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- 14.08.2012
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Noch lebst du
Noch lebst du, Vinc, noch ist’s nicht vorbei mit dir - das waren die ersten Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, als ich erwachte. Die üblichen morgendlichen Gedanken. Mein Mund war trocken und mir war, als steckten Stahlnägel in meinem Schädel. Eine kratzige Zunge leckte über spröde Lippen, Herrgott, ich bekam die Augen einfach nicht auf, Herrgott, ging's mir elend. Herrgott, ich war noch keine fünfzig und ich pfiff aus dem letzten Loch.
Es gelang mir nicht, den Kopf zu heben. Ich spürte ein Ziehen an der linken Wange, als klebte sie irgendwo fest. Es fühlte sich an, als läge sie auf ... verdammt, ich hatte keine Ahnung, worauf ich da lag. Mein Kissen war das jedenfalls nicht.
Ich blinzelte, schaffte es endlich, ein Auge zu öffnen, und starrte geradewegs auf eine rosige Spalte, keine zehn Zentimeter vor meinem Gesicht. Ein Mund? Herr im Himmel, das träumte ich doch. Schließlich bekam ich auch das zweite Auge auf und ließ meine Blicke wandern. Langsam dämmerte mir der ganze Schlamassel, in dem ich da steckte. Mein Kopf lag auf einem … ja, auf einem Schenkel, einem wunderbar glatten Frauenschenkel. Glitzernde Schlieren zogen sich darüber, wie Silberadern, wie Spuren von Schnecken. Endlose Augenblicke verweilte ich in Betrachtung dieses Bildes, vollkommen reglos lag ich da und der Geruch, der mich umfing, ließ mich stumme Schreie in den Himmel schicken. Vorsichtig löste ich meine Wange von ihrem Lager, ich ging dabei so behutsam ans Werk, als wäre dieses Bein ein schlafendes Kind, und das zauberhafte rosige Ding schien mir dabei zuzuzwinkern. Vielleicht grinste es mich auch schelmisch an, keine Ahnung. Ich setzte mich auf und betrachtete minutenlang das Wunder, ich bemühte mich redlich, dieses Wunder in seinem ganzen Ausmaß zu begreifen … Elsie lag da in meinem Bett, schlafend, leise atmend, gänzlich nackt und zum Heulen schön. Die Haut rings um ihre Scham funkelte wie von Morgentau benetzt und mir stellten sich sämtliche Härchen auf, vermutlich schnitt ich sogar Fratzen.
Draußen brach der Tag an. Die Sonne warf ihre ersten Strahlen über die Welt und mein Verstand stand in Flammen. Leise erhob ich mich, deckte Elsie mit dem Laken zu und taumelte in die Küche. Ich stellte Kaffee auf, ließ kaltes Wasser in die Spüle laufen und steckte gut eine Minute den Kopf rein. Allmächtiger, womit hatte ich dieses Wunder verdient?
Als ich mit dem Kaffee in der Hand in den Garten trat, empfing mich ein Morgen, der mir beinahe den Atem verschlug. Das nächtliche Unwetter hatte der Hitzewelle endgültig den Garaus gemacht und die Luft war von kristallener Reinheit. Ich atmete tief durch, lehnte mich an den Apfelbaum, steckte mir eine Zigarette zwischen die Lippen und schnupperte bei der Gelegenheit an meinen Fingern.
Ich blickte um mich. Die Pflanzen wirkten nach dem Regen wie ausgewechselt. Ringsum glitzerten die nassen Bäume und Sträucher in der Sonne und darüber dehnte sich ein endloser Himmel. Ich war knapp dran, auf die Knie zu sinken. Aber ist es eine Schande, bisweilen schwach zu werden und die Augen zusammenzukneifen, wenn einen das Wunder der Welt blendet? In der letzten Zeit waren die Freuden in meinem Leben nicht eben dicht gesät, die standen nicht gerade Schlange vor meiner Tür. Die Momente solchen Glücks warteten nicht mehr an jeder Ecke auf einen wie mich, mittlerweile konnte ich die an den Fingern abzählen. Ich hatte genug hinter mir, um mir jeden Zipfel davon zu schnappen, wenn ich einen erwischte. Hochmut war ein Vorrecht der Glücklichen, für uns anderen war das Leben vor allem ein Glücksspiel, man verlor stets mehr, als man gewann, soviel hatte ich längst kapiert. Spätestens damals, als Lauras Wagen unter diesen LKW geraten war.
Ich fühlte mich leicht wackelig auf den Beinen, das schon, aber gegen so einen Morgen war mein Brummschädel ein Klacks, so einem Morgen stand es wahrhaftig zu, ihm ein kleines Opfer zu bringen.
Zugegeben, gestern Abend hatte ich mehr getrunken als sonst, ach zum Teufel, in Wahrheit war ich bereits besoffen, als Elsie auftauchte.
Da stand die doch tatsächlich plötzlich vor meiner Tür und blickte mich mit großen Augen an, während ich mich an den Türrahmen klammerte wie ein Schiffbrüchiger an eine Planke, meine Fingernägel rissen Splitter aus dem Holz, kein Witz, gleich haut’s mich um, dachte ich, gleich legt’s mich auf die Fresse, was machte denn die hier?
„Du?“
Ob ich mich noch an sie erinnere, fragte sie mich, und ich, ich versuchte sie anzulächeln und ich musste dabei wohl dreingeblickt haben wie der letzte Schwachkopf, aber … ja, wie soll man denn lächeln, wenn man gleichzeitig mit den Zähnen knirschen muss, machte die Witze, meinte die das ernst?
„Ob ich mich an dich erinnere? Machst du Witze? Meinst du das ernst?“
„Na ja, äh, … war ja nicht gerade gestern … willst du mich nicht reinlassen?“
Und genau in diesem Augenblick, eben als ich ihr sagen wollte, das passe mir momentan leider überhaupt nicht in den Kram, wirklich jammerschade, so ein blödes Pech, eben als ich fieberhaft darüber nachdachte, welch haarsträubenden Zinnober ich ihr auftischen könnte - du wirst es nicht glauben, Elsie, ich hab die Windpocken ... nein, einen Stromausfall, nein, einen verdammten Wasserrohrbruch, das Wasser steht mir bis zum Hals, buchstäblich - was ja nicht einmal gelogen wäre, ja, genau in diesem Augenblick blies mir der Abendwind eine Handvoll ihres Duftes in die Nase. Die volle Ladung, als machte er sich ein Späßchen mit mir, der Wind. Äolus, dieser heimtückische Arsch.
„Äh, natürlich, klar, komm rein.“
War das tatsächlich ich, der das eben gesagt hatte? War ich vollkommen irre?
„Aber nicht erschrecken, Elsie, sollte ich kurz ohnmächtig werden. Oder tot umfallen.“
Und sie war reingekommen, scheu lächelnd und mit diesem versonnenen Blick, der mich schon vor acht Monaten schier um den Verstand gebracht hatte. Ob ich mich an sie erinnere … heilige Scheiße, hatte die eine Ahnung!
Ich lotste Elsie zum Sofa und machte uns zwei Bier auf. Dabei zitterten meine Hände, dass ich Angst hatte, die Flaschen zu zerdeppern.
„Weißt du, ich wollte dir nur das Buch zurückgeben.“
„Ach was, das hatte doch keine Eile.“
„Und weil doch deine Adresse drinsteht. Da dachte ich mir, ich bring’s dir einfach vorbei … Geht’s dir gut, Vinc?“
„Ja, ja … Magst du was essen, Elsie?“
„Was? Nein, danke. Wirklich nicht.“
„Wunderbar, ich mach dir schnell ’n Sandwich.“
Und schon war ich in der Küche verschwunden. Ich riss den Kühlschrank auf und kratzte eine Handvoll Eis aus dem Gefrierfach. Ich rieb mir das Eis ins Gesicht und in den Nacken, und die Grimasse, die ich dabei zog, hätte wohl dem hartgesottensten Mistkerl die Haare zu Berge stehen lassen. Mit klammen Fingern angelte ich mir den Gin aus dem Eisfach und genehmigte mir einen Schluck. Dann schnappte ich mir aufs Geratewohl ein paar Dinger aus dem Kühlschrank und schmiss alles auf einen Teller. Oliven, ein Stück Käse, eine verschrumpelte Grapefruit, ein Gläschen Dijonsenf, ein paar Schokokekse, ein Salatblatt, noch ein Salatblatt, ein Büschel Petersilie - ich war wie von Sinnen, ich war auf dem besten Wege, vollkommen überzuschnappen. Reiß dich zusammen, Vinc, reiß dich um Himmels Willen zusammen. Das ist nur eine Frau. Ich fuhr mir mit den Fingern durch die Haare, ich rubbelte mir mit den Händen übers Gesicht, ich fletschte die Zähne, ich kippte den ganzen Krempel in den Mülleimer. Ich nahm noch einen Schluck vom Gin.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, bemerkte ich, dass die Luft im Raum schon begonnen hatte, sich zu verändern. Ich stellte mich ans Fenster, wandte Elsie den Rücken zu und starrte in den Garten. Ich biss die Zähne zusammen.
Seit der Sache mit Laura war mir ja keine Frau mehr ins Haus gekommen, nicht eine, also nicht, dass sich in den zwei Jahren nichts ergeben hätte, meine Güte, ich war ein Mann und kein Mönch, aber in meine Bude hatte ich keine gelassen. Allein der Gedanke, dass Lauras Geruch verschwinden, gar vom Duft einer anderen Frau getilgt werden könnte, machte mich halb verrückt. Deshalb hatte ich ja auch nie ihre Sachen weggegeben, nach wie vor hingen ihre Klamotten im Schrank und das Badezimmer platzte aus allen Nähten. All ihre Shampoos und Cremes lagen da noch herum, all die Tiegelchen und Flakons, die Lotionen und Öle, ihre Lippenstifte und Parfumfläschchen und Haarbürsten, an denen zu riechen ich mir nicht versagen konnte, wenn die Nächte besonders schlimm waren. Mein Gott, ihr Morgenmantel. In dem vergrub ich bisweilen das Gesicht und raufte mir dabei die Haare.
„Du hast mich nie angerufen, Vinc.“
Wie hätte ich auch sollen? Sie telefoniere nicht besonders gerne, hatte sie gesagt, damals vor acht Monaten, als wir uns frühmorgens vor dem Raymonds verabschiedeten. Deshalb hatte ich gleich nach dem Nachhausekommen den Zettel mit ihrer Telefonnummer verbrannt, besoffen wie ich war. Auf der Stelle nämlich hätte ich sie sonst angerufen, oder spätestens zu Mittag. Ob ich sie treffen könne, hätte ich sie gefragt, ja, heute schon, gleich, sofort, nicht erst irgendwann. Ich hatte das Zettelchen angezündet und zugesehen, wie es in der Spüle vor sich hin gloste, während ich darauf wartete, dass der Kaffee fertig wurde. Dann trank ich schwarzen, bitteren Espresso, rauchte Zigaretten und ging die Wände hoch. Lieber Himmel, ich war mir vorgekommen wie ein bescheuerter Siebzehnjähriger, ich dachte, ich müsste durchdrehen.
Immerhin glaubte ich, mir ihre Adresse gemerkt zu haben. Und wenn es etwas gab, das ich gut konnte, dann war das Briefeschreiben. Das bildete ich mir zumindest ein, und ich versuchte mir auszumalen, dass ich mir das Wunder vielleicht herbeischreiben könnte. Ja, wie ein Wunder war Elsie mir erschienen an jenem Abend im Raymonds.
„Hast du mir zugehört, Vinc? Du hast mich nie angerufen. Warum?“
„Ich hab dir geschrieben, Elsie.“
„Was hast du?“
„Briefe geschrieben.“
„Was für Briefe? Was redest du da?“
„So zwanzig, dreißig werden es wohl gewesen sein, schätze ich mal.“
„Du hast mir Briefe geschickt?“
„Das hab ich nicht gesagt. Aber geschrieben habe ich sie … nicht der Rede wert eigentlich.“
„Was ist nur los mit dir, Vinc?“
Ich merkte, wie mir die Lage entglitt, wie das Eis, auf dem ich mich bewegte, immer brüchiger wurde. Sollte Elsie verschwunden sein, wenn ich mich jetzt umdrehte, sich klammheimlich aus dem Staub gemacht haben, wäre ich nicht wirklich überrascht, ich könnte es ihr nicht verübeln. Wer sucht schon freiwillig die Gesellschaft eines Mannes, der am Boden liegt, der schon längst ausgezählt ist. Ich drehte mich nicht um, unverdrossen starrte ich in den Garten, noch ließ ich ihr die Chance, einfach abzuhauen.
Mittlerweile war es beinahe Nacht draußen. Der Wind war kräftiger geworden und rüttelte an meinem Apfelbaum und die Wolken im Westen wurden immer wieder von Wetterleuchten erhellt. Das leise Donnergrollen bildete ich mir nicht ein.
„Setz dich zu mir, Vinc. Bitte.“
Ich riss meinen Blick vom Garten los und drehte mich endlich um. Elsie war noch da.
„Das hast du alles für mich geschrieben, Vinc?“
Nahezu eine Stunde hatte Elsie gelesen, und ich tigerte währenddessen durch den Garten oder lag in einem Liegestuhl auf der Terrasse, ich hatte ein Bier getrunken, den Himmel betrachtet und das Gewitter beschworen. Ich war hin und her geflitzt wie ein Bekloppter, ich hatte mich dabei ertappt, mit der Stirn am Stamm des Apfelbaumes zu lehnen und mir auf die Lippe zu beißen. Und ich hatte nachgedacht. Ich hatte darüber nachgedacht, ob es etwas Lächerlicheres gibt als einen Mann, der auf dem Boden liegt, ich hatte darüber nachgedacht, ob ich in meinem Leben da noch jemals dahinterkäme, ich hatte darüber nachgedacht, wie lange mir das Leben noch auf die Eier gehen wollte. Über lauter so Scheiß hatte ich nachgedacht. Aber im Ernst jetzt, die meiste Zeit lag ich lediglich im Gras und starrte in den Himmel.
Und jetzt stand Elsie über mir, den Packen Papier in der Hand, und selbst die Dunkelheit konnte mir nicht verbergen, dass sie geweint hatte. Sie kniete sich neben mich.
„Vinc. Ich wusste das nicht …“
Ein Blitz zerriss den Himmel. Und ein Donnerschlag. Und in dieser winzigen Sekunde gleißender Helligkeit sah ich die Tränen in ihren Augen und ich konnte erkennen, dass ihre Wangen gerötet waren, ich sah den Schimmer auf ihrem Haar und den Diamantsplitter in ihrem Ohrläppchen und den Glanz auf ihren Lippen und das kleine Muttermal neben ihrem linken Mundwinkel und die Gänsehaut auf ihren Schultern, ich sah das tatsächlich alles, ich sah das alles gleichzeitig, das bildete ich mir nicht ein, nein, ich meinte sogar, den Duft an ihrem Hals zu sehen und den Duft ihrer Haare und den Duft unter ihren Achseln und den Duft zwischen ihren Beinen. Als schleuderte ihr Körper Funkengarben. Es war ein Augenblick reinster Klarheit, ich sah das alles wirklich und plötzlich überfiel mich die Gewissheit, doch noch einmal aufstehen zu können.
Und ich streckte die Arme nach Elsie aus.
Und in diesem Moment brach das Gewitter los.
Und Windstöße wirbelten die Briefe durch die Luft.
Und Elsie stürzte sich auf mich.