen."
Nachher im Auto verabreden wir uns für den nächsten Sonntag, gleiche Uhrzeit.
„Da vorne kannst Du mich raus lassen. Mein Mann muss ja nicht gleich wissen, dass ich einen neuen Freund habe.“ Ich antworte nicht gleich und als sie die Tür öffnet, sieht sie mich fragend an: “Hab ich einen neuen Freund?“
"Du hast einen alten Freund wieder."
Sie winkt kurz, als ich wende und im Rückspiegel sehe ich, wie sie die Schuhe auszieht und barfuß weiterläuft.