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Nichts Schlimmes
Ich stelle das leere Glas zurück auf die Theke und schüttle den Kopf, als der Wirt mir ein neues geben will. „Das wird schon wieder“, meint Hannes und stößt mich von der Seite an.
„Werde mir eine kleinere Wohnung suchen. Den Wagen verkaufen …", murmle ich.
„Abwarten. Bei mir hat's auch gedauert", sagt Hannes.
„Aber du warst wenigstens nicht allein.“ Mir schwirren Bilder im Kopf, wie Susi die schweren Koffer die Treppen hinunterträgt, sich nicht helfen lässt. Als sie weg war und ich mir einen Schluck genehmigen wollte, merkte ich, dass sie alle Flaschen in den Ausguss gekippt hat. Sie fehlt mir.
Ich stehe vom Hocker auf. „Ist wahrscheinlich besser so.“
„'n Absacker?"
„Nee, nee.“ Ich schaue auf meinen Bierdeckel, lege einen Zwanziger daneben. „Ich will 'n klaren Kopf behalten. Muss morgen in aller Herrgottsfrühe beim Amt antanzen“, sage ich, während ich in der Jackentasche nach dem Autoschlüssel wühle.
Das Mentholbonbon kühlt meinen Rachen, macht den Kopf frei. Ich kurble das Fenster herunter, atme ein, halte die Hand vor Mund und Nase, hauche aus – und nehme noch ein Bonbon. Dann schnalle ich mich an und gebe Gas.
Die Ampel wechselt von Gelb auf Rot. Einsame Gegend. Dunkel. Früher wäre ich rübergerutscht. Vor Susi.
Susi war vernünftig. Susi wollte Kinder. Als es kriselte, fing es an. Jetzt hab ich mich im Griff. Wenn dieses ständige Pochen im Kopf nicht wäre, das Verlangen.
Ich wühle im Handschuhfach nach der Wasserflasche, drehe sie auf. Der Schraubverschluss fällt auf die Fußmatte. Grünes Licht an der Ampel. Ich lege die Flasche auf den Beifahrersitz, biege ab, setze rasch den Blinker, fahre über den Bordstein. Zuerst ruckelt es, dann knirscht und knarzt es. Ich halte an, mache 'n langen Hals. Ein Poller. Ich habe einen dummen Poller umgenietet. Mist! Kann in die Hunderte gehen. Mein Führerschein!
Nachdem ich mich erneut umgeschaut habe, gebe ich Vollgas. Keiner hat mich gesehen.
Ich biege ab. Viel zu schnell biege ich ab. Egal. Nur weg hier!
Etwas kommt von links angerauscht. Ich bremse. Ein lautes Krachen am Kotflügel, ein Körper segelt über die Motorhaube. Der Gurt strafft sich und der Motor säuft ab. Neben dem Wagen liegt ein Fahrrad, leuchtet unter der Laterne grellgrün. Grellgrün, fluoreszierend. Ich steige aus, umrunde das Rad, bleibe vor der Motorhaube stehen, gucke vorsichtig hinüber. Eine Frau. Jeans, T-Shirt; lange Haare schauen unter dem Helm hervor. Sie liegt auf dem Bauch, die Arme angewinkelt.
Mein Herz pocht. Bewegt sie sich? Natürlich bewegt sie sich. Sie stützt eine Hand ab, hebt den Kopf in meine Richtung, die Augen hinter einer Fahrradbrille verborgen. Sie macht einen sportlichen Eindruck, hat den Sturz gut abgefedert. Ich sehe Ellenbogen- und Knieprotektoren. Wird nix Wildes sein. Ein paar Schrammen. Gleich steht sie auf und schiebt ihr Rad nach Hause.
Wie sie da liegt, kann sie das Nummernschild nicht gesehen haben.
Hau ab! Hau ab, hau ab!
Ruhe bewahren, an der nächsten Kreuzung abbiegen und verschwinden. Ab nach Hause. Sofort ins Bett. Vorher das Hemd bügeln, die Schuhe polieren. Morgen einen guten Eindruck machen.
Wochenlang habe ich die Gegend gemieden, bin Umwege gefahren. So ein Quatsch. Sie würden mich dran haben, wenn etwas Schlimmes passiert wäre, wenn sie das Nummernschild hätten. Jetzt komme ich wieder zum ersten Mal an der Kreuzung vorbei. Ich biege langsam ab, mustere die gegenüberliegende Seite. Da war es. Bloß ein paar Schrammen. Sicher geht es ihr gut. Zeit heilt Wunden. Stand nichts in der Zeitung.
„Guten Tag, Herr Schmidt“, begrüßt mich Herr Bergmann in seinem Büro und schüttelt mir die Hand.
„Hallo.“ Wir setzen uns.
„Haben Sie Fragen?“
„Was und wo liefere ich aus?“
„Eilige Kurierfahrten im Bankenviertel. Dokumente, Verträge, Akten. Ich bringe Sie erst mal zur Schichtleitung. Die Kollegin erklärt Ihnen die Routen und Sie sehen auch Ihr Gefährt.“
Wir betreten eine kleine Halle. An der Wand sind ein Dutzend Fahrräder vor Steckdosen aufgereiht. Grellgelbe Räder.
„Auffällige Farbe“, sage ich.
Vor einem Schreibtisch bleiben wir stehen, an dem eine Frau in Jeans und T-Shirt vor großen, bunten Straßenplänen sitzt. Der rechte Unterarm steckt in einer Schiene; ihr Zopf baumelt, als sie aufsteht.
„Das hier ist Frau Weber. Sie hilft derzeit bei der Routenplanung.“
Sie reicht mir die linke Hand. „Hallo.“
Ich erwidere den Gruß. Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, sagt sie: „Nichts Schlimmes. In zwei, drei Wochen radle ich wieder.“
Mir steigt Hitze ins Gesicht.
„Bitte kommen Sie wegen des Vertrages zurück ins Büro, Herr Schmidt“, sagt Herr Bergmann und schaut auf die Uhr. „Ich muss meine Frau abholen. Sie möchte Sie auch gerne kennenlernen.“
Frau Weber tippt auf der Tastatur herum. „Ich drucke Ihnen die Routen aus. Dann können Sie die am Wochenende mal entlang radeln.“
Der Drucker rattert, spuckt bunte Seiten aus. Hinten öffnet sich das Rolltor, eine kalte Brise weht herein. Ein Transporter fährt rückwärts an die Rampe, ein Mitarbeiter schiebt einen Gitterwagen, ein Bulli rollt über den Hof. Ich werfe einen Blick über die gelben Räder. „Welches würde ich bekommen?“
„Kommen Sie mit!“
Ich folge Frau Weber in einen Anbau.
Grellgrüne Räder. Dutzende. Ich schlucke, bleibe kurz stehen.
„Eines von denen hier!“ Vor einem Rad bleibt sie stehen, deutet auf den Kasten, der am Gepäckträger montiert ist. „Den kann man leicht abmachen, wenn Sie privat fahren.“
Aus den Augenwinkeln blicke ich auf den geschienten Arm. War sie es? Doch, sie muss es gewesen sein. Die Statur stimmt. Sportlich. Die langen Haare.
Sie mustert mich. „Sind achtundzwanzig Zoll okay?“
Ich nicke und denke an mein Auto, das in einer Seitenstraße steht. Das Blech notdürftig ausgebeult. Besser, ich nehme erst mal den Bus. Erleichtert atme ich auf. Nichts Schlimmes! Am liebsten würde ich Frau Weber in den Arm nehmen.
„Finden Sie den Weg allein zurück?“, fragt Frau Weber und steckt mir die Routenpläne zu.
„Ja, danke.“ Ich schüttle ihr die Hand, lächle sie an.
Sie kommt näher. „Nehmen Sie sich vor der Alten in Acht. Sie war vorher schon ein Giftzahn.“ Dann schlägt sie mir auf die Schulter. „Bis bald. Würde mich sehr freuen.“
Vor der Bürotür bleibe ich stehen und klopfe an.
„Herein!“, ruft eine Stimme.
Herr Bergmann steht neben dem Schreibtisch. Auf dem Drehstuhl sitzt eine Frau, die in meinen Bewerbungsunterlagen blättert. Ihre Haare sind zu einem Dutt gebunden, das Gesicht ist blass. „Herr Schmidt – meine Frau. Maria, das ist Herr Schmidt.“
Frau Bergmann schaut auf, sagt: „Guten Tag.“
Ich trete näher, sehe die am Tisch angelehnten Krücken, zögere einen Moment, reiche ihr die Hand. „Hallo. Angenehm.“
Sie hält meine Hand fest, wechselt einen Blick mit ihrem Mann, sieht auf das Foto meines Lebenslaufs, schaut mir in die Augen.
Ich verlagere das Gewicht von einem Bein auf das andere, versuche, ihrem Blick standzuhalten. Sie lässt die Hand los. Ich verharre, spüre, wie meine Augen zucken, fahre mit der Zunge über meine trockenen Lippen.
„Kennen … kennen wir uns nicht?“, höre ich eine leise, entfernte Stimme.
Mein Kopf pocht, knirscht und knarzt. Mir wird kalt. „Ich glaube nicht“, sage ich. Das Dröhnen im Schädel wird lauter.
Sie fasst sich an den Kopf, die Stirn liegt in Falten.
„Schatz. Es ist noch zu anstrengend für dich“, sagt Herr Bergmann, streichelt ihr über die Schulter und nimmt den Vertrag in die Hand.
Ich wühle in meinen Jackentaschen. „Meine Lesebrille … Ich muss sie im Auto liegengelassen haben“, sage ich und will mich umdrehen.
„Wissen Sie was, Herr Schmidt? Ich gebe Ihnen den Vertrag mit. Schlafen Sie eine Nacht drüber und bringen Sie ihn morgen unterschrieben vorbei.“ Er schaut seine Frau an. „Was meinst du, Schatz?“
Frau Bergmann blickt langsam von ihren Beinen hoch, stützt das Kinn in die Hand und schaut mich an. „Würden Sie mir bitte meine Gehhilfen reichen, Herr Schmidt?“